Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: Andrea Stella
Laudatio auf den neuen Konstrukteurs-Weltmeister: Warum McLaren mit Andrea Stella nach der Trennung von Andreas Seidl auch noch den letzten Meter gegangen ist
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
© Motorsport Images
Zak Brown und Andrea Stella feiern den WM-Titel der Konstrukteure 2024 Zoom Download
ich war diesen Sommer gerade mit dem Auto unterwegs zum Grand Prix von Österreich in Spielberg, und wie ich das immer so mache, wenn längere Autofahrten anstehen, hörte ich Podcasts. In diesem Fall: Beyond the Grid mit Tom Clarkson, ein ursprünglich mal ganz toller Interviewpodcast, den die Formel 1 selbst produziert, und der leider in den vergangenen Jahren zunehmend an inhaltlicher Tiefe verloren hat.
Gast in jener Folge war Luciano Burti, ein ehemaliger Ferrari-Testfahrer während der goldenen Schumacher-Ära, der von seinen früheren Teamchefs wie Niki Lauda oder Alain Prost zumeist ignoriert wurde. Und Burti schwärmt in dem Interview in den höchsten Tönen von Andrea Stella: "Andrea ist einer von den Leuten, mit denen ich bei Ferrari gearbeitet habe. Ich hatte keine Ahnung, dass solche Ingenieure überhaupt existierten."
"Er war damals Michaels Dateningenieur, aber manchmal war er mit mir beim Testen, und er war so gut, dass ich ihn manchmal fragen musste: 'Hey, warst du mit mir im Auto? Wie kannst du das wissen? Dieser kleine Fehler da gerade, wie hast du das mitbekommen?'"
Stella, erzählt Burti, sei "noch dazu eine echt nette Person" gewesen: "Er war einer, der mir geholfen hat. Vielleicht weiß er das gar nicht, aber er war derjenige, der mir dabei geholfen hat, mich wohlzufühlen in der Formel 1 und in der Zusammenarbeit mit dem Team."
Heute ist Andrea Stella 53 Jahre alt, Teamchef von McLaren und frischgebackener Formel-1-Weltmeister der Konstrukteure. Zeit für eine Laudatio, einer alten Tradition dieser Kolumne folgend.
Gänsehaut: "This is one of the most, most beautiful"
Für leidenschaftliche Fans der Formel 1, wie ich trotz meiner journalistischen Tätigkeit immer einer geblieben bin, sind es manchmal kleine Momente, die hängen bleiben, die besonders emotionalisieren und die in ihrer Summe wahrscheinlich die Liebe zu einem Sport ausmachen.
Ein solcher Moment war für mich der Grand Prix von Malaysia 2012, ein Rennen, in dem Fernando Alonso eigentlich mit stumpfen Waffen kämpfte und gegen die haushoch favorisierten McLarens und Red Bulls als krasser Außenseiter galt. Aber Alonso fuhr mit dem damals ziemlich unterlegenen Ferrari von Startplatz 9 aus eines der wahrscheinlich besten Rennen seines Lebens und gewann sensationell vor Sergio Perez im Sauber.
Es stellte mir die Gänsehaut auf, als im internationalen TV-Broadcast die hochgradig emotional angefasste Stimme seines Renningenieurs zu hören war, mit den heute fast ikonischen Worten: "This is one of the most beautiful. This is one of the most, most beautiful. We are so proud of you. So proud of you and of the team."
Die Stimme mit dem italienischen Akzent gehörte Andrea Stella.
Ein Gewächs der Ferrari-Schumacher-Ära
Stella hat in der Formel 1 eine Bilderbuchkarriere hingelegt. Er studierte in Rom Maschinenbau mit dem Fachgebiet Strömungsdynamik, begann im Jahr 2000 (also im Jahr von Michael Schumachers erstem Ferrari-Titel) als Dateningenieur für das Testteam der Scuderia (wo er einem gewissen Luciano Burti begegnete), durfte ab 2002 auch am Schumacher-Auto mitarbeiten und war ab 2009 als Renningenieur plötzlich an vorderster Front am Kommandostand. Zuerst am Auto von Kimi Räikkönen, ab 2010 dann bei Fernando Alonso.
2015 wechselte er im Gepäck von Fernando Alonso zu McLaren, als Head of Race Operations, was am ehesten dem Job entspricht, den Andrew Shovlin heute bei Mercedes macht. Er erlebte McLaren also am absoluten Tiefpunkt. Dann kam Andreas Seidl ins Team, unter dem Stella in die höchste Ebene des operativen Managements befördert wurde, zuletzt als Rennleiter. Und als Seidl Ende 2022 dem Audi-Ruf zu Sauber folgte, überredete Zak Brown ihn dazu, Teamchef zu werden, was sich Stella, so will es die Legende, anfangs gar nicht vorstellen konnte.
Als mein Kollege Frederik Hackbarth und ich Stella diesen Sommer in Spielberg zum Interview trafen, wurde uns im Vorfeld durch die McLaren-Presseabteilung klargemacht: "Andrea redet nicht so gern über sich selbst und seine Erfolge." Was unsere geplante Agenda erstmal ziemlich durcheinanderbrachte. Ich hoffe, es ist trotzdem auch heute noch ein lesenswertes Stück. Seit dem Sonntagabend in Abu Dhabi umso mehr.
Wirkt auch die Ära Seidl noch nach?
Viele Weichenstellungen für den heutigen McLaren-Erfolg wurden, im Nachhinein betrachtet, von Seidl vorgenommen. Er war es, der das Kapitel Alonso bei McLaren beendete, er war es, der den Shareholdern gemeinsam mit Zak Brown klarmachte, dass sie sich ohne neuen Windkanal die Sache mit dem WM-Titel abschminken können, und er war es auch, der hinter den Kulissen massiv Lobbying betrieb, um die FIA zu einer Regel zu bewegen, wonach die Powerunit-Kundenteams die gleichen Motoren bekommen müssen wie die Werksteams. Was selbst Brown, heute eigentlich kein Seidl-Anbeter mehr, für einen der Schlüssel des heutigen McLaren-Erfolgs hält.
Und doch hat Stella eine besondere Qualität eingebracht, mit der es ihm gelungen ist, McLaren auch noch über den letzten Meter zu tragen, der in der Ära Seidl für ein permanent hohes Tempo auf der Siegerstraße gefehlt hat.
Welchen Anteil Seidl und welchen Stella am heutigen Erfolg von McLaren hat, ist letztendlich auch zweitrangig. Es sei "immer ein bisschen eine Dynamik", die über Erfolg oder Misserfolg entscheidet, sagt der langjährige McLaren-Testfahrer Alexander Wurz in einem Interview auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de, und die habe sich jetzt, unter Stella, "richtig gut gefunden. Einige Wurzeln liegen vielleicht schon Jahrzehnte zurück, einige Wurzeln sind ganz neu gekommen."
Es sind Erzählungen wie jene von Luciano Burti, die man von ganz vielen Menschen hört, die einmal mit Stella gearbeitet haben: ein gänzlich unprätentiöser Leader, der sich selbst nicht so wichtig nimmt wie so manch anderer Teamchef in der Formel 1 und deswegen bei seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern größte Akzeptanz genießt, der einen Riecher für Talente hat und weiß, wo er sie am besten einsetzt, und der es vor allem schafft, das Beste aus seinem Team herauszuholen, weil er die Anliegen der "Men and Women of McLaren", wie Zak Brown immer zu sagen pflegt, ernst nimmt und jeder und jedem zuhört, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, das sei für ihn nur eine lästige Pflichtübung.
Dazu kommt, dass Stella nicht nur ein exzellenter Menschenführer zu sein scheint, sondern aufgrund seines technischen Backgrounds richtig Ahnung von der Materie hat und ihm keiner so schnell einen Bären aufbinden kann. Wenn ihm jemand erzählt, dass in der Entwicklung alles super läuft, obwohl die Daten aus dem Windkanal verheerend schlecht sind, dann ist er, anders als Christian Horner oder Toto Wolff, nicht auf enge Vertraute angewiesen, die das Fachchinesisch für ihn "übersetzen", sondern er kann selbst zum Computer gehen und versteht genau, welche Daten da vor ihm liegen.
Man kann wahrscheinlich drüber streiten, ob McLaren die Teamorderfrage 2024 immer perfekt gemanagt hat, aber mal ganz ehrlich: Jede Teamorderdiskussion ist insofern immer ein wenig überflüssig, als es hinterher jeder besser zu wissen meint. Da bin ich, als sich latent selbstüberschätzender Möchtegern-Formel-1-Versteher, keine Ausnahme.
Am Rande der Insolvenz: McLaren durch stürmische Zeiten geführt
Und Stellas Erfolgsbilanz, seit er aus der zweiten Reihe in die erste hervorgetreten ist, spricht für sich. Anfang 2023, unmittelbar nach den Abgängen von Andreas Seidl und James Key, sah es kurzzeitig so aus, als würde das zarte Pflänzchen, das in Woking gewachsen war, direkt wieder in sich zusammenfallen. Aber Stella verstand es, das Pflänzchen selbst zu gießen, und noch mehr, er schaffte es, seinem Personal binnen kürzester Zeit zu erklären, wie das Pflänzchen am besten gegossen werden muss, damit es ganz schnell wächst.
Heute scheint aus dem kleinen Pflänzchen von damals ein ziemlich robuster Strauch geworden zu sein, der immer noch fleißig gegossen wird. Und Lando Norris, so hört man, sind inzwischen auch die letzten Zweifel vergangen, die er anfangs hatte, als ihn Seidl im Februar 2022 bis Ende 2025 an McLaren kettete und sich eben dieser Seidl nicht mal ein Jahr später vom Acker machte.
Dazu kommt, dass es auch finanziell ziemlich stürmische Fahrwasser waren, durch die Stella das Team manövrieren musste. McLaren, das räumte Zak Brown am vergangenen Wochenende in Abu Dhabi erstmals öffentlich ein, stand nach der Coronapandemie mit einem Bein in der Insolvenz. Es ist nicht Stellas Verdienst, dass diese abgewendet werden konnte. Aber es gehört zu seinen Verdiensten, das Team und die wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammengehalten zu haben, als alles den Bach runterzugehen drohte.
Ich bin mir sicher, dass Andrea Stella letzte Nacht sehr, sehr gut geschlafen hat. Erstens, weil er in Abu Dhabi ein altes Trauma beerdigen konnte. Er war 2010 Renningenieur von Fernando Alonso, als dieser hinter Witali Petrow, der "Rakete von Wyborg" im gelben Renault, verzweifelte und den so nah geglaubten WM-Titel doch noch an Sebastian Vettel verlor. "Bis heute immer noch der schmerzhafteste Tag meiner ganzen Formel-1-Karriere", sagt Stella.
Und zweitens, weil er, ausgehend von den Unmengen an Alkohol, die am späten Sonntagabend in die McLaren-Box geschleppt wurden, ziemlich beschwipst gewesen sein muss.
Es sei ihm vergönnt. Gratulation, Andrea Stella!
Euer
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.