• 18. April 2010 · 14:00 Uhr

Whitmarsh: "Sie durften frei fahren"

Interview: McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh analysiert den ersten Doppelsieg seiner Amtszeit, der ihm ein paar graue Haare beschert hat

(Motorsport-Total.com) - Länger als ein Jahr hat Martin Whitmarsh auf den ersten Doppelsieg von McLaren unter seiner Amtszeit als Teamchef warten müssen, dafür war der heutige Triumph von Jenson Button und Lewis Hamilton angesichts der schwierigen Bedingungen umso schöner. Im Interview analysiert der Brite, warum beide Crews den bestmöglichen Job gemacht haben, obwohl ihre Entscheidungen komplett unterschiedlich waren.

Foto zur News: Whitmarsh: "Sie durften frei fahren"

Riesenjubel: Martin Whitmarsh mit seinen beiden McLaren-Weltmeistern Zoom Download

Frage: "Martin, fass bitte zunächst einmal dieses turbulente Rennen zusammen!"

Martin Whitmarsh: "Es war viel zu komplex, um alles zusammenzufassen! Das war so ein Rennen, in dem man ganz leicht Fehler machen kann. Beide Fahrer waren auf unterschiedlichen Strategien, aber ich glaube, sie haben für den jeweiligen Fahrer gepasst. Sie selbst haben die Strategien mitbestimmt, also muss man ihnen und dem Team ein Lob aussprechen."

Kein Nichtangriffspakt

"Heute wurde fantastische Arbeit geleistet. Es war ein sehr langes Rennen für uns. Am Ende haben wir ihnen erlaubt, frei gegeneinander zu fahren, was ein bisschen nervenaufreibend war. Jenson hat zunächst hart gepusht, um einen Vorsprung herauszufahren, aber dafür baute er am Ende ab, was es noch spannender machte."

"Beide Jungs sind aber auf ganz unterschiedliche Weisen fantastische Rennen gefahren. Jenson hat alles genau durchdacht und Lewis hat wieder überholt wie ein Champion. Vor diesem Rennen stand er bei 20 Überholmanövern in dieser Saison, also müssen es jetzt schon um die 30 sein, schätze ich!"

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Ein silberner "Lorbeerkranz" für den Sieger: Jenson Button auf dem Podium Zoom Download

Frage: "Das ist der erste Doppelsieg von McLaren, seit du Teamchef bist, oder?"

Whitmarsh: "Das stimmt. Es ist der erste Doppelsieg seit einer ganzen Weile und das erste reine Mercedes-Podium seit Aintree 1955. Damals hat ein gewisser Herr Moss einen gewissen Herrn Fangio geschlagen - schon damals hatten also die Briten das bessere Ende für sich (lacht; Anm. d. Red.)!"

"Norbert (Haug; Anm. d. Red.) hat mich gerade angerufen. Er freut sich auch riesig. Trotz anderslautender Gerüchte haben wir zu Mercedes immer noch ein sehr gutes Verhältnis. Ich bin sehr stolz auf das Team, auf Mercedes und auf zwei großartige Fahrer. Nach vier Rennen führen wir beide Meisterschaften an, obwohl nicht alles perfekt gelaufen ist. Das zeigt, dass wir zwei erstklassige Rennfahrer haben und ein sehr starkes Team."

Frage: "Wie nervös warst du am Ende, als der Abstand geschmolzen ist, und welche Freiheiten hatten eure Fahrer, sich gegenseitig zu bekämpfen?"

Whitmarsh: "Sie durften frei fahren, das konnte man ja sehen. Tatsache ist aber, dass wir verschlissene Reifen hatten und trotzdem schneller waren als alle anderen. Es gab einige Diskussionen, ob wir ihnen nicht sagen sollten, dass sie die Positionen halten müssen, aber ich hatte das Gefühl, dass das nicht richtig wäre. Lewis wollte es eindeutig noch probieren."

Faire Chance für Hamilton

"Außerdem fuhren unsere Fahrer unterschiedliche Strategien, also wäre es unfair gewesen, Lewis die Chance wegzunehmen, seine Strategie auszuspielen. So etwas kann auch schiefgehen, aber zum Glück ist ja nichts passiert. Unsere Fahrer sind sehr vernünftig und respektieren sich gegenseitig. Ich hatte das Gefühl, dass sie das auch demonstrieren würden."

"Wäre mir wohler gewesen, wenn sie am Ende herumgerollt wären? Natürlich! Dann hätte ich jetzt ein paar graue Haare weniger, aber so war es im Interesse der Show besser. Das war ein Rennen, das von der ersten bis zur letzten Runde aufregend war. So sollte es sein und so verstehen wir in diesem Team den Rennsport. Beide Fahrer sollten die Chance bekommen. Tatsache ist, dass Jenson den Sieg verdient. Wenn ihn Lewis noch überholt hätte, hätte Lewis es genauso verdient gehabt."

Frage: "Wurden die Entscheidungen von beiden Renningenieuren heute unabhängig getroffen?"

Whitmarsh: "Ich habe das Recht, ihre Entscheidungen zu überstimmen, aber ich habe den Fahrern schon vor dem Start gesagt: 'Ihr seid da draußen, wenn es nass ist. Wir brauchen die Infos von euch und wir geben euch unsere.'"

"Unsere Aufgabe war es also, den Fahrern zu sagen, wie lange der Regen dauern und wie intensiv er sein wird, während es Aufgabe der Fahrer war, uns zu sagen, wie sie fahren wollen. Wir haben ihnen dann jeweils das Angebot gemacht, an die Box zu kommen. Jenson blieb draußen, Lewis kam rein."

Beide Strategien waren richtig

"Bei solchen Bedingungen muss man den Fahrern die Informationen geben, die sie nicht haben können, dann können sie in Summe bessere Entscheidungen treffen als wir am Kommandostand. Ich finde, sie haben für ihren jeweiligen Fahrstil genau die richtigen Strategien ausgewählt. Am Ende waren sie nur durch zwei Sekunden getrennt, obwohl sie von der ersten bis zur letzten Runde gepusht haben. Das zeigt, dass es richtig war."

Frage: "Lewis hat gesagt, dass er über die Entscheidung, in der zweiten Runde auf Intermediates zu wechseln, überrascht war. Habt ihr ihm befohlen, an die Box zu kommen?"

Whitmarsh: "Wir haben ihm angeboten, dass er an die Box kommen kann, und er hat sich dafür entschieden. Das ist eine Teamentscheidung. Wenn man sich das Rennen anschaut, dann sind sie zwar unterschiedliche Strategien gefahren, aber die jeweilige Strategie war für Jenson und Lewis genau richtig. Der beste Beweis dafür ist der knappe Abstand auf der Ziellinie."

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Lewis Hamilton lag im Rennen eine Zeit lang direkt vor Sebastian Vettel Zoom Download

"Lewis hat fantastische Arbeit geleistet. Seine vielen Überholmanöver sind fantastisch für die Formel 1. Nach der halben Distanz hat mir heute jemand gesagt, dass wir jetzt erst bei der Hälfte sind. Das konnte ich gar nicht glauben, denn es war ein atemberaubendes Spektakel! Dann wurde uns klar, dass die Intermediates nicht bis zum Ende halten würden. Da schoss mir durch den Kopf: 'Oh mein Gott, jetzt müssen wir uns wieder genau überlegen, wann wir den nächsten Boxenstopp am besten timen!' Da kann man wieder viel falsch machen. Es war also ziemlich schwierig."

Frage: "Jenson hat in den ersten vier Rennen viele seiner Kritiker zum Schweigen gebracht. Seid ihr im Team über seine Leistungen überrascht?"

Whitmarsh: "Nein. Was heißt nicht überrascht? Natürlich hat Jenson fantastische Arbeit geleistet. Er ist ein reifer Weltmeister mit viel Erfahrung. Er hatte in seiner Karriere auch schon schwierige Zeiten, aus denen er eindeutig gelernt hat. Wie er sich ins Team eingelebt, wie er die Beziehung zu Lewis gestaltet hat, wie er auf der Strecke agiert - einfach fantastisch!"

"Von den ersten vier Rennen hat er zwei gewonnen. Niemand, der diese Rennen gesehen hat, kann ernsthaft behaupten, dass es unverdiente Siege waren. Das waren Fahrersiege, Rennen, in denen der Fahrer den Unterschied machen musste. Das ist ihm gelungen."

Nicht am schnellsten, aber am besten

Frage: "Ihr hattet in keinem der vier bisherigen Rennen das schnellste Auto, aber ihr führt dennoch beide Weltmeisterschaften an..."

Whitmarsh: "Das spricht für das Team und die Fahrer. Ich glaube, hier hatten wir im Qualifying das zweitschnellste Auto. Wir waren langsamer als Red Bull, aber mit unserer Leistung im Qualifying haben wir uns das Leben nicht einfacher gemacht."

"Wir sind kein schlechtes Rennteam. Wir bekommen es nicht immer perfekt hin, aber wir treffen Entscheidungen und schauen nach vorne. Wir haben zwei großartige Rennfahrer. Sie haben meiner Meinung nach einen großen Anteil an diesem Zwischenstand. Das ganze Team arbeitet hervorragend zusammen, um das Maximum herauszuholen."


Fotos: McLaren, Großer Preis von China


Frage: "Was müsst ihr nun tun, um diesen Vorsprung zu verteidigen?"

Whitmarsh: "Wir müssen unser Auto schneller weiterentwickeln als die anderen. Barcelona ist eine Herausforderung, denn dort werden alle Upgrades haben. Wir pushen intensiv, um dort einen größeren Schritt als die anderen zu machen. Außerdem glaube ich, dass wir im Rennen näher an Red Bull dran sind als im Qualifying. Da fehlt uns noch ein bisschen was - sie sind die Meister des Qualifyings."

"Es ist jetzt ein Entwicklungsrennen. Wir haben uns in Übersee eine starke Basis geschaffen, aber jetzt geht es zurück nach Europa. Wir müssen pushen, die Zuverlässigkeit erhalten, gute Rennen fahren und das Auto weiterentwickeln, dann können wir Weltmeister werden. Das ist unser Ziel."

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