"Freak-Aus" für Hamilton, Russell nur P4: Ernüchterung bei Mercedes
So hatte sich Mercedes das Formel-1-Qualifying in Zandvoort nicht vorgestellt - Wie es zum völlig überraschenden Aus bei Lewis Hamilton kam
(Motorsport-Total.com) - Damit hatten nach dem Freitag wohl die wenigsten gerechnet: Lewis Hamilton verpasste völlig überraschend den dritten Teil des Qualifyings zum Großen Preis der Niederlande. Selbst Toto Wolff fiel nur das Wort "Freak-Exit" ein. Nach zwei Siegen in drei Rennen und fünf Podestplätzen in Folge endete Hamiltons Höhenflug in Zandvoort mit einer Bruchlandung im Qualifying.
© Motorsport Images
Lewis Hamiltons Q2-Aus in Zandvoort kam wie der Blitz aus heiterem Himmel Zoom Download
Was war geschehen? Zunächst zur entscheidenden Runde selbst: Hamilton kommt mit einem kleinen Quersteher durch die Tarzanbocht - akzeptabel, denn auch viele andere Fahrer mussten an dieser Stelle korrigieren. In der Scheivlak-Kurve bleibt Hamilton etwas zu weit außen.
Die meiste Zeit verliert er dann im zweiten Teil der Runde. Zunächst das Anbremsen der engen Kurve 10 (je nach Zählweise auch Kurve 9): Der Mercedes W15 will einfach nicht einlenken, schiebt seltsam über alle vier Räder nach außen. Es dauert, bis Hamilton wieder Gas geben kann.
Dann die vorletzte Kurve: Der Eingang sieht gut aus, doch dann kommt Hamilton etwas zu weit nach außen und muss kurz lupfen. Am Ende fehlen ihm 0,103 Sekunden auf den Zehntplatzierten Fernando Alonso.
"Das war total überraschend", gibt Toto Wolff zu. "Wir konnten es kaum glauben, denn er war in Q1 auf dem ersten Reifensatz der Schnellste, und dann fliegst du im nächsten Segment raus. Das Auto ist einfach auf Messers Schneide. Es hat Untersteuern in den langsamen Kurven und plötzliches Übersteuern in den schnellen. Da ist es sehr schwierig, eine saubere Runde hinzubekommen."
Wolff verweist dabei auf die Reifentemperaturen, die in der zweiten Hälfte der Runde nicht mehr gepasst haben: "In dem Moment, wo es in einer einzelnen Kurve ein bisschen überhitzt, weil zu viele Räder durchdrehen oder so, ist die ganze Runde im Eimer."
"Bis zur Mitte [der Runde] waren wir eigentlich ganz gut, und dann ist es in Kurve 10 innerhalb von zwei Kurven vorbei. Wenn der Reifen einmal über 100 oder 110 Grad Celsius ist, kommt er nicht mehr zurück. Dann ist die ganze Runde ruiniert." Wolff lobt in diesem Zusammenhang die Fähigkeit von Lando Norris, die Reifen über eine Runde zu schonen.
Änderung der Abstimmung Schuld?
Hamilton führt das Problem auf eine Set-up-Änderung zurück, die Mercedes über Nacht vorgenommen hatte. Das dritte Training fiel buchstäblich in Feuer und Wasser, sodass die Änderungen ein Schuss ins Blaue waren.
"Wir haben über Nacht etwas verändert. Das betraf beide Autos, aber meins mehr. Natürlich konnten wir das im dritten Training nicht testen, aber das gilt für alle. Gestern hatte ich viel Untersteuern, das wollten wir beheben, und dann hatten wir heute ein sehr loses Heck."
Andrew Shovlin, leitender Renningenieur des Teams, bestätigt das: " Das Auto hat sich heute für keinen der beiden Fahrer gut angefühlt. Gestern hatten wir mit Untersteuern zu kämpfen, heute hatten wir Probleme mit dem Grip am Heck."
Hinzu kam in Hamiltons Fall die Situation mit Sergio Perez in Q1. "Ich habe versucht, ihm so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Das hat nicht funktioniert", so der siebenmalige Weltmeister. (Mittlerweile steht die Strafe fest)
Der sechste Podestplatz in Folge ist jedenfalls in weite Ferne gerückt, zumal es im Rennen trocken bleiben soll. Wolff bleibt optimistisch: "Wenn wir Lewis an der ersten Gruppe [Alonso-Albon-Stroll-Gasly-Sainz] vorbeibekommen, ist er in der Spitzengruppe."
Hamilton selbst ist deutlich weniger optimistisch: "Es wird wahrscheinlich schwierig, überhaupt in die Top 10 zu kommen."
Russell mit Mühe durch Q1, dann Polekandidat
Für George Russell endete das Qualifying mit Platz vier, was angesichts seiner Probleme in Q1, als er einen zusätzlichen Reifensatz verbrauchen musste, sehr versöhnlich klingt. Doch ganz zufrieden ist er damit nicht.
"Ehrlich gesagt war es eine Erleichterung, Q1 zu überstehen, aber es ist immer wieder überraschend, wie schnell sich die Dinge ändern. In Q2 fühlte sich meine Runde halbwegs vernünftig an und ich war auf der Pace von McLaren. Deshalb ging ich mit dem Gefühl ins Q3, dass ich um die Pace kämpfen kann."
Doch dann stolperte er über das gleiche Problem wie Hamilton: "Die Pace kam einfach nicht, was einzig und allein an den Reifen lag." Seine Qualifying-Runde sah bis Kurve 11 (in manchen Zählweisen 10; die lange Linkskurve am Ende des Mittelsektors nach den vielen schnellen Rechtskurven) fast perfekt aus. Dann kam wildes Unter- und Übersteuern in besagter Linkskurve, der Rest der Runde passte wieder besser.
"Ich war auf einer starken Runde, vergleichbar mit der von Lando. Ich glaube, ich war zweieinhalb Zehntelsekunden schneller als zuvor. Dann überhitzten die Reifen und ich verlor mehr Performance als erwartet". Die Mitteilung, dass ihm mehr als eine halbe Sekunde auf die Poleposition gefehlt hatte, ließ Russell dann auf der Auslaufrunde schlucken.
Mit einem kälteren Reifen in die Runde zu gehen, kam für ihn nicht in Frage: "Du willst sie so kühl wie möglich haben, aber wenn du nur ein Grad unter dem Limit bist, verlierst du wahrscheinlich eine halbe Sekunde. Wenn du ein Grad über dem Limit bist, verlierst du eine Zehntel."
"Es ist wie bei einer Klippe: Geht man einen Schritt weiter, hat man eine noch bessere Aussicht. Geht man einen Schritt zu weit, stürzt man ab. Man will also immer die bestmögliche Aussicht haben, aber nicht runterfallen. Das ist ein echter Balanceakt." Erschwerend kam hinzu, dass die Streckentemperatur während des Qualifyings um insgesamt vier Grad sank.
Ein weiterer möglicher Faktor: der Wind. "Es gibt viele 180-Grad-Kurven, und bei so starkem Wind kann es passieren, dass man auf den Reifen zu stark rutscht. Dann überhitzen die Hinterreifen und man verliert Grip. Eine Änderung der Windrichtung um 45 Grad kann die Balance des Autos komplett verändern. Was man an einem Tag lernt, kann am nächsten schon nicht mehr funktionieren."
Was von Platz vier aus möglich ist? "Ich erwarte einen guten Kampf mit McLaren. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie seit einigen Rennen die Schnellsten sind. Realistisch gesehen liegen wir ein bis eineinhalb Zehntel hinter McLaren und Red Bull. Aber wenn die Strategie stimmt und man einen guten Start erwischt, kann sich das schnell ändern."