• 01. Mai 2017 · 09:13 Uhr

Mercedes unter Druck: Sind die Reifen der Schlüssel?

Verkehrte Welt in Sotschi: Mercedes im Qualifying hinter Ferrari, im Rennen aber plötzlich top - Set-up-Fenster der "kapriziösen" Diva W08 offenbar sehr schmal

(Motorsport-Total.com) - Mercedes, so lautete ein Schluss der ersten drei Saisonrennen, ist im Qualifying zwar immer noch das Maß aller Dinge, aber im Renntrimm nur noch die Nummer 2 hinter Ferrari. So gesehen herrschte beim Grand Prix von Russland in Sotschi verkehrte Welt. Denn im Qualifying standen plötzlich die beiden Ferraris in der ersten Startreihe, aber zumindest ein Silberpfeil war dafür im Rennen pfeilschnell.

Ob Mercedes die Vorbereitung auf Qualifying und Rennen anhand der Erkenntnisse der ersten drei Rennen anders ausgerichtet hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Vielleicht war Sotschi mit seinem extrem glatten Asphalt und ungewöhnlichen Bedingungen auch nur die Ausnahme von der Regel. Aber Tatsache ist: Im Duell zwischen Mercedes und Ferrari kann man sich 2017 nicht mehr auf jene Muster verlassen, die in der Vergangenheit noch zuverlässig gestimmt haben.

"Die Temperaturen, der Asphalt, das Streckenlayout: Einiges war anders als in Bahrain. Insofern glaube ich nicht, dass wir ruhigen Gewissens behaupten können, schon alle Probleme gelöst zu haben, die wir in Bahrain hatten", befürchtet Premierensieger Valtteri Bottas. "Wir haben hier einfach einen besseren Job gemacht, das Maximum aus den Bedingungen rauszuholen. Von Freitag auf Samstag auf Sonntag sind uns gute Fortschritte gelungen. Dieses Optimieren hat den Sieg möglich gemacht."

Die Zeiten, in denen sich die Mercedes-Ingenieure leisten konnten, das Set-up nur zu 99 statt zu 100 Prozent zu treffen, sind 2017 vorbei. Gegen Ferrari entscheidet die Tagesform, und für die wird der Grundstein in den Freien Trainings gelegt. Am Freitag belegten die Sektorenzeiten, wie Mercedes zwischendurch mit ungewöhnlich viel Flügel rumspielte. Plötzlich waren Bottas und Lewis Hamilton im kurvenreichen dritten Sektor schneller als Ferrari. Und auf den Geraden langsamer.

Topspeed bleibt eine Mercedes-Stärke

Das Experiment wurde aber verworfen - letztendlich setzte das Team auf seine bewährte Stärke: Topspeed auf den Geraden, in den Kurven dafür möglichst wenig verlieren. Das war für den F1 W08 EQ Power+ nicht nur der beste Set-up-Kompromiss, sondern auch für Bottas hilfreich, als er im Finish Vettels Attacke abwehren musste. Mit weniger Höchstgeschwindigkeit hätte er sich dabei vermutlich schwerer getan.

In Sotschi hat Mercedes die richtigen Entscheidungen getroffen. "In den entscheidenden Momenten", sagt Bottas, "haben wir als Team funktioniert. Es war nicht das leichteste Rennen zu gewinnen." Als Schlüsselfaktor kristallisieren sich immer mehr die Reifen heraus. Der W08 sei eine "kapriziöse" Diva, erklärt Sportchef Toto Wolff. Heißt übersetzt in Rennfahrersprache: Ähnlich wie bei Red Bull funktioniert das Auto zwar - aber nur in einem sehr schmalen Fenster.

"Wir wissen, dass es sehr schwierig ist, die Reifen im richtigen Fenster zu halten. Daran müssen wir arbeiten", weiß Wolff. "Ferrari hat damit anscheinend weniger Schwierigkeiten. Bei denen ist das Fenster größer." Auffällig auch: "Mit dem Ultrasoft waren wir mit Valtteris Auto im ersten Stint ultra konkurrenzfähig. Mit dem Supersoft danach nicht mehr so."

Je weicher die Reifen, desto besser der Mercedes?

Woraus man - auch auf Basis der ersten drei Rennwochenenden - einen Trend ableiten könnte: Je weicher die Reifen, desto schneller ist der Mercedes im Vergleich zum Ferrari. Eine valide These? "Ich sehe da kein Muster", winkt Wolff ab. "Die Verschiebungen sind marginal, und es spielen auch viele Faktoren rein: Beschaffenheit der Fahrbahnoberfläche, Streckenlayout, Luft- und Asphalttemperatur, kleine Schäden an der Karkasse. Da gibt es so viel Interaktion, die man genau treffen muss, um ins Fenster zu kommen."

Das ist in Sotschi offenbar gelungen. "Am Anfang der Stints", bilanziert Bottas, "taten wir uns etwas schwer, aber das war nicht weiter tragisch. Die Haltbarkeit der Reifen war verglichen mit Ferrari gut. Die Jungs haben dieses Wochenende wirklich gute Arbeit geleistet." Beeindruckend vor allem der Ultrasoft-Stint zu Beginn, als der Finne nach dem Safety-Car-Restart innerhalb von elf Runden 4,5 Sekunden Vorsprung herausfuhr.

In Runde 21 war Bottas Vettel schon um 5,5 Sekunden enteilt. Doch dann schien sich das Blatt zu wenden: Bis der Finne in Runde 27 an die Box kam, schmolz sein Vorsprung auf 2,6 Sekunden zusammen. Und in den fünf bereinigten Runden vor Vettels Reifenwechsel (In- und Out-Laps nicht eingerechnet) vergrößerte Vettel seinen Vorsprung sogar von 20,0 auf 20,7 Sekunden - obwohl seine Reifen (Ultrasoft) um 30 Runden mehr auf dem Buckel hatten als jene von Bottas (Supersoft)!

Nuancen entscheiden über Sieg oder Niederlage

Das liegt zum Teil sicher daran, dass die Reifen in Sotschi auch auf längere Distanzen kaum nachlassen, bleibt aber beeindruckend - und spricht für den Ferrari. Auch am Ende des Rennens, als Vettel die um sieben Runden frischeren Reifen hatten, tat sich Bottas hart: "Mit dem Supersoft wurde es gegen Ende etwas schwieriger, weil ich die Temperatur in den Vorderreifen nicht halten konnte." Dass er auch noch Vibrationen hatte, wegen eines Verbremsers, half nicht.

Im komplexen Dschungel hunderter Parameter, die es richtig einzustellen gilt, werden es 2017 Nuancen sein, die über Sieg oder Niederlage entscheiden. Sportchef Wolff weiß das. Er will sich nur auf eins festlegen: "Wir haben ein sehr schnelles Renn- und Qualifying-Auto. Aber wir müssen es richtig feintunen."

"Wir haben jetzt einen echten Kampf", sagt der Österreicher. "Wir hatten in den vergangenen drei Jahren so viele Pole-Positions, haben 52 Rennen gewonnen. Uns war klar, dass sich das irgendwann ändern würde. Das ist genau die Herausforderung, die wir jetzt annehmen. Ich hatte vor ein paar Wochen in meinem Büro ein Treffen mit unserem Chefdesigner John Owen. Nach dem Meeting sagte er zu mir: 'Ist das nicht aufregend?' Das ist unsere Einstellung."

Wolff zeigt Respekt vor Ferraris Leistung

"Ferrari hat über den Winter sehr gute Arbeit geleistet. Diese beiden Teams liegen vor allen anderen. Jetzt gehen wir in die Analyse, woran wir arbeiten müssen, damit wir schneller als Ferrari entwickeln können. Das wird nicht einfach. Sie sind ein harter Gegner." Bottas nickt zustimmend: "Ferrari ist unser größter Herausforderer. Wenn uns jemand vom Siegen abhalten kann, dann Ferrari."

Jetzt hofft Mercedes, mit dem Barcelona-Update einen besseren Wurf zu machen als Ferrari: "Es wird verdammt eng", befürchtet Wolff. "Sie sind mit einem sehr guten Auto aus dem Winter gekommen, das Sebastian sehr gut zu liegen scheint. Wir müssen uns strecken, um so gut wie möglich zu performen. Wenn wir das schaffen, so wie heute mit Valtteri, dann können wir es mit ihnen aufnehmen."

Aber er weiß auch: "Jede Serie endet einmal. Wir können nicht immer gewinnen - auch wenn uns das gefallen würde." Doch Experte Martin Brundle warnt davor, schon zu früh alle Jetons auf Ferrari zu setzen: "Es war das vierte Rennen, 16 sind noch zu fahren. Das sind eine Menge Punkte." Denn wie schnell sich alles ändern kann, habe Sotschi bewiesen: "Nach den Longruns am Freitag dachte man, es würde für Ferrari ein Spaziergang. War es aber nicht."

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