Verspäteter Start für Enrico Cardile bei Aston Martin: Drei mögliche Szenarien
Aston Martin muss noch eine Weile auf seinen neuen CTO Enrico Cardile warten, weil Ferrari ihn nicht freigibt: Je länger er warten muss, desto schwieriger die Situation
(Motorsport-Total.com) - Aston Martin könnte diese Woche sowohl Grund zum Feiern als auch zur Enttäuschung haben: Adrian Newey holte am Montagmorgen seine Zugangskarte an der Rezeption ab, um seine Arbeit am Formel-1-Auto für 2026 zu beginnen.
Vielleicht hat allein die Vorstellung, mit dem berühmten Zeichenbrett-Enthusiasten an der Kaffeemaschine über "Antiques Roadshow" zu plaudern, die Mitarbeiter am Montagmorgen etwas beschwingt.
Dennoch wurde die Nachricht, dass Newey seine Arbeit im neuen Silverstone-Hauptquartier des Teams aufgenommen hatte, durch die aufkommende Meldung gedämpft, dass Enrico Cardile - der als Chief Technical Officer kommen soll - noch eine Weile warten muss.
"Dies ist eine Angelegenheit zwischen Enrico, Ferrari und ihren Rechtsvertretern in Italien, und die Parteien sind weiterhin in den Prozess involviert", heißt es in einer Stellungnahme von Aston Martin. "Daher werden wir keine weiteren Kommentare abgeben. Wir werden zu gegebener Zeit eine Ankündigung machen."
Die ersten Hinweise darauf, dass mit Cardiles Verpflichtung nicht alles glatt lief, tauchten auf, als Andy Cowell während der Testfahrten einer Frage zum erwarteten Ankunftsdatum des Italieners - oder besser gesagt zwei Fragen - auswich.
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Obwohl er noch nicht lange Teamchef ist, zeigte Cowell bereits die typische Teflon-Beschichtung eines Formel-1-Teamchefs, als er geschickt von der Frage ablenkte - allerdings nicht genug, um nicht erneut gefragt zu werden.
"Ich denke, worauf wir uns freuen, ist, dass tausend Menschen gut zusammenarbeiten", sagte Cowell zunächst. "Wir freuen uns auf Adrians Einstieg. Wir freuen uns auf die Dutzenden von neuen Mitarbeitern, die wir jeden Monat haben. Ich glaube, es waren 248 im Kalenderjahr 2024. Wir freuen uns darauf, alle zusammenzubringen und als Team gut zu arbeiten."
Es war die klassische Nicht-Antwort. Wie in italienischen Medien - zuerst von Corriere dello Sport - berichtet wurde, gibt es zwischen Aston Martin und Ferrari ein Tauziehen um Cardiles Freistellung.
Im Juli letzten Jahres wurde bekannt gegeben, dass er Ferrari verlassen würde, mit der Erwartung, dass er Anfang 2025 seine neue Rolle bei Aston Martin antreten würde. Doch Ferrari hielt an seinem ehemaligen Chassis-Chef fest.
Nach einem offenbar rechtlichen Streit gewann Ferrari den Kampf um die Verlängerung von Cardiles Zwangspause bis zum 17. Juli, wodurch er effektiv ein ganzes Jahr untätig bleibt.
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Das bedeutet auch, dass der neue CTO erst in einer späten Phase in die Entwicklung des Aston-Martin-Autos für 2026 involviert wird - was zweifellos der Grund für Ferraris Vorgehen ist. Jegliche Zugeständnisse an einen Rivalen würden als Schwäche gewertet.
Wenn Cardile am 18. Juli dem Team beitritt, gibt es drei mögliche Szenarien - jedes mit Auswirkungen entweder auf Aston Martin als Team oder auf Cardiles eigene Karriere.
Szenario 1: Cardiles verspäteter Einstieg bringt eine frische Perspektive für die 2026-Designrichtung
Dass Cardile nicht von Beginn des Entwicklungszyklus an dabei ist, ist ein erheblicher Nachteil für Aston Martin. Doch das Team verfügt über eine Vielzahl technischer Führungskräfte, die ihren Input zum Auto für 2026 beisteuern. Newey wird natürlich eine maßgebliche Rolle spielen, ebenso wie der Technische Leiter Bob Bell und der stellvertretende Technische Leiter Eric Blandin.
Die Entwicklung der 2026-Konzepte verläuft so: Was das Team derzeit im Windkanal testet, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht das sein, was wir nächstes Jahr auf der Rennstrecke sehen. Mit völlig neuen Regeln müssen die Ingenieure verschiedene Konzepte ausprobieren, herausfinden, was am besten funktioniert, und diese Ideen weiter verfeinern, bis ein solides Grundkonzept steht.
Es könnte sein, dass Cardile dazukommt, den aktuellen Stand aufholt und Fragen stellt, die den Ingenieuren seit Monaten nicht mehr gestellt wurden. Juli ist nicht zu spät, um noch Einfluss zu nehmen. Falls Cardile Potenzial in einem anderen Konzept sieht, könnte es noch rechtzeitig sein, um Änderungen vorzunehmen oder zumindest Verbesserungen einzubringen.
Der Designfreeze für die kritischsten Komponenten erfolgt normalerweise um den November herum - wenn nicht noch später. Dann beginnt das Team mit der Produktion und Montage des Autos.
Spätere Entwicklungen fließen in das Mid-Season-Update für 2026 ein, was ebenfalls die Leistung beeinflussen könnte. Es gibt also noch genügend Möglichkeiten für Cardile, sich in den Designprozess einzubringen und ihn positiv zu beeinflussen.
Szenario 2: Die späte Ankunft von Cardile stört die Harmonie
Hier geht es nicht darum, Cardiles Charakter in Frage zu stellen. Vielmehr soll ein Punkt verdeutlicht werden: Wenn jemand mitten in einen Entwicklungsprozess geworfen wird, kann das problematisch sein.
Angenommen, Newey hat eine Lücke in den 2026-Regularien gefunden, die er ausnutzen möchte. Alles läuft gut - und dann kommt Cardile mit seinen eigenen Vorstellungen, was getan werden sollte.
Was wirklich neu ist an den F1-Autos 2025
Wir haben genau hingeschaut und zeigen euch interessante Technik-Updates bei den Formel-1-Autos 2025 und wer bei den Wintertests mit welchen Neuerungen überrascht hat!Denn die F1-Autos 2025 sehen nur auf den ersten Blick aus wie die Vorgängermodelle aus der Saison 2024. Viele Veränderungen befinden sich natürlich unter der Verkleidung, aber auch äußerlich gibt es Neues zu sehen. Manchmal braucht es dafür zwar die Lupe oder Werkzeuge zur Bildbearbeitung, dann aber zeigt sich: Selbst im vierten Jahr unter dem aktuellen Technischen Reglement haben die Ingenieure noch genug Spielraum, um bekannte Ideen neu umzusetzen oder völlig innovativ zu sein. Weitere Formel-1-Videos
Dies wäre im Prinzip das erste Szenario, jedoch mit einer geringeren Bereitschaft zur Akzeptanz bestehender Ideen. Vielleicht ist das bestehende Designteam überzeugt, bereits den besten Entwicklungsansatz zu haben, und will sich davon nicht abbringen lassen.
Das könnte zu Spannungen und Konflikten führen. Egos und Temperamente könnten aufeinanderprallen, wenn Cardiles Fragen zum Designprozess nicht so positiv aufgenommen werden wie im ersten Fall. Es könnte zu internen Streitigkeiten kommen und den Fortschritt des Teams untergraben, indem es Zweifel an seinem eingeschlagenen Weg für 2026 weckt.
Szenario 3: Die David-Sanchez-Situation - Cardile wird aufs Abstellgleis geschoben
Ferrari liebt es, lange Auszeit-Phasen zu verhängen - so sehr, dass die Grünflächen in der Emilia-Romagna vermutlich makellos gepflegt sind, wenn man sich am englischen Begriff "Gardening Leave" aufhängt.
Die aktuelle Situation erinnert an den langen Zwangsurlaub, den David Sanchez erdulden musste, als er Ferrari letztes Jahr in Richtung McLaren verließ - und wie es für ihn endete.
Bei McLaren war die Situation folgende: Sanchez wurde als Technischer Direktor für Fahrzeugkonzept und Performance verpflichtet, musste aber zunächst eine neunmonatige Zwangspause einlegen.
Als er schließlich in Woking ankam, stellte er fest, dass seine erwarteten Aufgaben und sein Einflussbereich nicht mehr dem entsprachen, was ihm zuvor zugesichert worden war - sie waren mittlerweile auf andere Mitarbeiter übergegangen. Anstatt sich mit dieser neuen Realität abzufinden, trennten sich Sanchez und McLaren in beiderseitigem Einvernehmen.
Es wäre nicht überraschend, wenn Cardile bei Aston Martin Ähnliches erleben würde. Möglicherweise wurden viele seiner erwarteten Verantwortlichkeiten während seiner Abwesenheit an andere im Team delegiert.
Während sich der Entwicklungsprozess weiter entfaltet, besteht das Risiko, dass er kaltgestellt wird - auch wenn es, wie in Szenario 1 beschrieben, noch genügend Möglichkeiten gäbe, einen positiven Einfluss zu nehmen.
Dies ist eine Situation, die Cowell mit Fingerspitzengefühl managen muss. Falls sich der Zwangsurlaub noch etwas verkürzen lässt, würde das Cardiles Integration ins Team erleichtern. Je länger sich die Situation hinzieht, desto schwieriger wird es, ihn in die Entwicklung des 2026er-Autos einzubinden.
Als Alternative könnte Cardile stattdessen ein Schlüsselakteur für das 2027-Projekt werden und dort den Prozess von Beginn an mitgestalten. Doch für einen neuen Chief Technical Officer ist es alles andere als ideal, in einer solchen Lage zu starten.