"Gab wirklich keine Pläne": Die größten Herauforderungen für Binotto bei Audi
Audi-Teamchef Mattia Binotto spricht über die größten Herausforderungen, denen sich der deutsche Hersteller vor seinem Formel-1-Einstieg 2026 noch stellen muss
(Motorsport-Total.com) - Als Mattia Binotto zum 1. August 2024 die Leitung des Formel-1-Projekts von Audi übernahm, war er sich bewusst, dass es keine leichte Aufgabe werden würde. Ein etabliertes Team wie Ferrari auf Titelkurs zu bringen, ist das eine - ein Schlusslicht wie Sauber von Grund auf aufzubauen, eine ganz andere Herausforderung.
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Mattia Binotto hatte nicht damit gerechnet, dass es so anspruchsvoll wird Zoom Download
Doch selbst Binotto gibt zu, dass die Aufgabe bei Audi deutlich größer ist als ursprünglich erwartet. Der Realitätsschock kam in Form eines Teams, das Schwierigkeiten hatte, überhaupt Punkte zu erzielen, und dem es an einer klaren Strategie für die Zukunft fehlte.
"Als ich ankam, gab es nicht nur null Punkte, sondern wirklich keine Pläne oder Entwicklungen", erklärt der Chief Operating (CCO) und Chief Technical Officer (CTO) von Audi im exklusiven Gespräch mit der englischsprachigen Ausgabe von Motorsport.com, einer Schwesterplattform von Motorsport-Total.com im Motorsport Network.
"Das hat mir am meisten Sorgen bereitet. Alles war nur auf 2026 fokussiert, aber das war für mich ein Problem, weil ich denke, dass ein Team immer auf der Strecke kämpfen muss." Denn nur durch den Wettkampf könne man verstehen, wie gut man ist und ob die eingeschlagene Richtung die richtige ist, glaubt Binotto. "Man muss Leistung, Stärken und Schwächen erkennen und angehen. Das ist das eigentliche Know-how eines Teams."
Fortschritte auch in der Saison 2024 wichtig
Aus Binottos Sicht war die vorherige Führung, zunächst unter Andreas Seidl und später unter Oliver Hoffmann, zu stark auf das langfristige Bild fixiert, was auf Kosten der aktuellen Performance ging. Dies führte zum Abstieg von Sauber in der Rangliste und beeinflusste die Denkweise im Team, das keine klar definierte Strategie für die aktuelle Situation hatte.
"Als ich im August hinzukam, war das Team praktisch eingefroren", sagt Binotto weiter. "Während wir sicherstellten, dass es solide Pläne für unsere Reise zu einem Top-Team in der Zukunft gab, mussten wir das Team sofort vorantreiben, um Verbesserungen zu erzielen - und das möglichst schon in dieser Saison."
"Die aktuelle Saison war wichtig, nicht nur, um nicht mit null Punkten abzuschließen. Denn ob man als Zehnter mit null Punkten oder mit vier Punkten abschließt, macht kaum einen Unterschied. Aber für uns ging es darum, die richtige Entwicklungsrichtung für die nächste Saison zu definieren - und über den Winter motiviert zu bleiben."
"Heute sehe ich ein Team, das überzeugter davon ist, was nötig ist und was für die nächste Saison erforderlich ist", sieht Binotto nur wenige Monate nach seinem Einstieg die ersten Fortschritte. "Hoffentlich können wir das aktuelle Auto weiterentwickeln."
Die Veränderungen anstoßen
In seinen ersten Wochen in Hinwil führte Binotto eine umfassende Analyse durch, um besser zu verstehen, was funktionierte und was nicht. Das Ergebnis war eindeutig: Die Infrastruktur musste ausgebaut, die Einrichtungen verbessert und eine gezielte Rekrutierungsinitiative gestartet werden.
"Ich denke, Sauber war in den letzten zehn Jahren in einer Überlebensmentalität, ohne Investitionen und ohne echte Ausgaben", meint der Italiener. "Man hat alles behalten, was man hatte, aber nichts weiterentwickelt. Wenn ich mir den Windkanal anschaue: Er ist großartig und immer noch auf dem neuesten Stand in Bezug auf die Einrichtung."
"Aber was nicht weiterentwickelt wurde, ist die interne Testmethodik. Ein guter Windkanal funktioniert nicht nur durch einen ordentlichen Luftstrom. Es geht um die Messung von Daten, die aerodynamischen Leistungseigenschaften, die Genauigkeit der Daten und ihre Korrelation zur Rennstrecke. In dieser Methodik sind wir stehen geblieben."
Audi muss neue Mitarbeiter einstellen
Ähnliches gelte für die Simulationsmöglichkeiten von Sauber, die heute entscheidend für die Wettbewerbsfähigkeit eines Teams seien. "Die Korrelation unserer Simulation ist nicht ausreichend", gibt Binotto zu. "Und wie kann ich das sagen? Weil ich einen Benchmark im Kopf habe und ein anderes Team, das ich sehr gut kenne."
"Und warum ist CFD-Korrelation oder die Methodik so wichtig? Weil man heute nicht alles testen kann, um herauszufinden, was am schnellsten ist. Man muss erst eintausend Ideen filtern und nur die besten zehn auswählen, die in den Windkanal kommen."
Binotto schätzt, dass Sauber etwa 350 Mitarbeiter benötigt - ein Vorhaben, das nicht über Nacht realisiert werden kann. "Das ist wirklich eine Menge", sagt er. "Wir glauben, dass wir, um vergleichbar mit einem Top-Team zu sein, diese Zahl erreichen müssen, nicht nur in der Technik, sondern auch in der Fertigung, im Finanzwesen und im Personalwesen."
"Aber wie können wir 350 Menschen einstellen, die Formel-1-Spezialisten sind? Fast unmöglich. Deshalb liegt unsere Strategie darin, vor allem in junge Absolventen zu investieren. Ich bin überzeugt, dass dies die beste Investition für unsere Zukunft ist. Die Reise von Audi ist langfristig angelegt, und ich bin mir sicher, dass die jungen Talente von heute uns in ein paar Jahren die beste Rendite liefern werden."
Audi braucht Geduld auf dem Weg zum Erfolg
Audi trat 2022 mit der Ambition in die Formel 1 ein, ab 2026 als Werksteam konkurrenzfähig zu sein. Doch die Ziele wurden bereits angepasst. Binotto ist realistisch in Bezug auf das, was noch getan werden muss und wie lange es dauern wird, Audi dorthin zu bringen, wo man sein möchte. Er glaubt nicht, dass dies vor Ende des Jahrzehnts realistisch ist.
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"Allein der Bau einer neuen Einrichtung dauert vielleicht drei Jahre. Gute Leute anzuziehen, dauert genauso lange. Man muss ihnen eine gute Arbeits- und Lebensumgebung bieten. Vielleicht können wir in drei Jahren unser Ziel erreichen, um Siege zu kämpfen und vielleicht bis 2030 um den Titel. Das ist immer noch ambitioniert und herausfordernd. Aber so lange wird es dauern."
"Können wir nächstes Jahr erfolgreich sein? Auf keinen Fall. In ein paar Jahren? Auch nicht, denn uns fehlen die Leute, die Einrichtungen und die Werkzeuge", mahnt der erfahrener Formel-1-Techniker. "Was können wir also in der Zwischenzeit tun? Sich mit jeder einzelnen Saison zu verbessern, so einfach ist das."
"Man kann nicht einfach bis 2030 warten, um der Beste zu sein oder ein Maßstab zu sein. Man muss Schritt für Schritt vorgehen, um den Berg zu erklimmen und ganz oben zu stehen. Für uns wird es wichtig sein, nächstes Jahr besser abzuschneiden als 2024 und auch im darauffolgenden Jahr."
Trotz der Pläne kommt Erfolg nicht schneller
Binotto hat dieses Jahr gemeinsam mit Audi-CEO Gernot Döllner mehrere Rennen verfolgt. Er ist gut informiert und versteht, dass die bevorstehenden Herausforderungen größer sind als ursprünglich erwartet. Beide sicherten sich kürzlich Investitionen aus Katar und sind sich über den notwendigen Zeitrahmen einig.
"Es geht immer darum, Erwartungen zu managen", so Binotto. "Aber Audi versteht nicht nur, sie stimmen auch zu und das ist das Wichtigste. Aber ich weiß, wie schwierig es immer noch ist, die Erwartungen für die Reise zu managen, denn wenn wir die vier Ringe auf dem Auto haben und sie nicht schnell genug sind, wird der Druck sicherlich steigen."
Aktuell sei es jedoch entscheidend, dass es - neben der finanziellen Power eines großen Herstellers und zusätzlichem Geld aus Katar - endlich einen Plan gibt. Das bedeutet nicht, dass der Erfolg schneller kommt, aber zumindest gibt es eine klare Richtung und ein Ziel.
"Es ist unser Nordstern. Eine klare Vision", sagt er. "Wir wissen, was wir brauchen, um dorthin zu gelangen. Und ich vergleiche das oft mit dem Besteigen eines Berges. Wir müssen auf den Gipfel. Und momentan versuchen wir, den Weg dorthin zu finden."
"Wir wissen, dass es lang und schwierig wird. Aber wenn man die klare Vision hat und die Erwartungen richtig managt, ist es das Wichtigste. Dann geht es darum, die richtigen Ressourcen bereitzustellen", erinnert Binotto an die Grundvoraussetzungen, um den Weg zum Erfolg überhaupt zu meistern. "Ich denke, es wurde gut eingeschätzt, wie lange es dauern und wie viel es erfordern wird."