• 23. August 2019 · 14:02 Uhr

Formel-1-Arzt Ceccarelli: Leclerc schon jetzt mental stark wie Hamilton

Im exklusiven Interview mit Formel-1-Arzt Riccardo Ceccarelli erklärt der Italiener, wie Fahrer mental aufgestellt sind - Sebastian Vettel nimmt er in Schutz

(Motorsport-Total.com) - Wie wichtig ist die mentale Seite in der Formel 1? Charles Leclerc sei ein Beispiel dafür, wie mental stark bereits ein junger Fahrer sein kann, erklärt Formel-1-Arzt Riccardo Ceccarelli im exklusiven Interview mit 'Motorsport-Total.com'. Der Italiener arbeitet seit vielen Jahren mit dem Ferrari-Nachwuchsstar zusammen.

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Charles Leclerc hat hart an seiner mentalen Stärke gearbeitet Zoom Download

"Wir arbeiten vor allem mit jungen Fahrern. Charles Leclerc ist mit uns groß geworden, das gilt auch für Daniel Ricciardo und Robert Kubica", schildert Ceccarelli im Interview. Bereits im Alter von 13 oder 14 Jahren seien die heutigen Formel-1-Fahrer in seine Schmiede gekommen.

Mit Formula Medicine ist Ceccarelli bereits seit 1989 in der Formel 1 aktiv. In Ungarn feierte er seinen 500. Grand Prix. Sein Team betreut Fahrer sowohl körperlich als auch geistig mit speziell auf die Person zugeschnittenen Trainingsplänen. Mittlerweile verfügt die Firma über eine Datenbank mit über 1.000 Fahrern.

"Talent und Speed reichen heutzutage nicht mehr aus"

"Wir haben etwas herausgefunden", verrät er. "Im heutigen Motorsport-Zeitalter reichen Talent und Speed nicht mehr aus. Es reicht nicht mehr aus, wenn man vom Kopf her sehr weit ist. Es ist auch harte Arbeit notwendig, um die Grenzen auszuloten. Man muss Opfer bringen."

Vor allem müssen Fahrer jene Dinge lernen, die passieren, wenn der Helm nicht auf ist. "Die spielen eine viel größere Rolle - das körperliche Training, das Mentaltraining", zählt er auf. Manche Fahrer bringen zwar das nötige Talent mit, erklärt der Arzt, seien jedoch zu "faul", um an sich selbst zu arbeiten.

"Sie glauben, dass das ausreicht. Aber das reicht heute nicht mehr. Spätestens ab der Formel 3 oder der Formel 2 reicht es nicht mehr, wenn man sich nicht wirklich der Sache verschreibt und hart arbeitet", ist er überzeugt. Außerdem gibt es Fahrer, die weniger Talent mitbringen, durch Fleiß diesen Nachteil aber kompensieren können.


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Die "perfekte Mischung" kennt der Experte genau: Es sei am besten, wenn sich Talent, Speed, ein Gehirn, das auf natürliche Weise ökonomisch funktioniert, und Motivation und Zielstrebigkeit treffen. Wie sehr trifft diese Beschreibung auf den aktuellen WM-Führenden Lewis Hamilton zu?

"Ich habe nie mit ihm gearbeitet, daher kann ich das nur als Außenstehender beurteilen. Er ist ganz klar ein Riesentalent", hält Ceccarelli fest. Der fünffache Weltmeister besitze das nötige Selbstvertrauen, die Ruhe und sei in der Lage, mit Herausforderungen klarzukommen. Sein Gehirn arbeite sehr ökonomisch.

"Ein bisschen wie Schumacher", erinnert sich der Italiener an den Rekordchampion. Auch der Deutsche konnte Situationen gut erfassen und darauf richtig reagieren, auch wenn er am Limit war, weil er in seiner Denkleistung noch Kapazitäten frei hatten, um Dinge zu analysieren, so Ceccarelli.

Hamilton erinnert an Michael Schumacher

Hamilton war allerdings nicht von Anfang an in dieser Position. In seinem ersten WM-Jahr 2007 verlor er einen WM-Titel, "den er beinahe schon in der Tasche hatte". Auch 2008 machte es der Brite damals gegen Felipe Massa äußerst spannend, erst im letzten Rennen krönte er sich zum Champion.

"Der junge Hamilton war extrem schnell, aber nicht in der Lage, mit diesen Situationen richtig umzugehen. Heute kann er das - weil er über 30 ist. Das hat damit zu tun, dass sich das Gehirn entwickelt, es reift. Wenn man jung ist, braucht das Gehirn viel mehr Energie. Später lernt man automatisch, wie man diesen Energieverbrauch optimiert. Das nennt sich Reife."

Aus diesem Grund seien Piloten im Alter von 27 oder 28 Jahren reifer und am Zenit ihres Schaffens. Ceccarelli will aber schon junge Einsteiger im Alter von 14 oder 15 Jahren dazu bewegen, sich mit dieser Thematik, der mentalen Stärke, auseinanderzusetzen, "damit sie dann schon mit 20, 21 oder 22 Jahren so weit sind wie Hamilton jetzt."


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Genau dies habe Charles Leclerc mit seiner Hilfe geschafft, glaubt der Experte. Der Ferrari-Pilot sei im Kopf "fünf oder sechs Jahre älter als sein tatsächliches Alter", schätzt er. "Meiner Meinung nach hat er eine Reife, die Fahrer sonst erst erreichen, wenn sie 27 oder 28 Jahre alt sind."

Der Monegasse selbst sprach bereits nach der Enttäuschung in Bahrain über seine mentale Stärke. Das sei zu Beginn noch seine größte Schwäche gewesen. "Heute habe ich das Gefühl, dass die mentale Seite wahrscheinlich meine Stärke ist."

"Ich bin froh, dass ich so lange daran gearbeitet habe." Er präzisiert: "Meine größte Arbeit habe ich dabei erledigt, weiterhin so konzentriert zu bleiben, dabei aber weniger Energie zu verschwenden." Durch Training könne man diese Reife bereits vorzeitig erlangen, glaubt der Formel-1-Arzt.

Vettel unter Druck zu schwach? "Leute sind zu kritisch"

Ihn hat beeindruckt, wie sich Leclerc bereits in seinem ersten Formel-1-Jahr bei Sauber geschlagen hat. Nach drei Rennen konnte er seine Probleme mit dem Set-up lösen. "Er hat das Auto auch nicht überfahren und war trotzdem schnell. Und er war unter großem Druck, denn er wusste, dass er die Chance auf einen Ferrari-Vertrag hatte."

Dennoch blieb der heute 21-Jährige gelassen. Er zeigte in Baku mit dem sechsten Platz auf und wusste bereits vor Monza, dass er 2019 wohl im roten Renner neben Sebastian Vettel sitzen würde. "Er brauchte also die Ergebnisse, hat aber nie gestrauchelt. Das ist sehr wichtig."

Leclercs deutscher Teamkollege scheint sich in der aktuellen Saison unter Druck immer wieder Fehler zu erlauben. Doch Ceccarelli nimmt Vettel in Schutz: "Wir dürfen bei Sebastian Vettel nicht vergessen, dass er vier WM-Titel gewonnen hat. Er ist ein Top-Fahrer, ein fantastischer Fahrer. Die Leute gehen zu kritisch mit ihm um."


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Niemand sei schließlich perfekt. "Kann man zu einem viermaligen Weltmeister sagen, dass er sich einen Psychologen suchen sollte?", fragt er sich und meint: "Er braucht keinen Psychologen. Vielleicht ist es aber - wie bei jedem Menschen - möglich, an der Optimierung seines Gehirns zu arbeiten."

Konkret meint er damit, dass er mental unter Stress und Druck besser agieren kann. "Da geht es aber nur um die Optimierung." Ceccarelli warnt außerdem davor, mentales Training mit klassischer Psychologie in Verbindung zu bringen. Psychologen würden sich um Menschen kümmern, die schwach seien.

"Vettel ist nicht schwach. Er ist stark. Man kann es sich so vorstellen: Vettel ist auf einem 100-Meter-Sprint der Zweitbeste der Welt. Er kommt zwei Zehntelsekunden hinter Usain Bolt ins Ziel. Und da kann man dann etwas tun, damit er Usain Bolt schlägt", bringt er ein Beispiel. "Wir versuchen, im Gehirn eine Verbesserung herbeizuführen, um den letzten Millimeter zu erreichen."

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