Werde jetzt Teil der großen Community von Formel1.de auf Facebook, diskutiere mit tausenden Fans über die Formel 1 und bleibe auf dem Laufenden!
Frauen in die Formel 1: Wie kann das klappen, Tatiana Calderon?
Die spannende Geschichte von Tatiana und Paula Calderon: Womit eine Frau im Motorsport zu kämpfen hat und warum es noch keine in der Formel 1 gibt
(Motorsport-Total.com) - Wenn am Sonntagnachmittag in Abu Dhabi das Hauptrennen der Formel 2 gestartet wird, dann könnte das möglicherweise das vorerst letzte Mal sein, dass eine Frau im Unterbau der Formel 1 am Grid steht. Tatiana Calderon geht für das tschechische Charouz-Team an den Start - und ist damit die Rennfahrerin, die derzeit am nächsten dran ist an der Königsklasse des Motorsports.
© Dutch Photo Agency
Tatiana Calderon ist eine der derzeit schnellsten Frauen im Motorsport Zoom Download
Im August dieses Jahres sorgte Formel-1-CEO Stefano Domenicali mit einer Aussage über die Chancen vom Frauen im Motorsport für Schlagzeilen. "Realistisch betrachtet gehe ich nicht davon aus, dass wir in den nächsten fünf Jahren ein Mädchen in der Formel 1 sehen werden", sagte er. Und legte noch einen drauf: "Es sei denn, es schlägt ein Meteorit auf der Erde ein."
Domenicali hat mit seiner Aussage im Kern wahrscheinlich recht. Derzeit gibt es keine junge Rennfahrerin, die unmittelbar davorsteht, den Sprung in ein Grand-Prix-Cockpit zu schaffen. Und der Italiener wollte damit wahrscheinlich auch gar nichts Böses. Ein lapidarer Kommentar - im Kern wahr, aber sehr unglücklich formuliert.
Warum, das erklärt etwa Sebastian Vettel so: "Mädchen sitzen da vielleicht am Frühstückstisch und sagen, dass sie Rennfahrerin werden möchten. Und dann hat der Vater vielleicht genau dieses Statement gelesen und sagt: 'Aber du magst doch andere Dinge. Warum fokussierst du dich nicht darauf?' Und dann fokussieren sie sich darauf."
Tatiana Calderon: Wer ist die einzige Frau in der Formel 2?
Eine, die ihren Traum, es eines Tages an die Spitze des Motorsports zu schaffen, trotz aller Widerstände nie aufgegeben hat, ist Tatiana Calderon. Eine 29 Jahre junge Frau aus Bogota in Kolumbien, die schon alles gefahren ist, was der Top-Motorsport zu bieten hat: die 24 Stunden von Le Mans, IndyCar, Porsche-Supercup, Formel 3 und, jetzt wieder, Formel 2.
Am 30. Oktober 2018 durfte sie sogar zum ersten Mal Formel 1 testen. Im Autodromo Hermanos Rodriguez in Mexiko-Stadt absolvierte sie für das Schweizer Sauber-Team einen Tag in einem C37, also jenem Auto, mit dem ein gewisser Charles Leclerc seine erste Saison in der Königsklasse des Motorsports bestritten hat.
Calderon schwärmt noch heute von jenen 37 Runden, die sie vor vier Jahren gefahren ist: "Die Formel 1 ist unglaublich. Du kannst mit dem Set-up für jede Kurve ein perfektes Auto bauen. Der Grip ist unvorstellbar. Die Fliehkräfte, die auf deinen Körper wirken, sind unfassbar." Und sie sagt: "Nach meinem Formel-1-Test fühlte sich jedes andere Auto schlechter an."
Wir treffen Calderon am Samstag am Rande des Grand Prix von Italien in Monza zum Interview, und es ist irgendwie passend, dass der Termin - mit Ausnahme des Autors dieser Zeilen - ein rein weiblicher ist: Tatiana Calderon wird begleitet von ihrer Schwester Paula, die sich um ihre Karriere kümmert, und die Fotos knipst Antonia Vandersee von circuitpics.de.
Rettung durch Popstar-Sponsor
Obwohl Calderon Stand heute nicht weiß, wie es mit ihrer Karriere weitergeht, hat sie den Traum von der Formel 1 noch nicht aufgegeben: "In diesem Leben ist nichts unmöglich. Das habe ich dieses Jahr gelernt. Ich hätte nie gedacht, noch einmal in die Formel 2 zurückzukehren, mit einer Superstar-Sängerin aus Kolumbien als Sponsor. Aber ich bin hier. Es passiert wirklich!"
Die Geschichte klingt unglaublich, ist aber wahr. Calderon fuhr schon 2019 Formel 2, unter anderem gegen Konkurrenten wie Nyck de Vries, Nicholas Latifi, Guanyu Zhou und Mick Schumacher. Sie ging für das Arden-Team an den Start, und - auch das gehört zur Wahrheit ihrer Geschichte dazu - belegte ohne einen einzigen Punkt den 22. Platz in der Meisterschaft.
Doch sie hatte ihre Duftmarke gesetzt, etwa in Baku, wo sie sich als erste Frau, die bei einem Formel-2-Rennen in Führung lag, in die Geschichtsbücher eintrug. Trotzdem fand sie kein Cockpit mehr für die Formel-2-Saison 2020, und damit schien sie vom Weg, der irgendwann in die Formel 1 führen soll, erstmal abgekommen.
Dann passierte im Sommer 2022 etwas Unverhofftes: "Ich bin IndyCars gefahren, und das Team hat den Hauptsponsor verloren. Es war kein Geld mehr da, um weiterzumachen. Wir haben alles versucht, irgendwo ein Cockpit zu finden. Aber meine Schwester kennt jemanden aus dem Musikbusiness. Drei Tage später folgte mir Karol G auf Instagram!"
Die Helene Fischer des Latin-Pop
Karol G ist ein kolumbianischer Popstar, überwiegend im spanischsprachigen Raum bekannt und daher hierzulande wahrscheinlich den wenigsten Motorsportfans ein Begriff. Um es ganz plakativ zu beschreiben: Man könnte sagen, Karol G ist die Helene Fischer des Latin-Pop. Und eine Frau.
Calderon schickte ihr, nachdem ihre Schwester einen Kontakt zum Management hergestellt hatte, einfach eine Privatnachricht auf Instagram. Schnell stellten die beiden kolumbianischen Frauen fest, dass sie einiges gemeinsam haben: "Sie wird auch von ihrer Schwester gemanagt", erzählt Calderon, und: "Sie meinte, sie will mich unterstützen. Eine Frau, die einer Frau hilft."
Ellen Lohr: Eine Frau, die für Frauen kämpft
Karol G ist nicht die einzige Frau, die Calderons Karriere im Motorsport unterstützt. Es gibt da auch noch Ellen Lohr, bis heute die einzige Frau, die je ein DTM-Rennen gewonnen hat. Sie setzt sich in der Frauenkommission der FIA für junge Rennfahrerinnen ein, und sie ist Motorsportchefin bei AVL, einem großen Player im internationalen Motorsport.
"Ellen", schwärmt Calderon, "war einfach unglaublich. Sie hat mehr getan als jede andere Frau im Motorsport, die ich kenne. Sie hat mir dabei geholfen, Türen zu öffnen, sie hat mir geholfen, Zeit im Simulator zu bekommen und die Ressourcen von AVL zu nutzen. Sie war immer aktiv dabei, mir bei der Suche nach Teams zu helfen, die besten Möglichkeiten zu finden."
"Sie weiß, was es braucht, sie weiß, wie hart dieses Umfeld manchmal ist. Jemanden wie sie zu haben, dem ich vertrauen kann, ist für mich ungeheuer wertvoll. Sie ist ein Vorbild. Und für sie ist es ein Anliegen, mehr Frauen in den Motorsport zu bringen. Sie hat so viel für mich getan", zeigt sich Calderon dankbar.
Formel 2: Das Märchen von den Einheitsautos
Es wäre ein Leichtes, auf die Ergebnislisten der Formel 2 zu schauen und zu sagen: "Okay, Tatiana Calderon also. Ein elfter Platz in Le Castellet 2019, seit dem Comeback 2022 noch nie besser als 18." Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Die andere ist: Die Geschichte, dass in der Formel 2 alle mit gleichem Material fahren, ist nichts anderes als ein Märchen.
Das beste Beispiel dafür, gerade aus deutscher Sicht, ist Timo Glock. Er fuhr die ersten neun Rennen der Saison 2006 für das Team BCN. Einmal Vierter im Sprint in Imola (mit gestürzter Startaufstellung), einmal Siebter in einem Hauptrennen. Aber siebenmal nicht in den Punkten.
Dann wechselte Glock ab Silverstone ins iSport-Team von Paul Jackson, fuhr gleich im ersten Rennen auf Platz 2 und gewann im restlichen Saisonverlauf genauso viele Rennen wie Champion Lewis Hamilton, nämlich zwei. Das zeigt, wie unterschiedlich die Konkurrenzfähigkeit der Teams auch in einer vermeintlichen Einheitsserie ist.
"Die Set-up-Philosophien", nickt Calderon, "sind sehr unterschiedlich. Felipe Drugovich (Formel-2-Meister der Saison 2022; Anm. d. Red.) ist vergangenes Jahr für Virtuosi gefahren und dann zu MP gewechselt. Und auf einmal fährt er vorn mit. Einfach weil manche Autos besser zu deinem Fahrstil passen."
"Es ist nicht so, wie alle glauben, dass die Autos alle gleich sind. Sie sind sehr, sehr unterschiedlich. Manchmal steigst du von einem Auto ins andere um, innerhalb derselben Serie, und du wunderst dich, wie das das gleiche Chassis sein kann. Die Unterschiede sind enorm."
Unterschiede zwischen Frau und Mann
Unterschiede, das ist eine unbestreitbare Wahrheit, gibt es auch zwischen Frau und Mann. Calderon nickt: "Der Körper einer Frau ist anders als der eines Mannes. Es ist keine Limitierung, sondern einfach anders." Ein Beispiel: "Ich muss mehr mit Gewichten trainieren, weil wir aufgrund unserer Hormonzusammensetzung nicht so schnell Muskeln aufbauen wie Männer."
"Also müssen wir härter und mehr trainieren, was den körperlichen Aspekt betrifft. Aber es ist möglich. Es ist nur sehr viel Training, sehr viel richtige Ernährung, sehr viel Wissen über den Körper und über die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Ich baue vielleicht keine Muskelberge auf. Aber ich baue die richtigen Muskeln auf."
Ihre Schwester Paula nickt: "Es ist schwierig. Aber mit dem richtigen Training ist es nicht unmöglich. Mädchen haben Schwierigkeiten in manchen Kurven und sind besser in anderen. Dann musst du die Daten anders lesen, um zu verstehen, dass du die gleichen Rundenzeiten fahren kannst - aber auf andere Art und Weise."
Was vielen Männern nicht bewusst ist: Eine Frau benötigt in einem Formelauto andere Voraussetzungen, um konkurrenzfähig sein zu können, als ein Mann. Eine andere Sitzposition, eine andere Gewichtsverteilung, eine andere Pedalstellung. "Es braucht ein anderes Set-up. Dafür braucht es aber eine gewisse Aufgeschlossenheit der Teams", erklärt Paula Calderon.
Ein erster Schritt, um Chancengleichheit für Frauen in der Formel 2 zu erreichen, wäre ein Chassis, das nicht nur spitz auf die Bedürfnisse von Männern zugeschnitten ist. Und eins mit Servolenkung. Die gibt's nämlich in der Formel 1, aber nicht in der Formel 2. Themen, die möglicherweise beim Formel-2-Auto der nächsten Generation berücksichtigt werden.
Schwerer Unfall am Tag nach dem Interview
Derzeit ist Calderons größte Sorge aber nicht die Zukunft von Frauen im Motorsport, sondern ihr eigener körperlicher Zustand. Einen Tag nach unserem Interview in Monza wurde sie im Hauptrennen am Sonntag in eine Kollision mit Oliver Caldwell verwickelt, bei dem sie sich einen Knochenbruch an ihrer rechten Hand zuzog.
Der nächste Rückschlag. Aber Calderon ist eine toughe Frau. Ihr freundliches Lächeln, ihr wohlerzogener Charme und ihre rehbraunen Augen täuschen darüber gut hinweg. Wenn sie etwas wirklich will, erzählt sie mit fest entschlossener Stimme, dann ist sie bereit, dafür zu kämpfen. 24 Stunden am Tag. Bis sie es hat.
Und so juckte es sie zunächst wenig, dass ihre Hand gebrochen war. Vielmehr ärgerte sie sich darüber, dass ihr durch den Unfall in Kurve 1 in Monza die Chance geraubt wurde, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Im Interview knurrt sie: "Im Nachhinein wäre dieses Rennen - mit allem, was passiert ist - eine gute Möglichkeit gewesen, Punkte zu sammeln."
Calderon zeigt Zähne: "Bullshit!"
Ihr Unfallgegner Caldwell habe, so Calderon, "Bullshit erzählt, dass ich auf den Randstein gekommen war und ihn getroffen habe. Das war absolut nicht so! Rennunfälle in Kurve 1 werden laxer gehandhabt, und die Kommissare hatten keine guten Kameraperspektiven. Also sagten sie, es ist ein Rennunfall, wir bestrafen keinen von euch. Dabei hat er einfach nicht geschaut, wo ich bin."
Calderons Ärger war noch im Auto so groß, dass sie von Schmerzen in der rechten Hand kaum etwas merkte. Erst später wurde ihr bewusst, dass da was nicht stimmen kann. Ins Medical Center wollte sie trotzdem nicht. Sie würde sich schon irgendwie durchbeißen. Aber die Chance verpassen, im Hauptrennen mitzufahren? No Way!
"Ich legte ein bisschen Eis auf und dachte, es würde für Sonntag passen. Aber am Sonntag war die Hand total angeschwollen", erinnert sie sich. "Ich probierte größere Handschuhe, aber keiner hat gepasst. Das Team meinte dann, ich soll mich lieber röntgen lassen. War mir gar nicht recht. Am Sonntagmorgen habe ich erfahren, dass der Knochen gebrochen ist und ich nicht fahren kann."
"Ich hatte gar nicht so arge Schmerzen. Ich dachte, wenn ich die Hand bewegen kann, kann sie nicht gebrochen sein. Ich war ein bisschen besorgt, dass es am Sonntag ein bisschen mühsam werden könnte, aber ich hätte nie gedacht, dass die Hand gebrochen ist. Sonst hätte ich Caldwell noch viel mehr angeschrien", lacht sie.
Aber: "Du weißt nie, warum die Dinge im Leben so passieren, wie sie passieren. Ich habe durch meine Verletzung einiges gelernt." Zum Beispiel, dass sie jetzt auch mit der linken Hand schreiben kann. "Vielleicht", sagt sie, "hilft es mir in Zukunft sogar, nicht mehr nur eine dominante Hand zu haben."
Lehrreiche Rehabilitation nach dem Unfall
Sechs Wochen nach dem Unfall in Monza sind wir wieder mit Calderon verabredet. Diesmal nicht persönlich, sondern via Zoom. Von Depressionen angesichts des erneuten Karriererückschlags keine Spur. "Ich war nach dem Unfall sehr enttäuscht", gibt sie zu. "Vor allem, weil es so ein verrücktes Rennen war, in dem es schon gereicht hätte, einfach ins Ziel zu kommen."
Aber: "Ich versuche immer, das Positive zu sehen. Es bringt nichts, negativ zu sein, aber natürlich war ich frustriert. Ich konnte viele Alltagsdinge nicht mehr tun, und ich bin kein sehr geduldiger Mensch. Ich war verärgert, weil ich so viel Energie für ganz einfache Dinge aufwenden musste. Es war eine echt schlechte erste Woche."
Robert Kubica hat einmal erzählt, wie nach seinem Rallyeunfall die einfachsten Dinge zur Herausforderung wurden. Zum Beispiel, sich auf der Toilette den Hintern abzuwischen! Calderon muss lachen. Sie kenne das. Die Haare machen, sie zu trocknen, sich ein bisschen Obst schneiden mit einem Messer: Alles plötzlich nicht mehr so einfach.
Aber deswegen den Kopf in den Sand zu stecken, kam für sie nicht in Frage: "Irgendwann legte ich einen Schalter um und dachte mir: 'Jetzt bereitest du dich noch besser vor als sonst!' Ich sehe es als Chance zu wachsen. Die Dinge passieren meistens aus einem Grund. Du musst lernen, aus so etwas zu lernen."
Also begann sie die Dinge zu trainieren, die sie trainieren konnte, und das härter und ehrgeiziger als je zuvor. Sie checkte bei 321 Perform ein, knapp eine Autostunde von Genf entfernt, hinter der französischen Grenze, strampelte stundenlang auf dem Ergometer, stemmte Gewichte mit der linken Hand. Nach einer Woche konnte sie immerhin schon wieder eine Wasserflasche selbst öffnen.
Für Calderon nicht neu. Auch 2018, vor ihrem Formel-1-Test, hatte sie sich einem anstrengenden Trainingsregime unterzogen. Bei Erwin Göllner in Salzburg, wo schon Superstars wie Jacques Villeneuve trainiert haben. Göllner hat in seinem Haus einen Simulator stehen, bei dem die Nackenmuskulatur im Fokus steht. Calderon nennt ihn "die Foltermaschine".
Wie damals in Kolumbien alles angefangen hat
Angefangen hat ihre Geschichte viel früher. Ihre Schwester Paula bekam mit fünf Jahren von ihrem Vater ihr erstes Moped geschenkt. Papa Calderon war beruflich viel unterwegs. "Er hat uns dann oft ein kleines Flugzeug mitgebracht oder ein Auto. Wir liebten den Geruch von Benzin. Wegen ihm", erinnert sich die ältere der beiden Calderon-Schwestern.
Es gibt nämlich auch noch einen Bruder, und der liebte alles, was sich bewegt und bewegen lässt. Paula Calderon erzählt aus ihrer frühen Jugend: "Eines Tages nahm mich ein Freund auf die Kartbahn mit, und ich liebte es! Meinen Freunden wurde es irgendwann zu langweilig, mitzukommen. Also habe ich Tatiana mitgenommen."
Paula war damals 16, Tatiana erst neun Jahre alt. Die beiden kauften sich ein Ticket für fünf Minuten, und von dem Moment an war es geschehen um die kleine Tatiana: "Ich verliebte mich sofort in die Geschwindigkeit und das Adrenalin. Von da an waren wir nach der Schule fast jeden Tag dort. Auf der Kartbahn hat etwas Klick gemacht."
Die Rolle von Juan Pablo Montoya
Das war 2002. "Es war die Zeit, als Juan-Pablo Montoya Formel 1 gefahren ist", erinnert sie sich. "Das ganze Land ist sonntags früh aufgestanden, um die Rennen zu sehen. Er war mein Vorbild, und von da an wollte ich Formel-1-Fahrerin werden."
Montoya spielt in Calderons Geschichte, auch das wissen viele nicht, eine Rolle. Er und sein Vater haben Easy-Kart nach Kolumbien gebracht. "Manchmal hat er Charityrennen organisiert, zu denen er Formel-1- oder IndyCar-Fahrer eingeladen hat. Die hatten dann ein Rennen, und wir sind am gleichen Wochenende gefahren", erzählt Calderon.
Irgendwann landete sie in einem der Rennen auf dem Podium, und den Pokal überreichte ihr "JPM" persönlich. Das war das erste Treffen. 2014 fuhr sie gerade eine Formel-Winterserie in Florida, und es zeichnete sich ab, dass der Weg nach Europa führen würde. "Da haben wir uns dann öfter getroffen, und er hat angefangen, mir Tipps und Ratschläge zu geben."
Aufgewachsen ohne mädchenhafte Klischees
Calderons Eltern hatten zu Beginn keine große Freude damit, dass sich die beiden Töchter dazu aufmachen wollten, ausgerechnet im Motorsport Karriere zu machen. Kinder sind im dem Alter oft wankelmütig, aber Calderon war schon damals entschlossen: "Ich wusste sofort, dass es das ist, was ich tun will. Ich musste nur noch meinen Vater überreden!"
"Meine Eltern haben mich immer getestet, um herauszufinden, ob ich etwas wirklich will. 'Du musst die Beste in der Schule sein, sonst darfst du am Wochenende nicht auf Partys gehen!' So testeten sie ab, wie sehr ich etwas wollte. Irgendwann haben sie begriffen, dass die Rennstrecke das ist, was ich will. Also haben sie mir ermöglicht, zu sehen, wie weit ich komme."
"Ich war immer schon sehr ehrgeizig. Mein Bruder ist zwei Jahre jünger als ich, und wir machten aus allem einen Wettkampf. Selbst wenn es nur darum ging, wer den Knopf im Aufzug drückt. Meine Eltern haben mich immer darin unterstützt, wenn ich etwas ausprobieren wollte. Und weil ich mich immer mit meinem Bruder messen wollte, bekam ich auch ein Tretauto, wenn er eins bekam."
"Sie haben mich nicht anders behandelt. Und sie konnten schon sehen, dass meine Leidenschaft fürs Rennfahren sehr groß ist. Ich war von Anfang an ganz gut. Es hat mir gefallen, mich jede Runde neu herauszufordern und zu versuchen, immer schneller zu werden. Irgendwann stellte sich heraus, dass ich das ganz gut im Gefühl habe."
Dass Calderon heute Rennfahrerin ist, hat viel damit zu tun, dass sie vom Elternhaus nicht in Klischees gedrängt wurde. Ihre Schwester Paula findet: "Warum müssen Mädchen mit Puppen spielen und Jungs mit Autos? Die Situation, die wir heute im Motorsport haben, haben wir wegen dem, was wir unseren Kindern beibringen. Diese Veränderung geht Hand in Hand."
Die Geschichte mit den gebrauchten Reifen
Also Motorsport. Die Geschichten, die die beiden Schwestern erzählen, ähneln denen, die auch ein Michael Schumacher früher erzählt hat. "Wir sind drei Tage mit dem gleichen Reifensatz gefahren", lacht Calderon zum Beispiel. "Ich war langsamer als die anderen Jungs, weil wir die älteren Reifen hatten. Da habe ich schon realisiert, wie teuer Motorsport werden kann."
"Im Kartsport haben mich zu Beginn meine Eltern unterstützt. Sie haben versucht, das Geld für mich aufzutreiben. Das ging am Anfang noch mit Sponsoren aus Kolumbien. Als ich ins Formelauto wechselte, ging es mit Familiengeld allein nicht mehr. Wenn du aus Kolumbien weg und die Dollars auf den Tisch legen musst, fängt es an, kompliziert zu werden."
Karriere im Motorsport: Ein teures Unterfangen
Calderon gibt zu: "Manchmal hat es geholfen, eine Frau zu sein, anders zu sein." Trotzdem sei es immer schwierig gewesen, das nötige Kleingeld für die Rennfahrerei aufzutreiben. Laut ihrer Schwester werde im Motorsport "viel über Inklusion und Diversität geredet. Aber wenn das Geld auf den Tisch gelegt werden muss, sieht es meistens anders aus."
"Es ist uns schwergefallen, Geld zu finden, und das hat es schwer gemacht, für Tatiana ein stabiles Umfeld zu schaffen, dass sie zum Beispiel auch mal zwei Jahre im gleichen Team fahren kann. Dabei wäre diese Stabilität so wichtig. Aber das wurde immer dadurch diktiert, was wir an Geld finden konnten."
Der kleinen Tatiana war in ihren jungen Jahren noch nicht bewusst, dass sie anders ist. "Darüber habe ich lange nicht nachgedacht", gibt sie zu. "Bis es anfing, ernster zu werden, und einige Türen für mich verschlossen blieben. Da fragst du dich schon: 'Warum behandeln die mich nicht genauso?'"
"In der Schule habe ich immer mit den Jungs Fußball gespielt, weil ich Fußball mochte. Denen war es egal. Den Jungs war nur wichtig, ob ich gut genug bin oder nicht. Am Anfang spielte es keine Rolle. Aber dann wurde mir klar: 'Okay, da gibt es einen Unterschied.' Manchmal fiel es mir schwer, meinen Wert zu beweisen, um eine Chance zu erhalten und Türen zu öffnen. Es ist nicht gleich."
Frau sein im Motorsport: Nicht nur Nachteil
Daraus, dass sie die Karte spielt, eine Frau zu sein, was zumindest in der medialen Aufmerksamkeit auch ein Vorteil sein kann, macht sie keinen Hehl: "Natürlich nutze ich jeden Vorteil, den ich habe - weil ich ja auch viele Nachteile habe. Du musst deine Stärken bestmöglich einsetzen, um die besten Chancen zu kriegen und dein Potenzial zeigen zu können."
Zumal die Vorteile einer Frau im Motorsport, die von den Männern oftmals betont werden, von den Nachteilen bei weitem überwogen werden. Niemand wird kritischer beurteilt als eine, die aus der Masse heraussticht. Calderon ärgert sich: "Einige Jungs sind seit Jahren in diesem Paddock und fahren auf dem 20. Platz herum. Aber es ist den Leuten egal, weil er das Geld bringt."
Wie Männer im Motorsport Frauen subtil diskriminieren
Diskriminierung im Alltag muss eine Frau im Motorsport offenbar aushalten. Es gibt immer wieder den einen oder anderen, der nicht weiß, wo die Grenzen des Anstands liegen: "Manchmal wollen Männer mehr als professionelle Zusammenarbeit. Aber da muss man Grenzen setzen. Ich versuche, dem auszuweichen. Du musst smart damit umgehen. Ja, das gibt's", sagt Calderon.
Damit hat sie gelernt umzugehen. Doch häufig findet Diskriminierung von Mädchen im Motorsport viel subtiler statt. Sie erinnert sich: "Seit ich Kart fahre, höre ich am Streckenrand Dinge wie: 'Dieses langhaarige Mädchen tritt dir in den Hintern, was soll das?' Solche Kommentare gibt es ständig. Den Leuten ist die Wirkung, die solche Kommentare haben, oft nicht bewusst, glaube ich."
Genau wie der Kommentar von Domenicali am Beginn dieser Geschichte. Vettel, findet Calderon, habe mit seinem Konter auf den Formel-1-CEO "hundertprozentig" recht, denn: "Damit sagen sie ja, dass du nicht willkommen bist, dass es sehr unwahrscheinlich ist. Manchmal musst du etwas wirklich sehen, um daran zu glauben."
Warum Domenicalis Aussagen kontraproduktiv waren
"In Deutschland hattet ihr Schumacher und Vettel. Das waren Vorbilder, denen die Jungs nachgeeifert haben. Wenn du siehst und wenn dir eingeredet wird, dass es keine Frau in der Formel 1 gibt, dann denkst du vielleicht: 'Vielleicht sollte ich die Finger davon lassen, vielleicht sollte ich es nicht versuchen.' Ich finde, die Botschaft hatte etwas Entmutigendes."
Immerhin will die Formel 1 jetzt handeln. Domenicali hat angekündigt, dass er dabei helfen möchte, mehr Frauen in die Formel 3 und die Formel 2 zu bringen. Es gibt auch Gerüchte, dass nach dem finanziellen Kollaps der W-Serie eine neue Frauenmeisterschaft initiiert werden könnte. Wobei das, findet Calderon, der falsche Weg ist.
Dass sie nie in der W-Serie gefahren ist, hat einen Grund: "Du musst dich mit den Besten messen, unabhängig vom Geschlecht, um zu sehen, wo du besser werden musst. Wenn du keinen Druck hast, wirst du nicht besser. Also musst du in die besten Serien, um zu verstehen: 'Okay, daran muss ich arbeiten, daran auch.'"
W-Serie: Warum Calderon nicht viel davon hält
"Die W-Serie war gut, um Aufmerksamkeit für weibliche Rennfahrer zu schaffen. Aber wenn sie funktioniert hätte, wäre Jamie Chadwick irgendwann in eine andere Serie aufgestiegen und wäre nicht drei Jahre dort gefahren. Das bedeutet, dass du nicht weiterkommst. Ich glaube nicht, dass die W-Serie die Probleme gelöst hat, die es gibt."
Zumal die W-Serie auch eine Heimat geschaffen hat für junge Rennfahrerinnen, die woanders keinen Platz gefunden haben. Es gab dort eine Kostenübernahme und sogar eine moderate Gage. Laut Calderon der falsche Weg. Der Weg in die Formel 1 sollte auch für junge Frauen nicht bequem sein, sondern genauso steinig wie für junge Männer, findet sie.
Ihr Argument: "Du darfst dich nie wohlfühlen. Das ist gefährlich. Du musst in der Formel 3 fahren und lernen, wo du besser werden musst, was dir noch fehlt. Und so fehlen dir zwei Jahre an Erfahrung, die du woanders hättest sammeln können."
"Lieber weiß ich, wo ich stehe, anstatt gegen andere Mädchen Rennen zu gewinnen. Wenn das Auto leichter zu fahren ist als ein Formel-3-Auto, dann baue ich nicht die richtigen Muskeln auf, das richtige Training. Die Vorbereitung muss schon lang davor anfangen."
2023 eine weitere Chance in der Formel 2?
Wie es mit ihrer Karriere weitergeht, das weiß Calderon noch nicht. In Abu Dhabi sollen weitere Gespräche geführt werden. Dass sie 2023 noch einmal die Chance erhält, in der Formel 2 durchzustarten, ist nicht ausgeschlossen. "Wir müssen sehen, welche Unterstützung wir finden können und welche Möglichkeiten sich bieten", sagt sie.
"Die Formel 2 ist eine großartige Meisterschaft auf wirklich hohem Niveau. Du hast zwei Runden im Qualifying. Das muss sitzen. So wirst du zu einem tollen Rennfahrer. Ich mag Formelautos und würde gern so lang wie möglich im Formelsport bleiben. Die beste Strategie ist, zu zeigen, was du kannst, wann immer du die Chance dazu kriegst. Ich hoffe, ich werde eine Chance dazu bekommen."
"Ich glaube daran, dass sich Frauen genauso in diesem Sport durchsetzen können, wenn man ihnen die richtigen Werkzeuge gibt. Ich hatte Riesenglück, Rennen auf der ganzen Welt fahren zu dürfen: Formel 3, Formel 2, Super Formula, IndyCar. Ich habe ein Formel-1-Auto getestet und bin die 24 Stunden von Le Mans und Daytona gefahren."
"Ich hoffe, dass ich mit meiner Geschichte die nächste Generation inspirieren kann. In einem Sport, in dem wir das dringend brauchen, dass mehr Frauen gemeinsam mit den Männern antreten", sagt Calderon. Und hofft, dass es eines Tages doch noch klappt mit dem Traum von der Formel 1. Wenn schon nicht für sie, dann zumindest für eine andere junge Frau.