Weltmeister Lewis Hamilton: Die Diva war 2017 der Silberpfeil
Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton im Porträt: Wie er dieses Jahr vom Bad Boy zum Mr. Fairplay wurde und wieso ihn sein Rockstar-Lifestyle nicht bremst
(Motorsport-Total.com) - Jahrelang musste Lewis Hamilton zusehen, wie Sebastian Vettel Titel um Titel gewinnt und an ihm vorbeizieht. Doch nun hat es der britische Mercedes-Superstar ausgerechnet im direkten Duell mit dem Ferrari-Piloten geschafft, seinen vierten WM-Titel zu holen - und damit nicht nur mit Vettel gleichzuziehen, sondern auch mit Legende Alain Prost.
"Lewis hat in diesem Jahr brillante Leistungen gezeigt, ganz besonders seit der Sommerpause", schwärmt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff. "Seitdem fuhr er in einer eigenen Liga."
Es ist ein WM-Triumph, wie ihn sich der 32-jährige Brite gewünscht hatte: Nach der schmerzhaften Niederlage gegen seinen Erzfeind und Teamkollegen Nico Rosberg siegte er dieses Jahr vor allem dank seiner fahrerischen Extraklasse. Von den Launen vergangener Jahre war dieses Jahr nichts zu spüren - die Diva war stattdessen sein Silberpfeil. Dazu kommt, dass er mit Vettel gegen den erfolgreichsten Piloten der Gegenwart triumphierte - in einem Ferrari. Das ist auch für das Ego gut.
Wie Hamilton das Bad-Boy-Image loswurde
Dennoch lassen sich auch dieses Jahr typische Muster bei Hamilton erkennen: Nach einer Achterbahnfahrt in der ersten Saisonhälfte eskalierte die Feindschaft in Baku, als ihm Rivale Vettel nach einer unglücklichen Kollision am Ende der Safety-Car-Phase mit voller Absicht ins Auto fuhr.
Der Rammstoß schien Hamilton, der aus der Reibung mit einem Konkurrenten Kraft gewinnt, so richtig aufzuwecken. "Er braucht einen Feind, manchmal mehr als einen. So tickt er", bestätigt Wolff. Und als sich die Formel-1-Welt auf Vettel einschoss, nutzte Hamilton die Gelegenheit, sein im Duell gegen Rosberg entstandenes Bad-Boy-Image loszuwerden.
Highlight war das Manöver in Ungarn kurz vor der Zielflagge, als er seinem Teamkollegen Valtteri Bottas vorbeiließ. Davor hatte dieser dem Briten auf Befehl der Box den Vortritt gelassen, damit auch er eine Chance hat, sein Glück im Kampf gegen die Ferrari zu suchen. Dass Hamilton bei seinem Manöver riskierte, auch von Max Verstappen überholt zu werden, war dem Mercedes-Aufsichtsratvorsitzenden Niki Lauda zu viel der Fairness. "Das Punkte herschenken muss aufhören, denn jeder Zähler kann am Ende entscheiden", schimpfte der Österreicher, der selbst 1984 nur mit einem halben Punkt Vorsprung gegen Prost Weltmeister wurde.
Edler Ritter oder Straßenköter?
"Das war eine Entscheidung des Herzens", meinte Hamilton. "Und ich stehe zu meinem Wort. Außerdem will ich die WM auf die richtige Art und Weise gewinnen." Hamilton, der edle Rennfahrer, der sich nicht im Graubereich zwischen fair und unfair bewegt? Ein in den vergangenen Jahren noch schwer vorstellbares Bild, als der "Straßenköter", wie ihn Ex-Formel-1-Pilot Gerhard Berger einmal nannte, im Duell mit Rosberg gerne austeilte. Und auf seine Wurzeln in der rauen Vorstadt hinwies.
"Ich weiß, was Härte bedeutet - auf der Strecke und im Leben", stellte Hamilton gegenüber der 'Welt' klar. "Wissen Sie eigentlich, wie hart ich und meine Familie kämpfen mussten, um da hinzukommen, wo wir jetzt sind? Ich komme aus dem Nirgendwo. Auf diesem Weg gab es eine Menge Probleme und Schwierigkeiten."
Für Nettigkeiten sei da kein Platz gewesen: "Glauben Sie doch nicht, dass ich auch nur ein einziges Rennen mit der Vorstellung gehe, ich sei ein lieber, netter Junge. Muhammad Ali war nie so. Tiger Woods nicht. Schumacher oder Senna oder Lauda auch nicht. Alle großen Sportler, die ich bewundere, haben sich genommen, was sie wollten. So musst du sein. Aber du musst es mit Stil und Anstand machen."
Nach der Sommerpause kam die Wende
Genau das hat er tatsächlich in der zweiten Saisonhälfte getan - mit Ansage: Die Siegesserie, die er vor dem Spa-Wochenende ankündigte, setzt er in die Tat um und triumphierte hintereinander in Belgien, in der Ferrari-Heimat Italien, wo er ausgerechnet die WM-Führung erstmals in dieser Saison an sich riss, und in Singapur. Und auch der zweite Platz in Malaysia hinter Verstappen war in Anbetracht der Mercedes-Probleme wie ein Sieg.
Ein Stallcrash (Singapur) sowie Defekte in Qualifying (Sepang) und Rennen (Suzuka) bei Vettel zeigten, dass der Druck an Ferrari nicht spurlos vorüberging und sorgten schließlich dafür, dass das Pech des Widersachers Hamilton in die Hände spielte. Eine ungewohnte Situation für den Mercedes-Star, denn dem wurde in jungen Jahren nicht viel geschenkt.
Schwierige Kindheit zwischen Drill und Hänseleien
Als Kind war der Brite, der nach Leichtathletikikone Carl Lewis benannt wurde, ein Außenseiter, er wurde von seinen Schulkameraden gehänselt und schikaniert. Sein Vater scheute währenddessen keine Mühen, um aus seinem Sohn einen Modellathleten zu formen: Er übte drei Jobs gleichzeitig aus, um die Rennkarriere zu finanzieren, und drillte den kleinen Lewis. Anerkennung verdiente sich der kleine Junge nur mit seinen Erfolgen auf der Rennstrecke.
"Ich ging an den Wochenenden nicht mit Freuden aus, sondern fuhr Kart - jedes Wochenende", beschreibt Hamilton, der heute immer wieder mit seinen privaten Eskapaden und seinem ausschweifenden Lebensstil in die Schlagzeilen gerät, seine Jugend. "Ich konnte nicht die Dinge mit meinen Freunden machen, die ich gerne gemacht hätte. Ich verlor einen großen Teil meiner Kindheit. Soziale Kontakte konnte ich nur schwer aufbauen. Ich blühte erst viel später auf, ich machte ja keine normalen Dinge."
Wunderkind Hamilton im McLaren-"Gefängnis"
Lange musste Hamilton zusehen, wie er in eine Form gepresst wurde, musste einer enormen Erwartungshaltung gerecht werden. Da ist es eine Ironie der Geschichte, dass er als Zehnjähriger mit Ron Dennis ausgerechnet auf den restriktivsten Formel-1-Teamchef aller Zeiten traf und von diesem als dessen Ziehsohn aufgebaut wurde.
Der Control-Freak ist bekannt dafür, seinen Piloten beim Dienstantritt eine Kurzhaarfrisur zu verpassen, eine eigene Website zu verweigern und sogar beim Helmdesign einzugreifen, wenn ihm dieses als zu ausgefallen erscheint. "Soll ich mir auch noch McLaren-graue Augen zulegen?", hatte der Österreicher Alex Wurz Dennis einst sarkastisch Konter gegeben.
Doch genau jene Kontrolle, die Dennis gerne über seine Piloten hat, drohte der damalige McLaren-Boss bereits im Debütjahr zu verlieren, als es zwischen Nummer-1-Pilot Fernando Alonso und Rookie Hamilton zum offenen Krieg kam. Zu stark waren die Leistungen des Shooting-Stars, um ihm den Nummer-2-Status zu verpassen. Der Stallkrieg endete im Fiasko für McLaren, Alonso verließ verbittert das Team und Ferrari-Pilot Kimi Räikkönen staubte den Titel ab. Im Jahr darauf beglich Hamilton die offene Rechnung und wurde Weltmeister.
Die Befreiung: Mehr Autonomie als Schumacher-Nachfolger
Im Laufe der Jahre taten sich Risse in der Beziehung zwischen Dennis und Hamilton auf, dessen Freiheitsdrang immer größer wurde. Die Abnabelung vom Vater, der lange als Manager fungierte, und vom Teamchef war unerlässlich. Doch sie kosteten Hamilton, der schon bei geringen Widerständen in eine Negativspirale rutschte und mit seinem fragilen Nervenkostüm auffiel, viel Kraft.
2013 wechselte er zu Mercedes, wo man ihm von Anfang an mehr Freiheiten zubilligte. Niemand sagt ihm heute mehr, wie er sich zu kleiden habe, seitdem wird seine Tattoosammlung immer größer und Goldketten hängen um seinen Hals. "Das ist Teil des Erwachsenwerdens und der letzte Schritt in die Unabhängkeit", meinte er als 27-Jähriger nach der Vertragsunterschrift.
Eine Freiheit, die Hamilton genießt und voll auskostet. "Mein erstes Tattoo zu bekommen war ein unglaubliches Gefühl", erinnert er sich. "Heute kann ich sein, wie ich möchte. Das wurde am Anfang nicht akzeptiert, aber jetzt kann ich sagen: Ihr habt keine andere Wahl! Ich fühle mich jetzt in meiner Haut wohl."
Erfolge rechtfertigen Eskapaden
Immer wieder kommt sie aber dann doch wieder durch, die Kritik der Öffentlichkeit, er würde sich im Vergleich zu seinen Kollegen zu sehr auf Nebenschauplätzen ablenken, habe stets zu viele Supermodels um ihn herum und wäre nicht professionell genug. "Als Fahrer ist er vom Kopf her 40 oder 50, bei anderen Sachen eher 15", stichelte zum Beispiel die britische Rennlegende Stirling Moss.
Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff ist aber davon überzeugt, dass man dem Briten die lange Leine geben muss. "Lewis weiss genau, welches Umfeld er braucht", sagt der Österreicher. "Solange das Gezeigte stimmt, muss man ihn leben lassen."
Und wenn er den Mercedes-Stern wieder einmal mit einer nicht seltenen Glanzleistung erstrahlen lässt, dann wird es in Kritikerkreisen rasch wieder ruhig um Hamilton, der oft mit 14 Koffern zu Rennen reist und stets einen eigenen Stylisten mit dabei hat. Denn die Karriere als Formel-1-Fahrer hat ein Ablaufdatum, also bastelt er längst an seinem Image als Superstar.
Der perfekte Botschafter für Liberty Media
"Jeder, der die Beatles oder Michael Jackson oder Ali erlebt hat, träumt davon, so erfolgreich wie sie zu sein", gibt er zu, dass ihn der Ruhm magisch anzieht. Und sieht in seinem Rockstar-Image keinen Widerspruch zum Erfolg: "Man ist auch eine Art Rockstar, wenn man der Beste ist in dem, was man tut."
"Die Ingenieure haben die Formel 1 unter Kontrolle", lautet die Bestandsaufnahme Careys in seinem ersten Jahr an der Spitze des Sports. "Wir müssen dafür sorgen, dass die Fahrer wieder im Vordergrund stehen. Lewis hat einen Stil, der die Leute anzieht, er kann ganz alleine einen Raum füllen. Wir wollen, dass sie alle solche Stars sind." Der US-Amerikaner darf sich bereits die Hände reiben: Denn wenn Hamilton und Vettel, die als Typen unterschiedlicher nicht sein könnten, 2018 darüber streiten, wer als erster fünf WM-Titel auf dem Konto hat, könnte der Zweikampf noch erbitterter werden - und die Einschaltquoten nach oben schnellen...