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Jackie Stewart: Schottischer Querdenker und Lebensretter
Jackie Stewart im Porträt: Wie der dreimalige Weltmeister seine Legasthenie nutzte, um seine Rivalen zu zerstören - und dennoch vielen von ihnen das Leben rettete
(Motorsport-Total.com) - Er hat Schwierigkeiten, das Alphabet aufzusagen. Und als er von der Queen zum Ritter geschlagen wurde, da konnte er "God Save The Queen" nur mitsummen, weil er sich den Text nicht merken kann. Und dennoch legte er eine Karriere hin, von der viele nur träumen können. Jackie Stewart ist dreimaliger Formel-1-Weltmeister, fuhr in 99 Grands Prix 27 Siege ein, führte seinen eigenen Formel-1-Rennstall ganz nach oben auf das Siegerpodest - und er ist schwerer Legastheniker.
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Jackie Stewart: In der Schule gehänselt, legte der Schotte eine Weltkarriere hin Zoom Download
Diese Lernschwäche, die beim Schotten erst im Alter von 42 Jahren diagnostiziert wurde, hat das Leben des heute 76-Jährigen geprägt - zunächst auf negative, später aber auch auf positive Art und Weise. "Einstein war Legastheniker. Und hätte ich nicht drei WM-Titel gewonnen, dann wäre ich heute der beste Fensterputzer - ernsthaft", stellt Stewart klar, dass die vermeintliche Schwäche in seinem Leben eine Triebfeder war, um seine Ziele zu erreichen.
Legasthenie als Triebfeder
"Wenn man als Legastheniker etwas findet, worin man gut ist, dann bemüht man sich mehr als jeder andere. Man kann nicht so denken, wie die cleveren Leute, also denkt man immer etwas unkonventionell und geht Wege, die niemand geht."
Das ist schon in jungen Jahren so. Während er sich in der Schule schwer tut und von Klassenkollegen und Lehrern nicht ernst genommen wird, entdeckt der Sohn eines Autohändlers und Hobby-Rennfahrers rasch den Sport als Chance zur Selbstverwirklichung. Bereits mit 13 gewinnt er nationale Titel im Tontaubenschießen, mit 21 scheitert er haarscharf an der Qualifikation für die Olympischen Spiele in Rom. Dass er die Schule mit 16 abbrechen muss, interessiert da keinen mehr.
"Bei insgesamt 200 Scheiben verfehlte ich die Qualifikation um einen Treffer", sitzt der Stachel wegen der verpassten Olympia-Qualifikation noch heute tief. "Ich traf also vielleicht von 1.000 Zielen nur eines nicht. Ich denke, das war die größte Enttäuschung meines Sportlerlebens." Doch Stewart gibt nicht auf und nutzt die Gelegenheit, als ein Kunde seines Vaters dem jungen Sportler anbietet, im Oulton Park einige seiner Autos zu testen.
Stewart lehnt Formel-1-Angebote ab
Stewart erweist sich als überaus talentiert und arbeitet sich in den kommenden vier Jahren zur großen schottischen Motorsporthoffnung hinauf. Und erregt die Aufmerksamkeit des britischen Ex-Rennfahrers und Holzhändlers Ken Tyrrell, der gerade sein Nachwuchsteam aufbaut. Stewart übernimmt bei einem Test in Goodwood das Formel-3-Auto eines gewissen Bruce McLaren, der später den McLaren-Rennstall gründen wird, und übertrumpft völlig überraschend dessen Zeiten.
Das reicht Tyrrell, um das Talent für die Formel-3-Saison unter Vertrag zu nehmen. Es dauert nicht lange, ehe sich Stewart revanchiert. Bei seinem Premierenrennen baut er eine 25-Sekunden-Führung in nur zwei Runden auf 44 Sekunden aus und fährt den Sieg souverän nach Hause. Kein Wunder, dass plötzlich alle nach dem 25-Jährigen verrückt sind: Teamboss John Cooper bietet ihm in seinem Team einen Formel-1-Vertrag an, traut aber seinen Ohren nicht, als Stewart ablehnt.
Der weiß genau, was er tut und beweist Charakterstärke. "Man muss seine eigenen Grenzen kennen", sagt er. "Wenn man zu früh einsteigt und sich nicht gut schlägt, dann wird man nach seinen Leistungen beurteilt, ganz egal, wie man diese rechtfertigt. Es ist deine Entscheidung."
Erster Sieg in Monza
Als auch Lotus-Teamchef Colin Chapman anklopft, lehnt Stewart ein weiteres Mal ab - ein Jahr später fühlt er sich dann bereit für die Königsklasse und unterschreibt bei BRM an der Seite von Graham Hill. Nach einem furiosen Saisonauftakt mit zahlreichen Podestplätzen gelingt ihm am 12. September 1965 in Monza sensationell sein erster Grand-Prix-Sieg - nach einem beinharten Duell gegen große Namen wie Jim Clark, John Surtees und Hill. Er wird Dritter in der Weltmeisterschaft.
Stewart wird aber auch rasch mit den Schattenseiten des Sports konfrontiert. Und auch das sollte sein Leben prägen: In Spa-Francorchamps rutscht der Schotte in der ersten Runde wie viele Konkurrenten aus, weil in den Ardennen plötzlich der Regen einsetzt. Doch Stewart ist in seinem Boliden eingeklemmt - sein Anzug ist mit Benzin getränkt. Er fürchtet um sein Leben, doch sein Bolide fängt glücklicherweise nicht Feuer.
Stewart wird der Dilletantismus der Formel 1 vor Augen geführt: Weil die Streckenposten nicht ausgerüstet sind, muss er 30 Minuten verharren, ehe ihn Teamkollege Hill und Bob Bondurant aus dem Wrack befreien. Sie haben sich von Zuschauern einen Schraubenschlüssel ausgeborgt und dann das Lenkrad abgeschraubt.
Wie Stewart zum Sicherheits-Apostel wird
Durch den ausgeronnenen Sprit ist Stewarts Haut verätzt, er muss ins Krankenhaus. Doch weitere Pannen folgen: "Ich musste eine weitere halbe Stunde auf den Krankenwagen warten, auf dem Weg ins Krankenhaus nach Lüttich verfuhr sich der Fahrer", schildert der ehemalige Rennfahrer. "Er fand den Weg nicht, was einfach erbärmlich war."
Stewart wird bewusst, dass er bei einem etwas anderen Unfallhergang an dieser Stelle niemals überlebt hätte und bringt ab sofort zu jedem Rennen seinen Privatarzt mit. Von nun an kämpfte er wie kein anderer Pilot für die Sicherheit in der Formel 1: Er ist der erste Pilot, der seine Blutgruppe auf den Helm und auf den Overall drucken lässt, was bis heute üblich ist. BRM bringt zu jedem Rennen ein eigenes Ärztefahrzeug mit, das von allen genutzt werden darf. Und Stewart hat stets einen Schraubenschlüssel im Auto.
Legendärer Triumph in der Grünen Hölle
Nachdem das Jahr 1967 von Problemen gezeichnet ist, kommt es 1968 zum Comeback der Erfolgspartnerschaft mit Ken Tyrrell, der das Matra-Team leitet. Und wie schon bei seiner Formel-3-Premiere für Tyrrell macht er sich einen Namen als Regenspezialist. Einer seiner legendärsten Siege ist der Triumph auf der Nürburgring-Nordschleife, als er im dichten Nebel als einziger den Durchblick behält und mit einem Vorsprung von vier Minuten als erster das Ziel erreicht.
"Ich versuchte, mir die großen Pfützen und Bäche, die über die Strecke liefen, zu merken, aber mit jeder Runde kamen neue dazu", erinnert sich Stewart gegenüber 'auto motor und sport'. "Je länger es regnete, umso mehr Schlamm wurde auf die Strecke geschwemmt."
Legasthenie als Nürburgring-Geheimnis?
Noch heute glaubt er, dass ihm seine Legasthenie damals einen Vorteil verlieh: "Bis heute kenne ich noch jeden Schalt- und jeden Bremspunkt. Statt Worten haben sich bei mir Erfahrungswerte ins Gedächtnis gebrannt. Ich hatte für die ganzen Widrigkeiten auf der Strecke ein fotografisches Gedächtnis."
Weil Stewart aber nach einem Formel-2-Unfall eine Verletzungspause von zwei Rennen einlegen muss, reicht es am Ende des Jahres nur zum Vize-Weltmeister. Ein Jahr später platzt aber endgültig der Knoten: Stewart siegt 1969 bei sechs von acht Grands Prix - im Montjuich-Park von Barcelona beträgt sein Vorsprung sogar zwei Runden, so dominant ist der Mann mit dem Schottenmuster auf dem Helm.
Fotostrecke: Die Formel-1-Karriere des Jackie Stewart
Dreimaliger Weltmeister, Vorkämpfer für Sicherheit auf der Rennstrecke und ein Gentleman mit karierter Schottenmütze: So kennen die Formel-1-Fans den gereiften Jackie Stewart, der als heute 83-Jähriger nichts von seiner Frechheit, seinem Witz und seinem Charme verloren hat. Das Licht der Welt erblickte er im schottischen Dörfchen Milton rund 20 Kilometer westlich von Glasgow - als Sohn eines Autohändlers und Hobby-Rennfahrers, was sich in jungen Jahren noch nicht auf seine Freizeitgestaltung auswirkt. Fotostrecke
1970 wechselt Tyrrell von Matra- auf March-Chassis', gegen den neuen Lotus 72 mit Jochen Rindt am Steuer hat man aber große Mühe. Dass Stewart seinen Titel nicht verteidigen kann, ist für ihn am Ende nur zweitrangig: Rindt verunglückt im Training von Monza tödlich, weil die Bremsen des Lotus versagen und Stewarts Freund den Sicherheitsgurt nicht benutzt - die Tragödie geht Stewart durch Mark und Bein.
Rindt-Drama ein schwerer Schock für Stewart
"Ich ging nach dem Unfall zu dem kleinen Ambulanzwagen, in dem er lag, und mir war sofort klar, dass er tot ist", sieht er die fürchterlichen Bilder heute noch vor sich. "Er hatte viele Bein- und Fußverletzungen, aber er blutete nicht. Das Herz pumpte kein Blut mehr. Er war ein sehr guter Freund, und ich wusste nicht, was ich in diesem Moment tun sollte."
Im Auto kamen ihm zunächst die Tränen, ehe er sich fasste und eine perfekte Qualifying-Runde fuhr. "Erst als ich wieder aus dem Auto stieg, brach ich wieder in Tränen aus. Aus Wut schleuderte ich eine Colaflasche an die Boxenmauer. Ich werde das nie vergessen, weil ich es in meinem Leben weder davor noch danach getan habe."
Diese intensive Konfrontation mit dem Tod bestärkt Stewart darin, sich noch intensiver für die Sicherheit einzusetzen. Er fordert erfolgreich Vollvisierhelme und verpflichtende Sicherheitsgurte und bricht auf dem Nürburgring einen Fahrerstreik vom Zaun, weil die Promoter den Forderungen der Piloten kein Gehör schenken.
Trauriges Karriereende mit WM-Titel
Auch auf der Strecke läuft es in den folgenden Jahren besser: 1971 und 1973 wird Stewart erneut Weltmeister - schon zu Saisonbeginn 1973 beschließt er, seine Karriere zu beenden. Mit dem jungen talentierten Franzosen Francois Cevert baut er bei Tyrrell einen Nachfolger auf, dem er sein ganzes Wissen anvertraut.
Trotz des Erfolges endet die Formel-1-Karriere Stewarts mit einem Drama: Cevert stürzt bei einem Trainingscrash in Watkins Glen in den Tod. "Damals gingen wir alle zu seinem Auto, weil wir helfen wollten", erzählt Stewart. "Aber jeder von uns war so geschockt von den Verletzungen, die er hatte." Stewart entschließt sich in der Folge, ein Rennen früher als geplant den Helm an den Nagel zu hängen und verpasst somit seinen 100. Grand Prix.
Noch heute hat er das Unglück nicht verdaut: "Wenn ich mit meiner Frau Helen einen Film über Francois sehe, dann weinen wir auch. Helen und ich haben nachgerechnet, wir haben 59 Freunde durch das Rennfahren verloren." Für Stewart ist die Tragödie um Cevert eine letzte Bestätigung, dass er seinen Feldzug zugunsten der Sicherheit auch nach dem Karriereende fortsetzen muss.
Unbändiger Kämpfer für die Sicherheit
Und auch darin ist Stewart konsequent: Als Ayrton Senna Ende der 1980er-Jahre einige haarsträubende Manöver gegen Alain Prost und andere Rivalen durchführt, stellte ihn der ehemalige Rennfahrer vor laufender Kamera zur Rede und unterstellt ihm, für einen Weltmeister zu oft in Kollisionen verwickelt zu sein.
Dafür setzt er auch seine eigene Popularität aufs Spiel. "Nach dem Karriereende war ich diesbezüglich so aggressiv, dass ich nicht geliebt wurde", weiß er. Deutlich diplomatischer ist Stewart in seiner zweiten Karriere als Geschäftsmann - aber nicht weniger erfolgreich: Neben Tätigkeiten als TV-Kommentator und Firmenbotschafter gründet er mit Sohn Paul sein eigenes Stewart-Team - und etabliert sich auch als Teamchef rasch in der Formel 1.
1999 gelingt mit Johnny Herbert am Steuer ausgerechnet auf dem Nürburgring der einzige Grand-Prix-Sieg, im Jahr 2000 verkauft er den Rennstall um teures Geld an Ford. Ein genialer Schachzug Stewarts, denn der Großteil der Finanzierung seines Teams wurde schon davor vom US-amerikanischen Konzern aus Detroit gewährleistet.
Nach wie vor in der Formel 1 aktiv
Auch heute noch hat Stewart den Kontakt zur Formel 1 nicht verloren. Die Rennlegende besucht rund ein dutzend Rennen pro Jahr und ist als Interviewpartner nach wie vor sehr gefragt. Und geduldig, denn der Schotte weiß, wie man eine Marke repräsentiert: Sein Assistent notiert das Medium jedes Journalisten, mit dem Stewart spricht, um es dann den Konzernvertretern vorzulegen. Kein Wunder, dass der Marktwert des dreimaligen Weltmeisters in der Szene immer noch hoch ist.
"Ich bin immer noch Teil der Szene, ich genieße es noch immer, und ich lebe es immer noch. In meinem Alter und mit meinen Kontakten, meinem Netzwerk, muss mein Adressbuch eines der besten der Welt sein", schmunzelt er. Er sieht sich als "sehr glücklicher" Mensch: "Ich fühle mich sehr privilegiert, dass alles in meinem Leben so funktioniert hat." Und auch der kritische Geist ist nach wie vor wach. Auf die Frage, was er rückblickend in seinem Leben anders gemacht hätte, antwortet Stewart: "Ich hätte noch härter für die Sicherheit gekämpft. Ich wäre eine Dimension weitergegangen, obwohl ich nicht viel mehr hätte tun können."