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Räikkönen: Der Widersprüchliche mit dem sechsten Sinn
Kimi Räikkönen wird heute 34 - Doch wer ist der Mann, aus dem viele nicht schlau werden, der aber schon als Kind mit übernatürlicher Intelligenz verblüffte, wirklich?
(Motorsport-Total.com) - Er ist der populärste Fahrer der Formel 1. Dabei kennt selbst an seinem 34. Geburtstag kaum jemand die Antwort auf die Frage: Wer ist eigentlich dieser Kimi Räikkönen? Auf Fragen von Journalisten antwortet der Weltmeister 2007 meist schmallippig, wenn er nicht ohnehin wegen Krankheit absagen muss. Über sein Privatleben gibt er so gut wie nichts preis. Und doch ist Räikkönen der Kultstar der "Königsklasse" des Motorsports, vielleicht gerade weil er sich von PR-Strategen keine Phrasen vorkauen lässt und stattdessen lieber schweigt, als zur Marionette zu mutieren.
"Kimi ist privat ganz anders, als er in der Formel 1 wahrgenommen wird", meint ein Vertrauter des Lotus-Piloten gegenüber 'Motorsport-Total.com' kryptisch. Humorvoll soll er sein, extrem klug, hilfsbereit - gar nicht so schroff und phlegmatisch, wie man ihn im Fahrerlager oft erlebt. Eben ein Mann voller Widersprüche.
Keine Toilette im Haus
Dieses Bild hat sich bislang durch sein gesamtes Leben gezogen. Selbst seine monotone Stimme soll nicht auf sein Desinteresse zurückzuführen sein, sondern, weil er mit fünf Jahren beim Fahrradfahren stürzte und mit dem Hals auf die Gabel knallte. Damals, am Land nahe Espoo - einer Vorstadt Helsinkis -, hatte Räikkönen ein schwieriges Leben. Seine Eltern - ein Straßenarbeiter und eine Angestellte bei der Pensionskasse - hatten kaum Geld, konnten sich nicht einmal eine eigene Toilette im Haus leisten.
Und sie hatten einen verhaltensauffälligen Sohn. Als sich Mutter Paula Räikkönen mit einem Arzt über den schweigsamen Sechsjährigen unterhielt, wurde der Junge plötzlich nervös, biss an seinen Fingernägeln und ließ sich nicht mehr beruhigen. Der Arzt vermutete, dass der Junge an einem Konzentrationsproblem leidet, doch die Ursache lag ganz woanders.
"Es war das Spielzeug", erzählt Räikkönens Mutter. "Kimi interessierte sich damals für Puzzles. Ihm war das Puzzle zu einfach. Als er eines für Zehn- bis 15-Jährige sah und es nicht erreichte, da meinte der Assistent des Arztes, dass er dafür noch zu jung sei." Räikkönen bekam nicht, was er wollte, und geriet aus seinem inneren Gleichgewicht.
Räikkönens Vorahnung vom WM-Titel
"Als er am Ende das schwierige Puzzle bekam, baute er es zusammen und lächelte", erinnert sich Paula Räikkönen nicht ohne Stolz. "Der Arzt hat gelacht. Ihm war plötzlich klar, dass dieses Kind kein Konzentrationsproblem hat." Der Arzt blieb nicht der einzige, den Räikkönen verblüffen sollte. Eines Tages sagte der Junge zu seiner Mutter: "Ich weiß es, ich werde einmal Weltmeister. Ich weiß nur noch nicht, in welcher Sportart."
Dass es schließlich die Formel 1 und nicht der Eishockey-Sport - seine zweite Leidenschaft - wurde, lag vor allem am Timing. "Als Rennfahrer kann man später aufstehen", argumentiert er trocken. Ähnlich wie das Zusammenfügen eines Puzzles ging Räikkönen auch seine Rennkarriere an - er lernte rascher als alle anderen.
Sauber-Debüt: Unhöflich, aber blitzschnell
Nach nur insgesamt 23 Autorennen saß er als 21-Jähriger in Melbourne 2001 sensationell im Sauber-Boliden - die Superlizenz erhielt er damals nur auf Probe. Doch schon nach dem ersten Rennen, wo er beeindruckender Sechster wurde, erübrigte sich die Frage, ob dieser Mann reif genug für die Formel 1 ist.
Teamchef Peter Sauber erinnert sich an seine erste Begegnung mit dem späteren Überraschungsmann beim Test im Herbst 2000 in Mugello. "Wir haben einander begrüßt und die Hände geschüttelt, aber ich würde nicht sagen, dass Kimi sehr höflich war", erzählt der Schweizer gegenüber 'F1Racing'. "Er verhielt sich wie ein scheues Tier, das nicht gestört werden wollte. Und Tiere sind nicht höflich." Doch Sauber hatte keinen Zweifel daran, dass der Youngster über einen eisernen Willen und enormes Talent verfügte: "Ich hatte das Gefühl, er würde sogar mit dem Kopf durch die Wand gehen, um sein Ziel zu erreichen".
Zwischen Alkoholeskapaden und Triumphen
Ein Jahr später wurde ihm dies von Räikkönen auf schmerzliche Art und Weise bestätigt, als dieser Sauber verließ und zu McLaren wechselte. Dort verblüffte er mit atemberaubendem Speed, trieb Teamchef und "Control Freak" Ron Dennis aber auch mit diversen Alkoholeskapaden zur Weißglut - einmal fiel er völlig betrunken von seiner Jacht. Und er gab seinem Umfeld Rätsel auf. Alex Wurz, der damals Testfahrer war, erzählt gegenüber dem 'Sportmagazin' von einer gemeinsamen Autofahrt: "Er begann nach zwei Stunden Schweigen plötzlich zu reden und redete dann stundenlang durch."
Ende 2006 hatte Räikkönen die Nase voll von McLaren, wo ihn Defekte 2005 um den WM-Titel gebracht hatten, und erteilte Dennis einen Denkzettel: Schon im ersten Jahr mit Ferrari gelang ihm der Titel, obwohl er vor dem letzten Saisonrennen hinter dem McLaren-Duo Lewis Hamilton und Fernando Alonso nur WM-Dritter gewesen war. Doch im Gegensatz zu den Streithähnen im "Silberpfeil" ließ sich Räikkönen nicht beirren und behielt als einziger die Nerven.
Bei Ferrari erkannte man aber wie schon bei McLaren nicht, wie man mit dem Eigenbrötler am besten umgeht. Man beraubte ihn seiner Freiheiten, verdonnerte ihn zu unliebsamen PR-Terminen, machte ihm klar, dass seine Individualität im Schatten des springenden Pferdes nur wenig zählt. Und Räikkönen kapselte sich immer mehr ab, ehe er 2009 endgültig die Lust an der Formel 1 verloren hatte und trotz Vertrags für 2010 in den Rallyesport wechselte.
Hörte man bei Lotus auf Räikkönens Mutter?
Dass ein Räikkönen nur funktioniert, wenn man ihm den nötigen Freiraum gibt, verstand man erst bei Lotus, wo dieser 2012 nach zwei schwierigen Rallyejahren ein sensationelles Comeback gab. Angeblich rauchte er sogar bei Lotus-Teambesprechnungen und gönnte sich einen Schluck Alkohol - Teamchef Eric Boullier sah dennoch von Restriktionen ab. Und sein Starpilot dankte es ihm mit beeindruckenden Leistungen, fuhr sogar zwei Siege ein.
Der übernatürliche Sinn
Vor allem in Zweikämpfen glänzte er immer wieder mit einer unglaublichen Übersicht - kaum ein Pilot war so selten in Zwischenfälle verwickelt. "Bei ihm ist im Zweikampf so gut wie nie ein Flügel weg. Er hat ein unglaubliches Gespür, was geht und was nicht geht", fällt auch Ex-Kollege Wurz auf. Seine Verlässlichkeit bewies er mit 27 Rennen in Folge in den Top-10 - das hat vor ihm noch keiner geschafft.
Der Österreicher führt Räikkönens enorme Übersicht auf dessen "unglaubliches Gefühl für das Dreidimensionale" zurück. Eine übernatürliche Veranlagung, die bereits Spezialisten bei ihm festgestellt haben. "Kimi hat eine spezielle Gabe, Situationen dreidimensional wahrzunehmen", bestätigt McLaren-Arzt Aki Hintsa, der jahrelang mit dem Finnen arbeitete, gegenüber dem 'Turun Sanomat'. "Seine Resultate in diesem Bereich sind nicht von dieser Welt."
Immun gegen Alonsos Spielchen?
Und auch Sauber-Physiotherapeut Joe Leberer blieb der Mund offen, als er vor mehr als einem Jahrzehnt erstmals mit Räikkönen zu tun hatte. "Er beherrschte jedes Sportgerät sofort. Ich habe noch nie einen Menschen mit einer solchen Naturbegabung gesehen", sagt er gegenüber dem 'Sportmagazin'.