Sternstunde Melbourne 2001: Drei Rookies für ein Halleluja
2001 debütiert in Australien eine legendäre Rookie-Generation: Wie der wilde Montoya, der coole Räikkönen und Underdog Alonso die Formel 1 im Sturm erobern
(Motorsport-Total.com) - Drei WM-Titel, 59 Siege und 207 Podestplätze. Würden Sie diesen drei Männern in Zukunft diese Bilanz zutrauen? Die Antwort hätte bei den meisten im Fahrerlager wahrscheinlich nein gelautet, als Juan Pablo Montoya, Kimi Räikkönen und Fernando Alonso auf der Start-Ziel-Geraden des Albert Park von Melbourne für die Fotografen posierten. Vor genau 15 Jahren. Vor ihrem ersten Formel-1-Grand-Prix. Gemeinsam mit Enrique Bernoldi, der ebenfalls debütierte.
Wir befinden uns im März des Jahres 2001. Michael Schumacher hat seinen ersten Ferrari-WM-Titel geholt und geht als Titelverteidiger in die Saison. Die McLaren-Mercedes-Piloten Mika Häkkinen und David Coulthard sind die Jäger des Deutschen. Doch im Vorfeld der Saison schreibt "Nobody" Räikkönen die Schlagzeilen - ein Mann, von dem ein Jahr davor im Albert Park noch niemand ein Wort gehört hatte.
Und auch dieses Jahr hört man nicht viel: "Yes", "No", "I don't know" - viel mehr bekommen die Journalisten aus dem 21-jährigen Babyface, das in seinem Leben bis dahin gerade Mal 23 Autorennen absolviert hat, nicht heraus. Phlegmatisch ist er, der neue Sauber-Pilot. Auf den ersten Blick wirkt er unreif, doch seine konzentrierten blauen Augen suggerieren Willenskraft und Beharrlichkeit. Sisu, wie es die finnischen Reporter in ihrer Landessprache nennen. Und Manager Steve Robertson grinst: "Der erste öffentliche Auftritt machte ihm mehr Sorgen als das Fahren."
Verhöhntes Supertalent: Räikkönen darf nur auf Bewährung fahren
Räikkönen darf in Australien nur auf Bewährung starten. Als Peter Sauber nach zwei Tests mit dem Youngster auf Risiko setzte und den Formel-3-Piloten verpflichtete, ging ein Raunen durch das Fahrerlager. Ausgerechnet McLaren-Teamchef Ron Dennis, der Räikkönen später Sauber wegschnappen sollte, versuchte, das vermeintliche Himmelfahrtskommando zu verhindern, weil er den Formel-3-Piloten für ein Sicherheitsrisiko hielt.
Als dann aber die Formel-1-Kommission Räikkönens Antrag auf eine Superlizenz durchwinkte, schaltete sich FIA-Boss Max Mosley ein und erteilte die Lizenz nur unter der Bedingung einer vier Rennen andauernden Probezeit. "Die Entscheidung ist falsch", kritisiert der Brite die Kommissionsentscheidung. "Wenn wegen seiner Unerfahrenheit ein schwerer Unfall passiert, dann muss ich das den Medien und TV-Kameras erklären."
Montoya: Neuer Senna oder Zanardi-Déjà-vu?
Genau ein Jahr davor hatte die Formel 1 schon einmal bewiesen, dass es sich auszahlt, auf einen Youngster zu setzen: Da debüttierte Jenson Button mit gar erst 20 Jahren bei Williams und beeindruckte in seiner Debütsaison. Nun muss er aber sein Cockpit räumen, für den angeblichen neuen Superstar aus den USA: Juan Pablo Montoya. Der ChampCar-Meister aus Kolumbien steht ebenfalls vor seiner Premiere in der Formel 1.
"Jenson hat sich in seiner ersten Saison wirklich gut geschlagen", zeigt sich Montoya überrascht, dass das Team die britische Entdeckung zu Benetton abschob. "Natürlich ist mir Frank Williams' Entscheidung recht, und ich hoffe, dass ich den Erwartungen entsprechen kann."
Die gehen weit auseinander: Für die einen ist Montoya der neue Ayrton Senna, für die anderen ein Reinfall wie Alessandro Zanardi, der 1999 als ChampCar-Meister zu Williams kam und - ebenfalls an der Seite von Ralf Schumacher - kapital versagte.
Underdog Alonso düpiert beinahe Briatores Benetton-Stars
Kaum Aufmerksamkeit erhält währenddessen der spanische Minardi-Neuling Fernando Alonso. Ein Spanier in der Formel 1? Das ging in der Geschichte selten gut. Die iberische Nation ist eher bekannt dafür, Motorrad-Superstars hervorzubringen. Außerdem startet der 19-Jährige mit Minardi im schlechtesten Team.
Doch ein paar Insider haben den schüchternen Sohn eines Sprengmeisters auf der Rechnung, schließlich überzeugte Alonso bereits im Vorjahr in der Formel 3000 und hatte die Aufmerksamkeit von Benetton-Teamchef Flavio Briatore auf sich gezogen, der die Entdeckung als Manager bereits unter Vertrag genommen hat.
Und als das Rennwochenende losgeht, bestätigt Alonso das in ihn gesetzte Vertrauen: Der Asturier ist nicht nur konstant schneller als Teamkollege Tarso Marques, er reitet Briatores Benetton-Team beim Qualifying auch beinahe in ein Debakel. Nur weil er im letzten Sektor seiner Runde einen kleinen Fehler macht, scheitert er an Button und Giancarlo Fisichella und reiht sich auf Startplatz 19 ein.
Qualifying: Aller Anfang ist schwer...
Bei Minardi ist man vom Rookie hellauf begeistert: "Er ist cool, ganz ruhig und sehr intelligent", sagt Teammanager Rupert Manwaring. "Er ist ein absoluter Top-Fahrer für die Zukunft, ein echtes Naturtalent. Und was er macht, wirkt so mühelos. Die eine Hälfte seines Gehirns kann sich auf das Denken konzentrieren, während die andere dafür sorgt, dass er wirklich gut fährt." So gut, dass er seinen Teamkollegen Marques um fast drei Sekunden distanziert.
Etwas weiter vorne in der Startaufstellung macht sich leichter Frust breit: Räikkönen wird in seinem ersten Formel-1-Qualifying "nur 13." 0,378 Sekunden fehlen auf den Teamkollegen Nick Heidfeld. "Ich bin enttäuscht". Das liegt auch daran, dass der Sauber-Lehrling im Freien Training am Samstagmorgen die Weltelite mit der achtschnellsten Zeit schockte, nachdem er 70 der 90 Minuten an der Box verbracht hatte. Auch Fahrfehler sucht man beim Finnen vergeblich.
Und wo reiht sich Montoya ein, der in seiner Formel-1-Karriere insgesamt 13 Pole-Positions holen sollte? Der Mann aus Bogota taucht im Qualifying-Klassement auf dem unauffälligen elften Platz auf, rund eine Sekunde hinter Teamkollege Ralf Schumacher. Nicht ganz ohne Drama, denn bei einer Kollision mit BAR-Pilot Jacques Villeneuve demoliert er den Unterboden seines Williams-BMW. Haben die Kritiker also doch recht?
Drama in Runde vier: Streckenposten wird von Rad erschlagen
Die erste Startreihe besetzen die beiden Ferrari von Michael Schumacher, der im Training einen Überschlag überstand, und Rubens Barrichello. Häkkinen im McLaren lauert dahinter als erster Verfolger.
Beim Start beweist Montoya seine tolle Reaktionsfähigkeit und katapultiert sich auf Rang sechs nach vorne, verbremst sich dann aber in der ersten Kurve und fällt auf Rang 13 zurück. Im Getümmel gerät er mit Jaguar-Pilot Eddie Irvine aneinander und bugsiert den Iren ins Aus. Auch bei Räikkönen läuft es nicht gerade optimal: Der Finne verliert beim Start drei Plätze und ist nur 16.
Im Vorderfeld spielt sich wenige Runden später ein wahres Drama ab: Villeneuve donnert im Zweikampf mit Ralf Schumacher bei weit über 200 km/h dem Williams ins Heck, hebt ab und detoniert in der Mauer. Das Szenario gleicht einem Schlachtfeld. Während die Piloten Glück im Unglück haben, wird der Streckenposten Graham Beverdige von Villeneuves Rad erschlagen, das ihn durch ein Loch im Sicherheitszaun trifft.
Montoya dreht auf: Von Rang 13 auf Rang drei
Montoya und Räikkönen kriegen davon abgesehen von einer mehrere Runden andauernden Safety-Car-Phase nicht viel mit und glänzen im Laufe des Rennens mit starken Überholmanövern. Während Räikkönen Benetton-Pilot Button niederkämpft, setzt sich der Kolumbianer in Runde 16 gegen dessen achtplatzierten Teamkollegen Fisichella durch, indem er eine sich auftuende Lücke kaltblütig ausnutzt.
Der 25-Jährige, der zwei Rennen später in Brasilien Michael Schumacher in einem sehenswerten Manöver niederkämpfen sollte, leckt Blut: "Zuerst dachte ich, dass man in der Formel 1 unmöglich überholen kann, aber jetzt ist mir klar, dass es möglich ist, wenn man es plant. Die Formel 1 macht Spaß."
Allerdings nur bis zur 41. Runde, als der Williams-Pilot vor seinem Boxenstopp auf dem tollen dritten Platz liegend mit kapitalem Motorschaden ausrollt - eine Ölleitung war geplatzt. "Leider habe ich das Ziel nicht erreicht, denn bis dahin hatte ich ein gutes Rennen", klagt der Heißsporn mit der beeindruckenden Fahrzeugkontrolle, dessen beste Rundenzeit die viertschnellste des gesamten Rennens bleiben sollte.
Räikkönen verblüfft Sauber: Um eine Sekunde schneller als Heidfeld
Räikkönen fährt währenddessen wie ein alter Hase: Der Sauber-Rookie hält zunächst dem Druck von Jordan-Star Heinz-Harald Frentzen stand, der nach einer frühen Kollision mit Rubens Barrichello auf dem Vormarsch ist. Auch seine Rundenzeiten sind auf dem Niveau von Teamkollege Heidfeld - teilweise sogar besser.
Nach dem Boxenstopp kämpft er zunächst mit Untersteuern, ehe die neuen Reifen auf Temperatur kommen - und fällt somit hinter den Jordan zurück. In der Endphase kommt er Heidfeld und Frentzen, die vor ihm um Platz fünf kämpfen, immer näher. Und sorgt bei Sauber-Technikchef Willi Rampf für hochgezogene Augenbrauen: "Gegen Rennende hat uns Kimi über Funk gesagt, dass er nicht mehr pusht. Und dennoch fiel uns beim Anblick der Rundenzeiten auf, dass er um eine Sekunde schneller war als Heidfeld."
Weil BAR-Pilot Olivier Panis wegen eines Überholmanövers unter gelben Flaggen eine Strafe kassiert, darf sich Räikkönen doch noch über Platz sechs und den ersten WM-Punkt im ersten Rennen freuen. Das sorgte sogar bei Sieger Schumacher, der sich vor David Coulthard und Teamkollege Barrichello durchsetzte, für Aufsehen: "Er hat bewiesen, was ich im Winter schon gesagt habe: Der Junge gehört in die Formel 1, und ich gratuliere ihm."
Alonso für Button der beste Rookie
Und Minardi-Rohdiamant Alonso gelingt es ebenso, das Ziel zu erreichen - als Zwölfter, mit zwei Runden Rückstand. Mehr ist mit dem schlechtesten Auto im Feld nicht möglich. Trotz des unauffälligen Rennens wird der Spanier von seinem späteren Teamkollegen Button geadelt: "Er hat mich von allen Rookies am meisten beeindruckt."
Währenddessen reift in Schumachers größtem Herausforderer die Entscheidung, seine Formel-1-Karriere zu beenden: Mika Häkkinen will nach seinem alarmierenden Bremsdefekt im Rennen und dem heftigen Einschlag nicht länger sein Leben für die Formel 1 aufs Spiel setzen.
Eine neue Herausforderer-Generation scharrt seit diesem denkwürdigen Tag mit den Hufen - und ausgerechnet Underdog Alonso wird Schumacher nach fünf WM-Titel in Serie im Jahr 2005 vom Thron stürzen.