Halbzeitbilanz: Ferrari einen Sieg von der Perfektion entfernt
Die Halbzeitbilanz der Top-8-Teams in der Formel 1 2015: Warum Ferraris Saison schon jetzt ein Erfolg ist und wieso dem Teamchef ein langer Fußmarsch blüht
(Motorsport-Total.com) - Endlich einmal jemand, der klare Ziele formulieren kann: "Zwei Siege wären in Ordnung. Drei wären perfekt. Wenn wir vier Mal gewinnen, dann laufe ich ohne Schuhe 100 Kilometer hinauf nach Maranello." Diese Zahlen hatte der neue Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene vor der Saison als Ziel ausgegeben - und zur Saisonhalbzeit hat die Scuderia bereits 66 Prozent auf dem Weg zur Perfektion erreicht.
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Mit dem zweiten Saisonsieg hat Ferrari die Erwartungen eigentlich schon erfüllt Zoom Download
Mit zwei Saisonsiegen geht Ferrari in die Sommerpause und liegt damit voll im Soll. 236 Punkte bedeuten allerdings auch, dass Mercedes mit 383 Zählern in der Konstrukteurswertung noch deutlich voraus ist. Auf den dritten Platz von Williams (151) ist allerdings ebenfalls ein ordentliches Polster angewachsen, sodass die Roten den zweiten Platz wohl schon fast sicher in der Tasche haben, wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert.
Bedanken darf man sich dabei vor allem bei Sebastian Vettel, der nach seinem Wechsel von Red Bull gleich gezeigt hat, wer das teaminterne Heft in der Hand hat. Lange Eingewöhnungszeit brauchte der Heppenheimer nicht, schon bei seinem ersten Besuch in Maranello war zu spüren, wie sehr der Deutsche nach seinem verkorksten Jahr bei Red Bull brennt. Dieses Feuer scheint er auch auf sein Team übertragen zu haben.
Mercedes nur selten herausgefordert
Schon beim Saisonstart in Australien fuhr der 28-Jährige als Dritter hinter Mercedes auf das Podest, in Malaysia folgte die erste faustdicke Überraschung. "Wir hatten einen phänomenalen Start, denn wir haben schon im zweiten Rennen gewinnen können", strahlt Vettel im Rückblick auf die erste Saisonhälfte. Der Erfolg kam nicht gerade erwartet, bedenkt man, dass der einstige Dominator-Rennstall zwei Jahre lang auf einen Sieg warten musste.
Mit dem schnellen Sieg stiegen allerdings auch die Erwartungen. Plötzlich war Ferrari zum Herausforderer von Mercedes avanciert, doch die Hoffnungen der Fans auf einen spannenden Zweikampf an der Spitze konnten die Italiener in Folge nicht mehr erfüllen. Zwar stand man in zehn Rennen achtmal auf dem Podest, doch die Silberpfeile fuhren meist unangefochten ihr eigenes Rennen. "Wir wussten vor der Saison, dass es ein Team geben wird, das sehr schwierig zu schlagen sein wird", meint Vettel.
"Ab und zu ist uns das aber gelungen", unterstreicht er weiter. In Bahrain konnte sich Kimi Räikkönen zwischen Lewis Hamilton und Nico Rosberg schieben, in Monaco profitierte Vettel vom schwerwiegenden Taktikpatzer Hamiltons, und zuletzt in Budapest konnte Ferrari sogar aus eigener Kraft sein zweites Rennen gewinnen. "Wir waren recht konstant und standen häufig auf dem Podium", so Vettel. "Im Großen und Ganzen ist es sehr positiv."
Rückschläge in Kauf genommen
Nach dem jüngsten Erfolg auf dem Hungaroring hat der viermalige Weltmeister in der Gesamtwertung "nur" noch 42 Punkte Rückstand auf Spitzenreiter Hamilton, Nico Rosberg liegt mit 21 Zählern Vorsprung sogar im Bereich nur eines Rennsieges, doch träumen möchte man in Maranello nicht. Alles, was in der zweiten Saisonhälfte passiert, ist Zubrot. "Ich fühle nicht viel Druck", erklärt auch Teamchef Arrivabene, denn seine Vorgaben hat er mit seinem Team längst erreicht.
Sebastian Vettel bei den Ferrari-Racing-Days
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Doch natürlich kann nicht immer alles Gold sein in der Formel 1. Auch Ferrari hat einige Schwachstellen, die es auszumerzen gilt. Der Antrieb ist noch nicht auf dem Stand des Mercedes-Aggregats, auch wenn Vettel betont: "Beim Motor hat Ferrari wohl den größten Sprung von allen gemacht." Außerdem lässt sich Ferrari auf manchen Strecken noch viel zu häufig abkochen. Dann wird der Rückstand auf die Silberpfeile riesig, und Konkurrenten wie Williams schlüpfen vorbei - wie in Silverstone, als Vettel und Räikkönen lange Zeit unter ferner liefen fuhren, bevor der Regen die Wende brachte.
Doch gerade von solchen Rückschlägen lässt man sich heute nicht mehr aus der Fassung bringen: "Manchmal findet man sich im Rennen in einer Situation wieder, wo es nicht läuft, aber wenn man sich die letzten vier oder fünf Rennen anschaut, dann sieht es immer noch sehr gut aus", betont Vettel, und Arrivabene stimmt zu: "Selbst die stärksten Teams müssen mal einen Rückschlag hinnehmen und stehen dann wieder auf. Das heißt nicht, dass die anderen dann einen Schritt zurück machen."
Kimi Räikkönen kämpft und strauchelt
Einen Verlierer gibt es bei den Roten aber dennoch, und der heißt Kimi Räikkönen. Der Finne erlebt erneut eine schwierige Saison, auch wenn die Ergebnisse um Längen besser als 2014 sind. Doch teamintern hat er gegen Neuling Vettel deutlich das Nachsehen. 76:160 Punkte sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn der "Iceman" wie zuletzt in Hungaroring mit dem technischen Defekt auf Rang zwei liegend mehr Pech hatte als der Deutsche. Doch auch in der Qualifikation liegt der Weltmeister von 2007 mit 2:8 haushoch hinten.
"Verglichen mit dem vergangenen Jahr ist dieses Jahr kein Desaster", betont der Finne gelassen, meint aber auch: "Es ist aber natürlich auch nicht das, was ich mir vorgenommen hatte. Das gilt vor allem für die Ergebnisse. Ich weiß, dass wir das Tempo haben, um bessere Ergebnisse einzufahren. Das Gefühl im Auto ist nicht das Problem. An den Rennwochenenden haben wir ein gutes Gefühl, aber es schleichen sich immer wieder Fehler ein, die uns Punkte kosten. Ich bin mir sicher, dass wir deutlich bessere Resultate einfahren können, wenn es uns gelingt, diese Probleme abzustellen."
Deutlich bessere Ergebnisse braucht er auch, will er sein Cockpit nicht verlieren. Schon das gesamte Jahr über ranken sich Gerüchte um eine mögliche Ablösung Räikkönens, die Ende Juli ausgelaufene Option wurde nach aktuellem Stand nicht gezogen - was aber nicht heißt, dass der Finne damit definitiv raus ist. Doch die Luft wird dünner für ihn, da helfen Unfälle wie in Spielberg mit Fernando Alonso nicht weiter, und auch das unverschuldete Aus in Budapest ist kontraproduktiv, denn Räikkönen braucht mit Kandidaten wie Valtteri Bottas und Nico Hülkenberg im Nacken vor allem eines: Ergebnisse.
Mit dem SF15-T sollten die aber auch möglich sein. Der Bolide ist deutlich besser als sein Vorgängermodell, mit dem Räikkönen nicht ein einziges Mal auf das Podium kam. Das sieht auch Vettel so: "Ich bin das letztjährige Auto zwar nicht gefahren, aber Kimi ist viel glücklicher mit dem aktuellen, von daher haben sie einen guten Job gemacht", lobt er sein Team.
Die Veränderungen greifen
Überhaupt hat sich in Maranello in diesem Jahr einiges geändert. Schlüsselpersonen wie die Teamchefs Stefano Domencali und Matteo Mattiacci, Chefingenieur Pat Fry, Designer Nikolas Tombazis, Motorenchef Luca Marmorini, Starpilot Fernando Alonso oder selbst Präsident Luca di Montezemolo mussten nach der langen Durststrecke gehen, für sie kamen neue Leute, die die Scuderia wieder auf Kurs gebracht haben.
"Auch im Hintergrund tut sich einiges, das man aber hier noch nicht sehen kann - es ist sehr vielversprechend. Das Projekt geht voran, und innerhalb der Mannschaft sind wir ziemlich stolz darauf, was das Team erreicht hat", sagt Vettel und spricht von "einer Art Wunder", was seinem Team gelungen ist. "Im Großen und Ganzen muss ich sagen, dass unsere eingeschlagene Richtung gut ist", stimmt ihm auch Teamchef Arrivabene zu.
Fotostrecke: Sebastian Vettels Weg zu Ferrari
Ein Kindheitstraum wird wahr: Sebastian Vettel fährt seit 2015 für die Scuderia Ferrari und tritt damit in die Fußstapfen seines großen Vorbildes Michael Schumacher. Wir zeichnen Vettels Weg zu Ferrari in 25 Schritten chronologisch nach. Fotostrecke
Doch auch wenn man positiv auf die abgelaufene Saisonhälfte blickt, so darf das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht sein, da ist man sich bei Ferrari einig. "Wir sind noch nicht zufrieden", fordert Vettel weiteren Einsatz von seinem Team und spricht schon eine Kampfansage in Richtung Mercedes: "Wir sind nicht hier, um genauso schnell zu sein wie ein anderer - wir wollen die Schnellsten sein."
"Aber was auch immer passiert: Es ist wichtig, dass wir die Moral und die Atmosphäre als Team behalten und in dieselbe Richtung arbeiten. Denn dadurch können wir wieder stärker werden und an die Spitze kommen, was unser Ziel ist." Die soll aber erst im kommenden Jahr angepeilt werden, für ein perfektes Jahr 2015 reicht ohnehin schon ein weiterer Sieg in den kommenden neun Rennen. Und sollte man die aktuelle Siegquote aufrecht erhalten können, winkt Maurizio Arrivabene ein langer, anstrengender Fußmarsch. Das dürfte er aber gerne in Kauf nehmen.