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2011: Ein Kanada-Grand-Prix für die Ewigkeit
Der längste Sonntag der Formel-1-Geschichte: 2011 feiert Jenson Button in Montreal seinen "größten Sieg" - Er triumphiert über den Regen, die Nerven und Vettel
(Motorsport-Total.com) - Zwei Kollisionen, eine Durchfahrtsstrafe, ein Reifenschaden und insgesamt fünf Boxenstopps. Kann man so ein Formel-1-Rennen gewinnen? Man kann. Genauer gesagt: Jenson Button kann es, wie er im Regenchaos des Kanada-Grand-Prix 2011 unter Beweis stellte. Der McLaren-Pilot sicherte sich den Sieg in der letzten Runde, weil Sebastian Vettel einen der wenigen Fehler seiner Weltmeisterjahre beging - doch das war gemessen an vier Stunden Motorsport-Wahnsinn fast noch Normalität.
Der Reihe nach: Historisches gibt es im Freien Training am Freitag zu vermelden: Die "Wall of Champions", die legendäre Streckenbegrenzung am Ausgang der letzten Schikane, findet ein neues Opfer: Vettel havariert seinen Red Bull an der Stelle, die zuvor Michael Schumacher, Damon Hill und Jacques Villeneuve eine Ladung Ersatzteile gekostet hat. Ist der verkorkste Start in das Wochenende schon ein kleiner Dämpfer für die Selbstsicherheit des in der WM führenden Heppenheimers?
Im Qualifying zeigt sich Vettel unbeeindruckt und holte die Pole-Position vor dem Ferrari-Duo Fernando Alonso und Felipe Massa, der vierte Rang geht an Teamkollege Mark Webber. Doch zu diesem Zeitpunkt ist die Strecke noch pudertrocken. Das ändert sich in der Nacht zum Sonntag, als Unwetter über Montreal aufziehen und vor Wassermassen kaum noch erkennbar ist, was Ile Notre-Dame und was Sankt-Lorenz-Strom ist. Der Himmel scheint die Schleusen nicht mehr zu schließen.
Button-Plage eins: Crash mit Teamkollege Hamilton
Als es um 13:00 Uhr Ortszeit losgehen soll, stehen noch immer Seen auf der Strecke. Dazu sagen die Wetterfrösche weitere Niederschläge voraus. Die Rennleitung entscheidet sich, das Rennen hinter dem Safety-Car zu starten, doch viele Piloten können ihr Auto schon bei Schleichfahrt kaum auf der Strecke halten. Das gilt umso mehr, als Bernd Mayländer in die Boxengasse abbiegt und die Ampeln auf Grün springen: Alonso versucht vergebens, den führenden Vettel zu überholen, dahinter krachen Webber und Lewis Hamilton zusammen.
Der Brite sorgt für weiteres Tohuwabohu: Nachdem er sich an Mercedes-Pilot Michael Schumacher die Zähne ausgebissen und Kanadas Grünflächen ein weiteres Mal besucht hat, fällt ein zunehmend frustrierter Hamilton hinter Button zurück und attackiert den Teamkollegen in Runde acht im Duell um einen Mittelfeldplatz rigoros. Als er auf der Start- und Zielgeraden nicht einmal auf halber Fahrzeughöhe ist und Button nach außen zieht, kommt es zur Kollision.
Button-Plagen zwei und drei: Rennleitung und falsche Strategie
Der Champion von 2008 scheidet nach Kontakt mit der Mauer mit gebrochener Hinterachse aus und das Safety-Car muss zum zweiten Mal ausrücken. Button kann wie durch ein Wunder weiterfahren, erhält aber kurz darauf eine äußerst umstrittene Durchfahrtsstrafe. Nicht für das Scharmützel mit dem Landsmann, sondern für das Fahren mit überhöhter Geschwindigkeit hinter dem Führungsfahrzeug. Als er sie absitzt, ist er in Runde 13 Letzter.
Er stellt seine Kämpferqualitäten unter Beweis, arbeitet sich auf Platz acht nach vorne, doch neues Unheil erreicht Button in Form des nächsten Regenschauers: Er hat kurz zuvor auf Intermediates gewechselt, die jetzt nicht einmal mehr als Schwimmflügel taugen. Ein weiterer Halt bei der Crew wirft Button erneut zurück. Was McLaren nicht ahnen konnte: Er hätte einfach nur auf dem Kurs bleiben müssen.
Die Rennleitung beordert in Runde 20 zum dritten Mal das Safety-Car auf die Strecke, weil die Gischt immer dichter und das stehende Wasser immer mehr wird. Nach sechs Umläufen Schwimmen hat Charlie Whiting genug gesehen: Mit der roten Flagge wird das Rennen unterbrochen, weil kaum noch die Hand vor Augen zu erkennen ist. Das große Warten beginnt, Informationen.
Button-Plage vier: Alonso-Crash mitsamt Plattfuß
Während der Unterbrechung darf an den Autos gearbeitet werden, was schon zwei Wochen zuvor in Monaco für Ärger gesorgt hat. Die Mechaniker können sich dazu nicht nur einen Espresso, sondern auch noch vier Latte Macchiato, sieben Cappuccini und ein Fünf-Gänge-Menü gönnen: Es dauert bis 15:50 Uhr und damit geschlagene zwei Stunden, ehe das Wetter es zulässt, dass das Rennen fortgesetzt wird. In Europa ist es 21:50 Uhr und so mancher Formel-1-Fan hat Geduld oder offene Augenlieder verloren.
Wer vor dem Fernseher döst, verpasst eines der spannendsten Finale der jüngeren Vergangenheit. Als es erneut hinter dem Safety-Car wieder losgeht, ist Vettel unverändert in Führung, dahinter liefern sich Sauber-Pilot Kamui Kobayashi und Lotus-Fahrer Nick Heidfeld mit Massa ein Duell um die Verfolgerrolle. Kurz darauf ist die Strecke trocken genug, um Intermediates einzusetzen, was auch Button nutzt.
Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in Kanada
1967 findet im Mosport Park in Bowmanville das erste Formel-1-Rennen in Kanada statt - und sorgt gleich für mehrere Highlights. Mit über 2:40 Stunden ist der verregnete Grand Prix das längste Rennen der gesamten Saison. Jackie Stewart, hier in Führung vor Jack Brabham, sieht die Zielflagge am Ende nicht. Fotostrecke
Als er in Runde 37 wieder auf die Strecke kommt, fällt er hinter Alonso zurück und versucht beim Anbremsen vor Kurve drei am Ferrari vorbeizugehen. Es kommt zu einem Rennunfall, der Spanier dreht sich von der Strecke und scheidet aus, Button schleppt sich mit einem Plattfuß zurück zur Box. Bernd Mayländer sammelt im Safety-Car weitere Führungskilometer. Für den McLaren-Star ist es bereits der vierte Halt bei der Crew und er fällt auf Rang neun zurück.
Das Blatt wendet sich: Safety-Car beschert Button spätes Glück
Dann schlägt die Stunde des Michael Schumacher: Der Montreal-Rekordsieger im Mercedes, dank cleverer Fahrt an vierter Stelle, nutzt einen Fahrfehler Kobayashis, der auch Massa seinen Platz kostet, und schnappte sich beide auf einen Schlag! Als er beim Restart nach der letzten Safety-Car-Phase kurz neben Vettel auftaucht, wittern einige schon die Sensation, letztendlich wird es im dramatischen Finish aber nur der vierte Platz - denn Kanada hat noch reichlich Querelen parat.
In der 56. Runde entscheiden Kobayashi und Heidfeld unfreiwillig den Grand Prix: Der Sauber-Pilot kommt im Senna-S auf die nasse Linie und muss abbremsen, um nicht von der Strecke zu fliegen, sodass ihm der von hinten drückende Heidfeld ins Heck fährt. Bei "Quick Nick" löst sich ein paar Meter weiter der Frontflügel und er crasht vor Kurve vier in den Notausgang. Trotzdem kommt zum sechsten Mal das Safety-Car auf die Strecke, sodass aus 13,3 Sekunden Rückstand des zu jenem Zeitpunkt wieder viertplatzierten Button plötzlich Schlagdistanz wird.
Vettel: Ein Fehler in vier Stunden kostet den Sieg
Ein überflüssiger Herzschlag-Moment: Beim hastigen Aufsammeln von Trümmerteilen rutscht ein Streckenposten kurz hinter Kurve drei aus, was ein Sauber-Pilot jedoch rechtzeitig erkennt und kurz vor dem Marshall zum Stehen kommt. Als die Strecke frei von Unrat und Menschen ist, beginnt der letzte Akt der Button-Show in Runde 64: Er kassiert erst Webber, dann ist Schumacher leichte Beute, auf den das ganze Rennen über führenden Vettel holt er mit Siebenmeilenstiefeln auf.
Im vorletzten Umlauf ist Button innerhalb des DRS-Fensters und kurz darauf auf 0,9 Sekunden dran an dem Red-Bull-Star. Als alle mit einem Showdown in der DRS-Zone vor der letzten Schikane rechnen, passiert es: Vettel hält dem Druck nicht stand, verbremst sich in Kurve sechs und muss Button passieren lassen. Er fährt nach unglaublicher Achterbahnfahrt mit zwei Kollisionen, einer Durchfahrtsstrafe, einem Reifenschaden und insgesamt fünf Boxenstopps als Sieger über die Ziellinie.
"Ich weiß nicht, was ich sagen soll - ich bin sehr gerührt", ist der McLaren-Pilot sprachlos. "Selbst wenn ich nicht gewonnen hätte, hätte ich dieses Rennen sehr genossen. Das war wahrscheinlich mein größter Sieg." Die deutschen TV-Zuschauer, die durchgehalten haben, dürften ähnlich viel Spaß gehabt haben. Diejenigen, die um kurz nach 23 Uhr schon träumten, reichlich Frust über das verpasste Finale furioso beim längsten Formel-1-Rennen in der Geschichte.
Übrigens: Die Hängepartie von Montreal 2011 hat auch für das Reglement Konsequenzen. Heute heißt in den Formel-1-Bestimmungen: Ein Rennen ist unabhängig von der tatsächlichen Fahrzeit beendet, wenn vier Stunden seit dem Start verstrichen sind.