2010: Ein Bahrain-Grand-Prix für die Ewigkeit
Kaum Action, aber jede Menge Diskussionen: Alonso im Ferrari, Schumachers Comeback, ein Pantomime-Schacht als Sicherheitsrisiko und die große Langeweile
(Motorsport-Total.com) - Der 14. März 2010 sollte als denkwürdiges Datum in die Geschichte der Formel 1 eingehen. Nicht, weil der Grand Prix von Bahrain, erst zum zweiten Mal nach 2006 Saisonauftakt, ein besonders spannendes Autorennen gewesen wäre. Vielmehr hagelte es danach Kritik an der Königsklasse, der die Verantwortlichen über den Winter ein neues Gesicht verpasst hatten. Aber Bahrain 2010 markierte den Beginn einer neuen Ära, den Beginn einer neuen Formel 1.
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Start zum Großen Preis von Bahrain 2010, ein Rennen mit vielen Unbekannten... Zoom Download
Und das nicht einmal wegen des Comebacks von Rekord-Weltmeister Michael Schumacher, noch dazu in einem reinrassigen Mercedes-Silberpfeil, einem deutschen Nationalteam. Auch nicht wegen Fernando Alonsos Sieg gleich in seinem ersten Rennen für Ferrari - der vermeintlich märchenhaften Beginn einer märchenhaften Erfolgsstory, die nach fünf Jahren dann doch ohne einen einzigen WM-Titel enden sollte.
Und auch nicht wegen der unglaublichen Rückkehr des Felipe Massa, der ein halbes Jahr zuvor beim Grand Prix von Ungarn eine Stahlfeder ins Gesicht bekommen hat und um seine Karriere fürchtete, an diesem denkwürdigen Sonntag aber als Zweiter gleich auf dem Podium in seine Formel-1-Karriere zurückkehrt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es in Ferrari-Gedankenspielen ursprünglich Michael Schumacher gewesen wäre, der ihn hätte ersetzen sollen.
Doch kein Medaillenspiegel in der Formel 1
Nein, Bahrain 2010 ist in erster Linie eine Revolution des Reglements: Bernie Ecclestone ist damit gescheitert, seine Medaillenspiegel-Idee mit einem Goldmedaillen-Champion als Weltmeister durchzusetzen. Also haben sich die Teams auf ein neues Punktesystem verständigt: Ab sofort 25 statt zehn Punkte für den Erstplatzierten und 18 statt acht für den Zweiten, um Grands-Prix-Siege wieder aufzuwerten. Und statt für acht gibt es nun gleich für zehn Fahrer WM-Zähler.
Fotostrecke: Triumphe & Tragödien in Bahrain
Wir schreiben das Jahr 2004, als die Formel 1 in eine völlig neue Welt eintaucht: Erstmals findet ein Grand Prix in der arabischen Welt statt. Das Besondere an der von Hermann Tilke gebauten Strecke: Sie wurde direkt in die Wüste gepflanzt. Das bedeutet für die Teams eine zusätzliche Herausforderung. Denn neben der meist großen Hitze wird häufig Sand auf die Strecke geweht, der dann im Auto für Probleme sorgen kann. Fotostrecke
Dazu kommen drei neue Teams (HRT, Lotus und Virgin), die nach langem Hickhack nicht mit freiwilliger Budgetobergrenze und Regel-Privilegien fahren dürfen, sondern unter gleichen Voraussetzungen wie alle anderen - und hoffnungslos unterlegen sind (nur Heikki Kovalainen im Lotus sieht als 15. und Letzter mit zwei Runden Rückstand die Zielflagge). Zumindest sorgen sechs zusätzliche Autos für das größte Formel-1-Starterfeld seit 1995.
Aber die wahre Revolution kommt woanders her: McLaren baut erstmals einen so genannten F-Schacht in sein Auto ein. Um die Höchstgeschwindigkeit auf der Geraden zu erhöhen, konstruiert das Team ein System, bei dem Luft durch Kanäle im Fahrzeug geleitet wird, um an anderer Stelle einen Strömungsabriss zu bewirken. Der aerodynamische Anpressdruck wird reduziert und der Topspeed verbessert. Doch die Sache hat einen Haken: Der Pilot muss das Ganze im wahrsten Wortsinn manuell herbeiführen.
F-Schacht: Erst Revolution, dann Sicherheitsrisiko
McLaren lässt die Fahrer das Knie auf eine Öffnung innen im Chassis drücken. Das bringt je nach Setup und Streckenbeschaffenheit bis zu 10 km/h mehr Höchstgeschwindigkeit. Den Namen F-Schacht verpassen die Formel-1-Journalisten der Technik, weil die Luftzufuhr über einen "Schnorchel" auf der Nase erfolgt, der am Buchstaben "f" des "Vodafone"-Sponsorenschriftzuges sitzt. Es scheint, als hätte der MP4-25 die Königsklasse revolutioniert, doch die Angelegenheit wird zum Politikum.
Schnell beginnen die Diskussionen um ein Sicherheitsrisiko. Denn: Die Technik funktioniert und die Konkurrenten schmeißen sich sofort ans Zeichenbrett, um mit ähnlichen Lösungen aufzuwarten. Ferrari treibt es wenig später auf die Spitze. Die Scuderia rüstet ihre Fahrer mit speziellen Lederhandschuhen aus, die mit einer gepolsterten Außenseite dazu dienen, ein Loch in der Verkleidung neben dem Lenkrad abzudichten. In schnellen Kurven fahren die Piloten also einhändig, um sich einen Vorteil zu verschaffen.
Die Beteiligten haben genug gesehen: Schon beim Spanien-Grand-Prix zwei Monate später wird entscheiden, die Technik ab 2011 generell zu verbieten. Doch sie feiert wenig später ein Comeback: Mercedes führt mit seinem 2012er Formel-1-Modell W03 einen passiven F-Schacht ein, der an den Knopf für den umklappbaren Heckflügel DRS gekoppelt ist. Die Überholhilfe, die zwischenzeitlich debütierte, wird dabei effizienter gemacht, indem sich auch eine kleine Klappe am Heckflügel öffnet. Es hagelt Proteste gegen das "Doppel-DRS", doch die FIA befindet es für legal - bis die Technische Arbeitsgruppe auch den Nachfolger mit einer Reglementnovelle 2013 endgültig verbannt.
PS-Schach statt Vollgasparty
Doch der Bahrain-Grand-Prix 2010 wartet mit weiteren Neuerungen auf, die mehr Bestand haben. Es gibt wieder ein Nachtank-Verbot: Erstmals seit der Saison 1993 darf beim Boxenstopp während des Rennens kein Benzin nachgefüllt werden. Das sollte der neuen Formel 1 zu Beginn der Saison 2010 seinen Stempel aufdrücken, denn plötzlich hat die Königsklasse nicht mehr "Look & Feel" von Sprint-, sondern von Langstreckenrennen. Denn wer die Pneus schont, kann sich einen Halt bei der Crew sparen und ist im Vorteil.
Das gilt auch für den ersten WM-Lauf in der Wüste von Sachir: Nach sechs Runden führt Sebastian Vettel im Red Bull 2,1 Sekunden vor Fernando Alonso im Ferrari - und weil sich keiner traut, die 2010 zum letzten Mal verwendeten Bridgestone-Reifen ans Limit zu belasten, passiert zunächst praktisch gar nichts. Ein bisschen Chaos am Start, ein tolles Überholmanöver von Robert Kubica im Renault - das war's dann auch schon an Rennaction. Vor Alonsos erstem Boxenstopp in der 16. Runde hat Vettel gut fünf Sekunden Vorsprung.
Eine Runde später kommt auch der spätere Weltmeister rein. Es sollte der einzige Boxenstopp des Rennens bleiben. Sprich: Als klar ist, dass Vettel an der Box seine Führung nicht verliert, muss die Entscheidung auf der Strecke fallen. Und zunächst sieht alles so aus, als habe Red Bull den Grand Prix im Griff. "Unser Vorsprung ist groß genug, wir haben die Ferraris unter Kontrolle. Sebastian hat einen schönen Rhythmus gefunden und fährt sehr gut", sagt Teamchef Christian Horner in der 28. Runde.
Vettel fährt zwar nur drei Sekunden vor Alonso, achtet aber stets darauf, seine Reifen zu schonen. Nur wenn der Ferrari-Pilot kurzfristig schneller macht, muss auch er zulegen - solche Angriffsphasen halten die Pneus nicht länger als ein, zwei Runden durch. Formel-1-Kommentatoren aus aller Herren Länder müssen in jenen Minuten eine neue Form des Grand-Prix-Sports lesen lernen, ein PS-Schach, bei dem nicht mehr zwangsläufig das schnellste Auto mit dem mutigsten Gasfuß gewinnt, sondern derjenige, der es versteht, sein Material so nahe wie möglich am Limit zu bewegen, ohne das Limit zu lange zu überschreiten.
Vettel geht die PS-Puste aus
Gerade als Millionen von TV-Zuschauern vor Langeweile einzuschlafen drohen, überschlagen sich dann doch die Ereignisse: Alonso kommt plötzlich bis auf 1,5 Sekunden an Vettel heran, saugt sich in den Windschatten - und zieht in der 34. Runde mühelos vorbei. Im Heck des eben noch führenden Red Bull klingt der Renault-Motor alles andere als gesund. Später stellt sich heraus: Was der Kommandostand zunächst für einen gebrochenen Auspuff hält, ist in Wahrheit eine kaputte Zündkerze.
"Könnt ihr irgendwas tun, um das zu reparieren?", fragt Vettel in der 36. Runde, als beide Ferraris schon durch waren, aber sein Renningenieur hat keine guten Nachrichten: "Negativ, negativ." Später schiebt ihn Lewis Hamilton, im McLaren mit (Kunden-)Mercedes-Power phasenweise der schnellste Mann des Rennens, sogar noch vom Podium. Aber die große News des Tages ist: Alonso und Ferrari, das scheint vom ersten Tag an eine Erfolgsstory zu sein!
"Das ist ein besonderer Tag für mich. Nach so langer Zeit wieder zu gewinnen, ist wunderschön, aber noch dazu ist es mir mit Ferrari gelungen. Besser kann eine solche Beziehung nicht beginnen! Ferrari ist das beste Team der Welt", schwärmt der Spanier, der 2009 auf Renault nur ein einziges Mal auf dem Podium gestanden war. Und Teamkollege Massa, wenige Monate zuvor noch auf der Intensivstation, ist sowieso den Tränen nahe: "Es ist fantastisch, heute hier zu sitzen. Ich danke Gott dafür!"
Die Silberpfeile und "Schumi" punkten
Michael Schumacher wird bei der Geburtsstunde der modernen Mercedes-Silberpfeile (zunächst mit Testfahrer Nick Heidfeld noch als deutsches Nationalteam konzipiert) Sechster, nur vier Sekunden hinter Teamkollege Nico Rosberg, aber 44 Sekunden hinter Sieger Alonso - weshalb Mercedes, im Jahr zuvor als Brawn-Team noch überlegen Weltmeister, von den deutschen Mainstream-Medien zerrissen wird. Von einer silbernen Dominanz ist am 14. März 2010 noch nichts zu erahnen.
Und auch an der neuen Formel 1 sparen Medien und Experten nicht mit Kritik. McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh, Sprachrohr der Teamvereinigung (FOTA), sieht ein, dass man zusammenarbeiten müsse, um das Produkt zu verbessern, und Einstopp-Rennen ohne strategische Abweichungen werden als allergrößtes Übel ausgemacht. David Coulthard schlägt sogar einen verpflichtenden zweiten Boxenstopp vor.
Nach Bahrain sollte die Formel 1 erst 2012 wieder zurückkehren: 2011 wird das Rennen wegen des Arabischen Frühlings abgesagt, 2012 findet es nur unter großen Protesten und scharfen Sicherheitsvorkehrungen statt. Dann allerdings nicht mehr auf der 6,299 Kilometer langen Langstrecken-Variante, sondern wieder auf dem Grand-Prix-Kurs. Denn die längere Streckenversion - auch daran wird Kritik geübt - habe das Überholen, wenn überhaupt, dann noch schwieriger gemacht...
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