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Formel-1-Tests 2015 in der Analyse: Mercedes unschlagbar?
Chefredakteur Christian Nimmervoll analysiert, was eigentlich nicht zu analysieren ist: Mercedes auf dem Weg zum WM-Titel, dahinter drei Teams in Lauerstellung
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
heute vor einer Woche, also nach dem ersten der beiden Barcelona-Tests, habe ich in einer Kolumne durchleuchtet, warum man auf die erzielten Rundenzeiten nicht viel geben sollte. Aber weil das Interesse der Fans an Kräfteverhältnis vor dem Saisonauftakt enorm ist und weil nach Ende aller zwölf Testtage dieses Winters zumindest einige Anhaltspunkte vorhanden sind, um sich auf eine vage Schätzung einzulassen, will ich genau das versuchen - als "educated guess", also auf Basis von den vorliegenden Informationen. Aber letztendlich kann es sich dabei immer nur um genau das handeln: eine Schätzung. Es würde mich selbst überraschen, würde mich das tatsächliche Kräfteverhältnis in Melbourne nicht überraschen...
Unangefochtener Topfavorit: Mercedes
Darüber, wer beim Saisonauftakt in knapp zwei Wochen den Ton angeben wird, gibt es unter normalen Umständen keinerlei Diskussion: Der Mercedes F1 W06 Hybrid war nicht nur von Anfang an das zuverlässigste, sondern auch das schnellste Auto. Ein sechsköpfiges Mercedes-Ingenieursteam, das sich mit nichts anderem als dem Errechnen der Stärke der Konkurrenz beschäftigt, geht laut 'auto motor und sport' davon aus, dass der Silberpfeil Stand Barcelona II um 0,8 Sekunden pro Runde schneller ist als die Konkurrenz.
"Mercedes hat einen Vorsprung", nickt Williams-Chefingenieur Pat Symonds. Die Größe dieses Vorsprungs sei aber "kaum einzuschätzen". Daniel Ricciardo von Red Bull befürchtet: "Mercedes ist in einer anderen Dimension. Sie werden in Melbourne in der ersten Reihe stehen." Und sein Teamchef Christian Horner ergänzt: "Die sind ja auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Wenn sie noch einmal 50 PS gefunden haben, dann stecken alle anderen in Problemen."
Sogar Toto Wolff, als Sportchef naturgemäß eine notorische Euphoriebremse, kann gar nicht mehr anders, als zuzugeben, dass Mercedes derzeit an der Spitze zu sein scheint. Und auch Lewis Hamilton sieht keinen Grund, den optimistischen Berechnungen seines Teams zu misstrauen: "Natürlich wissen die Ingenieure, wer wo steht oder wo wir uns im Vergleich befinden."
McLaren-Pilot Jenson Button sieht Mercedes "meilenweit" vor allen anderen. Für Symonds kam der Wendepunkt erst am Freitag, als Nico Rosberg mit Soft-Reifen 1:22.792 Minuten in den spanischen Asphalt brannte. Zwar waren Williams und Ferrari auf rund eine halbe Sekunde an dieser beeindruckenden Marke dran, aber die benötigten dafür Supersoft-Pneus. "Von der Zeit am Freitag waren wir überrascht, die war beeindruckend", räumt Symonds ein. "Bis dorthin dachten wir, dass ihr Vorsprung ungefähr auf dem Niveau des Vorjahres liegen würde."
Mercedes hat an zwölf Testtagen 6.121 Kilometer zurückgelegt (mehr als jedes andere Team) - und das noch dazu mit nur einem einzigen Motor! Zwar trat am vergangenen Donnerstag ein Defekt der MGU-K auf, und ein Abflug von Rosberg sowie eine Grippe von Hamilton waren ebenfalls nicht ideal, doch größere Krisen sucht man im nun beendeten Winter vergeblich.
Wenn überhaupt, dann ortet der eine oder andere Konkurrent nur eine potenzielle Achillesferse: die Konstanz über längere Distanzen. "Einige bauen ab, einige haben die Reifen noch nicht im Griff", erklärt Button, ohne mit Namen konkret zu werden. Doch die Tendenz, wegen einer Hecklastigkeit insbesondere die Antriebsräder zu stark zu verschleißen (wie 2013, als Rosberg in Bahrain von der Pole auf Platz neun durchgereicht wurde), ist der einzige klitzekleine Strohhalm, an den sich die Mercedes-Konkurrenten derzeit klammern.
Für den überragenden Speed und das große Selbstbewusstsein des Weltmeister-Teams spricht indes, dass es Mercedes gar nicht erst für nötig befunden hat, an den zwölf Testtagen auch mal Pirellis Supersoft-Reifen auszuprobieren. Trotzdem hatte man die Nase immer dann vorn, wenn man mal auf Zeitenjagd ging - auch gegen Konkurrenten mit weicheren Reifenmischungen auf eindeutigen Qualifying-Simulationen. Alles andere als ein Mercedes-Weltmeister wäre 2015 eine Überraschung.
Die Verfolger: Williams, Ferrari und Red Bull
Auch wenn Sauber gleich beim ersten Test in Jerez mit starken Zeiten brillierte, erwarten die Experten 0,8 Sekunden hinter Mercedes eine dicht beisammen liegende Verfolgergruppe mit Williams, Ferrari und Red Bull. Laut Informationen von 'auto motor und sport' liegen diese drei Teams innerhalb von einer Zehntelsekunde, wobei Williams lang bluffte, Red Bull schlecht startete und Ferrari auf eine Runde besser aussieht als bei den Longruns.
Wenn ich mich festlegen müsste (was ich zum Glück nicht muss): Ich würde Williams bei den ersten Rennen als ersten Mercedes-Verfolger sehen. Das spiegelt auch die kulminierte Zeitentabelle des Tests Barcelona II so wider (die man allerdings mit großer Vorsicht genießen sollte). Lotus-Fahrer Pastor Maldonado stimmt mit mir überein: "Ich sehe Williams an der Spitze dieser Gruppe, aber nicht weit."
Williams-Mann Pat Symonds wiegt sich keineswegs in Sicherheit, wenn es um die erste Verfolgerposition geht: "Hinter Mercedes sind wir zusammen mit Ferrari und Red Bull. Da geht es eng zu. Ferrari hat aus meiner Sicht den größten Schritt gemacht. Man darf aber nie irgendein gutes Team unterschätzen. Red Bull wird dabei sein. Wenn McLaren die aktuellen Probleme in den Griff bekommt, dann werden auch sie gut sein."
Definitiv hat Williams aus diesem Trio den besten Motor. Probleme während der Tests waren eine Seltenheit: Beim Auftakt harkte es mit der Installation des Mercedes-Antriebs, Susie Wolff kollidierte einmal mit Sauber-Rookie Felipe Nasr. Aber dass das Team einen ganzen Tag lang nur für Boxenstopp-Übungen reservierte und dreimal früher aufhörte, weil man zufrieden war und einfach nichts mehr zu testen hatte, spricht für ein gesundes Selbstbewusstsein.
Bei Ferrari gab es das eine oder andere Problem mit defekten Sensoren, das größte Drama war aber ein Unfall von Sebastian Vettel in Barcelona - ein Fahrfehler, wie sich später herausstellte. Der SF15-T scheint einigermaßen zuverlässig zu sein, funktioniert für Kimi Räikkönens Fahrstil viel besser als das 2014er-Modell und ist auch im Konkurrenzvergleich schneller geworden. Fehlten vor einem Jahr noch fast zwei Sekunden auf Mercedes, so soll es inzwischen weniger als eine sein.
Auch Red Bull steht besser da als im März 2014. Zwar ist und bleibt der Renault-Antrieb ein Sorgenkind, auch wegen ein paar technischer Probleme; aber das PS-Defizit ist mutmaßlich kleiner geworden. Bei den Rennsimulationen in der letzten Testwoche waren die durchschnittlichen Rundenzeiten des RB11 sogar etwas schneller als jene von Ferrari. Ob sich das unerfahrene (aber zweifellos schnelle) Duo Ricciardo/Kwjat gegen Kaliber wie Williams' Mercedes-Power und Vettel/Räikkönen bei Ferrari konstant durchsetzen kann, bleibt ein Fragezeichen.
Das hintere Mittelfeld: Schwierig du durchschauen
Hinter den vier Topteams sehe ich das Kräfteverhältnis momentan folgendermaßen: Lotus (drei Tagesbestzeiten - das hat sonst nur Mercedes geschafft) vor Toro Rosso, McLaren, Sauber und Force India. Hier widerspricht mir Maldonado übrigens, denn er sieht Lotus eher in der ersten Verfolgergruppe: "Hinter Mercedes und Williams folgen Red Bull, Ferrari und wir, vielleicht noch Force India. Die sind erst in dieser Woche gekommen, sehen aber recht gut aus." So oder so: Auch diese Gruppe könnte eng beisammen liegen.
Das ist aber viel schwieriger zu bewerten, weil ein Team in finanziellen Nöten (und das trifft im hinteren Mittelfeld gleich mehrere) eher verlockt ist, im Winter mal die Vorsätze für eine solide Saisonvorbereitung über Bord zu werfen und für positive Schlagzeilen zu sorgen, um Sponsoren anzulocken. Dass zum Beispiel Sauber in der ersten Testwoche dreimal Zweiter wurde und sogar eine Tagesbestzeit erzielte, entspricht mit Sicherheit nicht dem wahren Kräfteverhältnis.
Nach Jerez lief es für die Schweizer nicht mehr ganz so rund. Nasr hatte am ersten Tag des ersten Barcelona-Tests eine Kollision mit Wolffs Williams, und auch technische Probleme kosteten in jener Woche wertvolle Fahrzeit. In der vergangenen Woche schaffte der C34 dafür gleich mehrere Renndistanzen, sodass zumindest die Zuverlässigkeit stimmen sollte. Die Balance machte hingegen keinen hundertprozentig stimmigen Eindruck, insbesondere nicht am Kurveneingang.
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Toro Rosso erlebte genau wie das Schwesternteam Red Bull die eine oder andere technische Krise mit dem Renault-Antrieb. In Jerez konnten die Rookies Max Verstappen und Carlos Sainz wegen eines Problems mit der MGU-K-Wasserpumpe nur kurze Runs absolvieren. Nach Barcelona kam Toro Rosso allerdings mit einem runderneuerten Chassis, das Technikchef James Key als "fast komplett neues Auto" bezeichnet. Damit schaffte Toro Rosso beim Test Barcelona II die fünftbeste Zeit aller Teams.
Toro Rosso lag damit knapp hinter Sauber und praktisch gleichauf mit Lotus. Lotus hatte einen schwierigen Start in den Winter: Zuerst kam das Auto verspätet in Jerez an, dann war die Fahrzeit wegen einer ganzen Reihe Kinderkrankheiten stark eingeschränkt. Beim Test Barcelona II allerdings gab es drei Bestzeiten an vier Tagen plus die absolute Wochenbestzeit, aufgestellt von Romain Grosjean auf Supersoft-Walzen.
Teamkollege Maldonado wurde indes wieder einmal seinem Ruf als Crashpilot gerecht: Einmal landete er am Ende eines Testtags in der Boxenmauer, ein andermal verunfallte er auf der Strecke. Für den zweiten Crash wird er allerdings vom Team in Schutz genommen: Ein Bremsdefekt habe ihm keine Chance gelassen, sodass in jener Situation auch jeder andere Fahrer sein Auto aus der Kontrolle verloren hätte.
Force India einzuschätzen, ist äußerst schwierig. Positiv: Der VJM08 war vom ersten Tag an zuverlässig, schaffte in Barcelona II an zweieinhalb Tagen 1.699 Kilometer - nur um 52 weniger als McLarens MP4-30 in drei Wochen. Bis wenige Tage vor der Jungfernfahrt am vergangenen Freitag hatte es noch so ausgesehen, als würde das Team wegen finanzieller Engpässe Schwierigkeiten haben, überhaupt ein fertiges Chassis zum Saisonauftakt zu bringen.
Und das wirkt sich dann auch auf die Performance aus. Obwohl der VJM08 zumindest äußerlich eine Weiterentwicklung zum VJM07 aus der Formel-1-Saison 2014 zu sein scheint, steckt viel gleiche Technik drin. Selbst Sergio Perez muss zugeben, dass man momentan "zwei Schritte hinterher" sei. In Melbourne die Q1-Hürde zu nehmen, wäre ein Achtungserfolg - etwaige Punkte werden zumindest am Saisonbeginn nur über die Zuverlässigkeit zu gewinnen sein.
Das große Fragezeichen im hinteren Mittelfeld ist und bleibt McLaren. Mit durchschnittlich nur 146 Kilometern pro Testtag ist der MP4-30 mit großem Abstand Schlusslicht, und die Probleme waren vielfältig: Tagelang narrte eine Dichtung der MGU-K die Ingenieure und behinderte den Fahrbetrieb - und fast immer hatten die Defekte mit dem brandneuen Honda-Antrieb zu tun. Der klang auch selten gesund, wenn Fernando Alonso, Jenson Button oder Kevin Magnussen doch mal unterwegs waren.
Obwohl bei der Präsentation angekündigt wurde, dass man sich auf ein vielversprechendes, aber riskantes technisches Konzept entschieden habe, das eigentlich schnell sein sollte, sobald der Honda-Antrieb einmal reibungslos läuft, konnte McLaren nicht mit Topzeiten brillieren. Die Sternstunde des Winters war der vergangene Samstag, als Button 101 Runden schaffte - und Honda schon hoffte, über den Berg zu sein. Doch an den Schlusstagen sorgten dann ein Ölleck und ein defekter Sensor dafür, dass das Auto wieder mehr in der Garage stand als auf der Strecke fuhr.
Dass McLaren das größere Potenzial hat als Toro Rosso, Sauber und Force India, liegt auf der Hand. Sowohl McLaren als auch Honda haben das nötige Geld und die technischen Ressourcen, um einen Turnaround noch während der Saison 2015 zu schaffen und sich an die Spitze dieser Gruppe zu setzen - nicht nur, aber auch wegen des fahrerischen Potenzials zweier Ex-Weltmeister im Team. Fernando Alonsos rätselhafter Unfall am letzten Tag des ersten Barcelona-Tests sorgt bei manchen aber immer noch für Stirnrunzeln.
Fazit: Glauben heißt nicht wissen
Mein "educated guess" basiert auf Rundenzeiten-Tabellen, Longrun-Analysen, Annahmen von Benzinmengen, Eindrücken von Insidern und ein wenig Bauchgefühl. Aber wenn Team A bei einem direkten Rennsimulations-Vergleich auch nur zehn Kilogramm mehr Benzin an Bord hatte als Team B (und das können wir als Außenstehende unmöglich wissen), sind alle Berechnungen hinfällig. Daher kann der Rat weiterhin nur lauten: Am Melbourne-Wochenende unseren Live-Ticker verfolgen, denn das Schöne am Sport ist: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt! Ansonsten wären wir ja alle Sportwetten-Millionäre...
Und selbst wenn spätestens am Qualifying-Samstag in Melbourne erstmals die Hosen runtergelassen werden, wird die Startaufstellung nur die halbe Wahrheit sein. Denn der Kurs im Albert Park ist eine sehr spezielle Strecke, die nur selten repräsentativ für den weiteren Saisonverlauf ist - man denke nur an Kevin Magnussens zweiten Platz im McLaren vor einem Jahr. "Ab China oder Bahrain wissen wir wirklich, wo wir stehen", sagt Pat Symonds. "Melbourne ist immer zu außergewöhnlich, um dort eine Hackordnung fest herauszulesen."
Christian Nimmervoll
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