Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lance Stroll
Warum die Geldgier von Liberty Media für die Zukunft der Formel 1 gefährlich ist und Lance Strolls Gleichgültigkeit langsam unerträglich wird
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
© Motorsport Images
Lance Stroll schaffte es in Sao Paulo nicht einmal in die Startaufstellung Zoom Download
kann sich eigentlich noch jemand an das Qualifying erinnern? Ihr wisst schon, jene unglaubliche Session, die am Sonntagmorgen um 7:30 Uhr (Ortszeit) in Interlagos gefahren wurde, an deren Ende fünf rote Flaggen standen und ein dritter Platz für Yuki Tsunoda? In der sich Max Verstappen fürchterlich aufregte, weil er sich mal wieder von der FIA betrogen fühlte, und in der es ganz so aussah, als könnte die WM vielleicht doch noch kippen?
Wie lang sich 24 Stunden doch manchmal anfühlen können! Zumindest in mein Langzeitgedächtnis hat sich das legendäre Sao-Paulo-Qualifying, gefahren nicht am Samstag, sondern am Sonntag, nicht eingebrannt. Denn niemand hat nachher drüber geredet. Nicht, weil es kein denkwürdiges Qualifying gewesen wäre. Sondern weil es gleich danach mit dem Rennen weiterging und die Erinnerungen ans Qualifying im Kurzzeitspeicher überschrieben wurden.
Auf dem YouTube-Kanal unserer Plattform Formel1.de gibt's eine Gruppe von ungefähr 800 Kanalmitgliedern. Ein paar davon kennen sich von unseren monatlichen Zoom-Stammtischen (zuletzt übrigens mit Stargast Ralf Schumacher) und haben sich, wie viele Stammtische das tun, parallel dazu selbst in einer WhatsApp-Gruppe organisiert. Es ist eine geschlossene Gruppe, in der nur die Hardcores unter den Hardcores miteinander über die Formel 1 fachsimpeln.
Um 19:53 Uhr am Sonntagabend, also kurz nach Rennende, schrieb ein User dort: "Jetzt brauche ich erstmal eine Pause von der Formel 1." Und nur zehn Minuten später ergänzte ein anderer: "Ich kann dir nur beipflichten. Quasi fünf Rennen (wenn ich die Sprints mitzähle) in quasi zwei Wochen sind echt too much."
Soll heute nicht unser Thema sein, liebe Freunde von Liberty Media. Aber ich möchte dieses Beispiel aufgreifen, um dran zu erinnern, dass ihr es womöglich zu weit treibt mit dem gnadenlosen Melken der Formel 1.
Ich selbst formuliere das immer so: Ich esse zwar manchmal wahnsinnig gern eine Semmel mit warmem Leberkas aus dem Glas von HUPSI. Aber würde ich mir jeden Tag eine HUPSI-Semmel reindrücken, würde ich erstens (noch mehr!) in die Breite gehen, und zweitens würde mir selbst mein Lieblings-HUPSI (Chili-Käs-Käs) irgendwann mal raushängen.*
War da nicht irgendwas mit einem "Skandal"?
Vielleicht sollte man bei Liberty also erstmal die Prioritäten neu ordnen, bevor man den Kalender noch weiter aufbläht. Auf dem amerikanischen Heimatmarkt in den USA zum Beispiel, wo sich die höchsten Gremien bis hinauf zum US-Kongress mit der Frage beschäftigen, ob nicht die Entscheidung, Andretti nicht in der Formel 1 zuzulassen, womöglich den Geruch kartellrechtlich illegaler Absprachen hat.
Übrigens ein Fall, über den wir auf unseren Plattformen seit Mai intensiv berichten und der jetzt plötzlich auch von anderen Medien als Skandal hochgejazzt wird. Toto Wolff soll in Austin sogar mit einem persönlichen Anwalt aufgetaucht sein, wegen eines angeblichen Besuchs durch Beamte des Justizministeriums. Nur: Weder Wolffs persönlichen Anwalt noch die Ermittler hat man bei Mercedes vor Ort gesehen.
Lance Stroll: Mit der Strahlkraft eines Besenstiels
Wie dem auch sei: Während Stefano Domenicali also die sprudelnden Dollars zählt und in den Geldspeicher der Liberty-Aktionäre schaufelt, während selbst die hartgesottensten Fans der Formel 1 froh sind, dass es jetzt endlich mal zwei Wochenenden lang keine Formel 1 gibt, fällt mir mindestens noch einer ein, der wahrscheinlich froh ist über die Pause vor Las Vegas: Lance Stroll.
Stroll jun. war im April, nach seiner Realitätsverweigerung beim Grand Prix von China, schon einmal Gegenstand dieser Kolumne, die montags immer zumindest den Versuch anstellt, einen Verlierer des Rennwochenendes zu identifizieren. Und vieles von dem, was ich im April geschrieben habe, könnte ich heute wiederholen. Copy & Paste. So viel hat sich nicht geändert.
Was ich mich allerdings frage: Wenn Lance als offizieller Vertreter der Marke Aston Martin, in die sein Papa einen ganzen Haufen Geld investiert hat, in einer FIA-Pressekonferenz sitzt, dort so gelangweilt auftritt, dass ihm der Moderator die Fragen ein zweites Mal vorlesen muss, weil er beim ersten Mal nicht zugehört hat, tut er dann dem Ansehen von Aston Martin wirklich einen Gefallen?
Redet darüber wirklich niemand mit dem Seniorchef?
Kann es wirklich sein, dass der ganze Paddock über Strolls lustlose Auftritte redet, aber niemand im Team Papa Stroll erklärt, dass es hart an Arbeitsverweigerung grenzt, wie sein Sohn bei öffentlichen Terminen auftritt? Hat niemand intern je auf den Tisch gehauen und sowohl Papa als auch Sohnemann Stroll klargemacht, dass ein freundliches Lächeln nicht von den Rennkommissaren bestraft, sondern von den meisten Arbeitskollegen ganz nett gefunden wird?
Und wenn doch: Warum reagiert Stroll jun. nicht auf die Ansagen aus dem Team und tritt von Wochenende zu Wochenende immer wieder so lustlos auf? Oder, wie ich es im April formuliert habe: wie eine mürrische Eiskunstlaufprinzessin, die von ihrer ehrgeizigen Mama zum Training gezwungen wird, um vielleicht eines Tages doch noch Olympiasiegerin zu werden.
Sicher, Lewis Hamilton geht am Ende seiner goldenen Mercedes-Jahre auch nicht jeden Morgen mit einem breiten Grinsen zur Arbeit. Aber inzwischen sagt eh fast jeder, dass es gut ist, dass diese Ära zu Ende geht und er bald bei Ferrari versucht, eine neue zu beginnen.
Eine Erkenntnis, die rund um Stroll jun. wohl noch nicht eingekehrt ist. Timo Glock hat es dieser Tage bei Sky Nagel auf den Kopf formuliert, wie ich finde: "Es gibt ja auch das eine oder andere Video aus der Pressekonferenz, da kannst du nur noch den Kopf schütteln. Das macht einen schon sprachlos, muss ich echt sagen", sagt er über den 26-jährigen Kanadier.
Die Sache ist die: Stroll lebt den Traum von Millionen von Kids auch deswegen, weil es womöglich der Traum seines Papas war. Irgendwie hat sich über die Jahre rausgestellt, dass er ein wirklich begnadeter Autorennfahrer sein kann. Ich meine das ganz ironiefrei. Der Kerl gehört an seinen besten Tagen zum Besten, was die Formel 1 zu bieten hat.
Nicht schon wieder, Lance!
Nur hat er ganz selten seine besten Tage. Und der Sonntag in Brasilien war ganz sicher keiner davon. Erst legte er das Auto im Qualifying ab, dann vollbrachte er das Kunststück, den Aston Martin bereits in der Aufwärmrunde schon wieder abzulegen. Die Mechaniker müssen gestöhnt haben. Nicht schon wieder, Lance!
Das kann jedem Mal passieren. Außergewöhnliche Verhältnisse führen dazu, dass selbst Formel-1-Fahrer auch mal außergewöhnliche Fehler machen. Und sein Abflug sah ohnehin irgendwie merkwürdig aus - fast so, als hätte die Hinterachse blockiert. Stand Sonntagabend gab es aber seitens des Teams noch keine Bestätigung für einen technischen Fehler.
Und selbst wenn nicht: Hey, Shit happens. Aber was gar nicht geht, ist, was danach passiert ist.
Erstens, dass Stroll nach dem Malheur völlig gleichgültig "I crashed" in den Boxenfunk gab, und kurz danach, als er vom Renningenieur aufgefordert wurde, zurück an die Box zu kommen, so patschert ins Kiesbett fuhr, dass er sich dort fast eingraben und steckenbleiben musste.
Wüsste man es nicht besser, könnte man fast meinen, er habe das absichtlich gemacht, um das Rennen nicht fahren zu müssen. "Ich stecke fest", gab er ganz nüchtern am Funk durch, ohne jedes Anzeichen von Emotion oder Bedauern. Wirkte von außen betrachtet jedenfalls nicht so, als würde er sich wahnsinnig über das vorzeitige Ende seines Arbeitstags ärgern.
"Es gibt viele Talente da draußen, die den Platz mehr verdient hätten", sagt Timo Glock. Timo, dieser Meinung kann ich mich nur anschließen.
Hat bitte endlich mal einer bei Aston Martin die Eier, das Papa Stroll zu erklären?
Euer
Christian Nimmervoll
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Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.