F1-Expertenrunde: Die Chancen und Risiken von Antonellis Aufstieg
Das Formel-1-Debüt von Andrea Kimi Antonelli ist mit hohen Erwartungen verknüpft - Vier Formel-1-Redakteure des Motorsport Network geben ihre Einschätzung ab
(Motorsport-Total.com) - Andrea Kimi Antonelli, das aufstrebende Talent der Rennsportwelt, wird 2025 sein Debüt in der Formel 1 geben und die Erwartungen sind hoch. Wie wird sich der junge Italiener in einem der begehrtesten Cockpits der Königsklasse schlagen?
Während einige auf sein enormes Talent hinweisen, sehen andere die Herausforderungen, die ihn erwarten, insbesondere da er sofort in einem Topteam wie Mercedes antreten wird. In diesem Artikel geben vier Formel-1-Redakteure des Motorsport Network ihre Einschätzungen zu Antonellis bevorstehendem Aufstieg ab.
"Das Debütjahr könnte eine mentale Herausforderung werden"
Ronald Vording, Motorsport.com Niederlande
Die Ankündigung von Andrea Kimi Antonelli war eines der am schlechtesten gehüteten Geheimnisse im Formel-1-Paddock. In Zandvoort hat Toto Wolff es eigentlich schon zweimal in einer einzigen Mediensitzung mit der niederländischen Presse verraten, woraufhin die Mercedes-PR ein wenig ins Schwitzen geriet.
Das Lustigste daran ist, dass Wolff anschließend bei den Fernsehteams auf seinen "Versprecher" mit einem neuen "Versprecher" reagierte, indem er sagte, dass die Nachricht in Monza offiziell bekannt gegeben werde. Das ist nicht ungewöhnlich.
Wolff hat die Tür so lange wie möglich für Max Verstappen offengehalten, war aber auch während des Rennwochenendes in den Niederlanden offen über die Gespräche in der Sommerpause. In dieser Zeit kamen alle Parteien zu dem Konsens, dass ein Wechsel von Verstappen für 2025 nicht möglich ist.
Da der Prozess Zeit in Anspruch nahm, war die Möglichkeit, Carlos Sainz als Übergangslösung für ein Jahr zu verpflichten, ebenfalls bereits verflogen. Mit anderen Worten: Man hoffte lange auf Verstappen, und andernfalls musste man sofort mit Antonelli ins kalte Wasser springen.
Letzteres hängt übrigens auch mit den Ereignissen im Jahr 2014 zusammen. Damals versuchte Wolff, Verstappen zu verpflichten, musste aber zusehen, wie er sich für Red Bull entschied, da sie ihm ein Cockpit beim Schwesterteam Toro Rosso anbieten konnten, während Mercedes zunächst an die Formel 2 dachte.
Um zu verhindern, dass erneut ein Toptalent abgeworben wird, möchte Mercedes Antonielli nun so schnell wie möglich eine Chance in der Formel 1 bieten.
"Wenn man sich ihre Kart-Ergebnisse anschaut, dann stechen diese beiden Fahrer heraus", sagte Wolff in Zandvoort über Verstappen und Antonelli. "Als 16-Jähriger hat Kimi die italienische Formel 4 gewonnen, wo du ein Feld von über vierzig Autos hast. Max hat mit seinen mit drei Weltmeistertitel bereits bewiesen, dass er in der Formel 1 außergewöhnlich ist, während Kimi noch gar nicht gestartet ist."
Fotostrecke: Vom Bubi zum Weltmeister: Die Formel-1-Karriere des Max Verstappen
Von null auf Weltmeister in wenigen Jahren: Max Verstappens Motorsport-Laufbahn ist eine Karriere auf der Überholspur. Fotostrecke
Der große Unterschied zu Verstappens Formel-1-Debüt und damit auch das Risiko dieser Entscheidung ist, dass Antonelli bei einem Topteam anfangen muss. Auch wenn Mercedes sagt, dass sie ihm Zeit geben und keinen Druck auf ihn ausüben, ist das natürlich unmöglich. Bei einem Team wie Mercedes gibt es immer Druck.
Ein Vorgeschmack darauf war am Freitag in Monza zu sehen. Alle Augen waren auf Antonelli gerichtet, und laut Wolff hat das zum Unfall mit 45G in der Parabolica beigetragen.
Auf der einen Seite ist es gut, dass es schon jetzt passiert ist, als eine Lektion für sein Debütjahr. Andererseits ist es unvermeidlich, dass es im nächsten Jahr mehr Momente wie diesen geben wird. An der reinen Geschwindigkeit und dem Talent von Antonelli brauchen wir nicht zu zweifeln, das ist unbestreitbar vorhanden. Aber das Debütjahr könnte bei Rückschlägen eine mentale Herausforderung werden.
Es besteht die Gefahr, eine vielversprechende Formel-1-Karriere im Keim zu ersticken, obwohl Mercedes als Team fähig genug sein sollte, dies zu verhindern. Darüber hinaus gab es, als Verstappen für 2025 nicht verfügbar war, keine Alternative mehr.
Wenn man es positiv betrachten will, folgt man dem, was George Russell in Zandvoort äußerte: "Die Frage ist, ob man im Kinderbecken lernen will oder sofort ins tiefe Wasser springt? Ich wäre lieber sofort ins tiefe Wasser gesprungen, denn ich habe mehr im ersten Jahr als Teamkollege von Lewis gelernt als in den drei Jahren davor."
Ohne Schwimmflügel ins tiefe Wasser zu springen birgt jedoch auch Risiken, und genau das ist die immense Aufgabe, der Antonelli im nächsten Jahr gegenübersteht.
"Sie müssen etwas sehr, sehr Ermutigendes sehen"
Roberto Chinchero, Motorsport.com Italy
Ich erwarte eine gute erste Saison in der Formel 1. Für die breite Öffentlichkeit würde das wahrscheinlich bedeuten, dass Antonelli sofort performen muss.
Aber wir müssen alle daran denken, dass er direkt bei Mercedes anfangen wird - im Gegensatz zu vielen Fahrern, die, bevor sie zu einem großen Team kommen, ein oder zwei Saisons bei kleineren Teams verbracht haben, wo sie ihre Fehler abseits des Rampenlichts machen konnten. Für Antonelli wird es anders sein.
Und natürlich wird es Fehler von seiner Seite geben, aber das ist nur natürlich. Er hat jedoch ein großes Talent, und ich bin sicher, er wird die Gelegenheit haben, es zu zeigen.
Denken Sie daran, dass Mercedes ihn vor fünf Jahren unter Vertrag genommen hat. Sie haben mehr Informationen über diesen Fahrer als jeder andere. Und wenn sie entschieden haben, dass er sofort in ein Topauto gesetzt werden kann - und nicht für ein oder zwei Jahre bei Williams - dann müssen sie etwas sehr, sehr Ermutigendes sehen.
Sie haben viel Geld investiert, und ich glaube nicht, dass sie wollen, dass dieses Geld den Bach runtergeht. Deshalb unterstütze und verstehe ich ihre Entscheidung, mit Kimi zu gehen. Denn sie haben mehr als genug Informationen über ihn aus ihrem TCP-Programm, aus der Formel 4, der Formel Regional und der Formel 2.
Sie hatten die Gelegenheit, diesen Kerl arbeiten zu sehen, seinen Fortschritt, seine Einstellung zu beobachten, und ich bin zuversichtlich, dass er einen guten Job machen wird.
Aber es wird nicht einfach, wie wir in Monza gesehen haben, als er das erste Training in den Barrieren beendete. Das ist definitiv keine gute Visitenkarte. Aber wenn Leute wie Toto Wolff und Gwen Lagrue ihm vertrauen, gibt es kein besseres Zeugnis für einen Fahrer. Sie wissen besser als jeder andere, was Kimi kann.
"Es gibt keinen Platz, um sich zu verstecken"
Oleg Karpov, GP Racing
Ich persönlich möchte einfach ein bisschen Magie sehen. Ich möchte sehen, was Toto Wolff und seine Ingenieure in Kimi sehen - und das heißt nicht, dass ich ihr Urteil in Frage stelle. Ich bin überzeugt, dass Antonelli kein gewöhnlicher Fahrer ist.
Erstens, weil es naiv wäre zu denken, dass Wolff eines der Mercedes-Autos jemandem anvertraut, den er einfach nur mag. Auch wenn es stimmt, dass Toto wahrscheinlich ein Faible für Antonelli hat, habe ich keinen Zweifel, dass dahinter auch eine kalte Berechnung steht, die auf seinem Wissen über die Rennwelt und seiner reichen Erfahrung im Umgang mit Fahrern beruht. Er muss etwas in Kimi sehen.
Und zweitens wird dies durch das bestätigt, was wir in privaten Gesprächen von Menschen hören, die mit ihm in den Nachwuchskategorien und im Kartsport gearbeitet haben.
Sie schwärmen nicht nur über seine Geschwindigkeit, sondern über seine unglaubliche Fähigkeit, mit Druck umzugehen, aus Fehlern zu lernen und Informationen aufzunehmen. Darüber wurde in den Medien nicht viel gesprochen - teilweise, weil Mercedes zurecht versucht hat, nicht zu viel Druck auf Kimi auszuüben.
Aber man wird ab jetzt sicher viel mehr darüber hören und lesen. Noch ist der breiten Öffentlichkeit nicht ganz klar, was Antonelli so aufregend macht. Seine Siege in der Formel 4 und der Formel Regional sind ein klares Zeichen dafür, dass viel Talent vorhanden ist, aber es ist immer noch "nur" die Formel 4 und die Formel Regional.
Und seine bisherige Formel-2-Saison, trotz ein paar Siegen, war eher enttäuschend, aus welchen Gründen auch immer. Prema hat dieses Jahr offensichtlich Schwierigkeiten, aber das bedeutet nur, dass wir nichts Spektakuläres von Antonelli gesehen haben. Und genau aus diesem Grund gibt es all diese Fragezeichen.
Antonelli fix bei Mercedes: Toto Wolff wusste es seit Monaten!
In der Formel 1 gibt es keinen Platz, um sich zu verstecken. Alle Augen werden ständig auf Kimi gerichtet sein. Schauen Sie sich das erste Freie Training in Monza an: die Runde, die in einem Crash endete, wurde Kurve für Kurve analysiert.
Genau das wird auch im nächsten Jahr so sein. Wir werden unweigerlich viel mehr über Kimi erfahren - und wenn es "Magie" gibt, wird diese nicht unbemerkt bleiben. Er wird auch einen großartigen Maßstab in Teamkollege George Russell haben. Deshalb bin ich persönlich mehr neugierig als alles andere.
"Antonelli wird kein neuer Max sein"
Christian Nimmervoll, Motorsport-Total.com
Um ehrlich zu sein: Ich verfolge die Junior-Formelserien nicht sehr intensiv. Also habe ich Kimi Antonelli nur in der Formel 2 beobachtet, und was ich dort gesehen habe, ließ mich an dem Lob zweifeln, das er von Toto Wolff und anderen Insidern bekam.
Gleichwohl war ich mir ziemlich sicher, dass sie etwas gesehen haben mussten, von dem ich noch nichts wusste - ähnlich wie bei Max Verstappen, der die Formel 3 zwar nicht gewonnen hat, und trotzdem war sich jeder sicher, dass er das nächste große Ding werden würde. Ich sehe da durchaus einige Ähnlichkeiten.
Mit Antonelli hat Wolff nun also seinen eigenen "neuen Max". Obwohl er kein neuer Max sein wird. Aber die Art und Weise, wie Antonelli bis zu seinem Parabolica-Crash am Freitag in Monza aufgetreten ist, war einfach verdammt beeindruckend.
Kein vorsichtiges Herantasten an das Limit in kleinen Schritten, sondern direkt Vollgas. Das zeugt von Vertrauen in seine Fähigkeiten. Seine GPS-Daten durch Lesmos und Ascari waren nichts anderes als beeindruckend, und durch Parabolica hat er etwas ausprobiert, das das Auto nicht bewältigen konnte. Jetzt verstehe ich endlich, was Mercedes von Anfang an in Antonelli gesehen hat.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass er 2025 noch ein paar Unfälle bauen wird, und ich sehe ihn aus genau diesem Grund nicht als ernsthaften Titelanwärter. Aber ich glaube, dass er in Sachen Geschwindigkeit bei den meisten Rennen vorne dabei sein wird.
Und ich glaube, dass er wahrscheinlich eine schnellere Herausforderung für George Russell darstellen wird, als es Hamilton in dieser Saison ist. Nicht in Bezug auf die allgemeine Konstanz, aber in Bezug auf die reine Geschwindigkeit.
Ich gehe davon aus, dass Antonelli 2025 sein erstes Rennen gewinnen wird (es sei denn, der Mercedes ist nicht konkurrenzfähig). Ich erwarte auch, dass er ein paar wirklich dumme Unfälle bauen und ein paar Wochenenden haben wird, an denen er einfach langsam sein wird, weil er das Set-up nicht richtig hinbekommt.
Es wird Zeit brauchen, bis er ein Champion wird. Aber es ist ziemlich offensichtlich, dass er das Zeug dazu hat - noch mehr als jüngste großartige Formel-1-Rookies wie etwa Oscar Piastri. Antonelli könnte eines Tages ein wirklich Großer werden. Er kam am Freitag in Monza wie eine wahre Naturgewalt in die Formel 1 - in guter und in schlechter Hinsicht. Ich freue mich auf mehr davon!