• 30. Juli 2024 · 09:57 Uhr

Kommentar: Carlos Sainz' Entscheidung ist eine Niederlage für Audi

Was der Wechsel von Carlos Sainz von Ferrari zu Williams über das Formel-1-Projekt von Audi aussagt und welche Optionen der deutschen Marke noch bleiben

(Motorsport-Total.com) - "Williams ist der richtige Ort für mich, um meine Formel-1-Reise fortzusetzen. Davon bin ich vollkommen überzeugt." Doch in diesen Worten von Carlos Sainz anlässlich seines Wechsels zum englischen Traditionsteam schwingt auch mit, wovon der spanische Formel-1-Fahrer eben nicht überzeugt war: vom Audi-Projekt für 2026. Und das, obwohl er dort erklärter Wunschfahrer war.

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Williams-Fahrer Carlos Sainz vor dem Audi-Logo (Fotomontage) Zoom Download

Der deutsche Hersteller war sogar bereit, für Sainz den ganz großen Geldbeutel aufzumachen, wie Red-Bull-Sportchef Helmut Marko bereits im April der Kleinen Zeitung sagte. Marko damals: "Wir sprechen mit [Sainz], aber er hat ein sehr lukratives Angebot von Audi, das wir nicht matchen oder überbieten können."

Wenn also schon Red Bull als eines der Topteams finanziell nicht mithalten konnte mit Audi, was für Argumente muss dann das im Vergleich kleine Privatteam Williams gehabt haben, um beim Bieten um Sainz überhaupt eine Rolle zu spielen?

Sainz selbst spricht hier nur von den "richtigen Zutaten, um wieder Geschichte zu schreiben", geht aber nicht ins Detail, was ihn letztlich zum Williams-Wechsel bewogen hat. Und er sagt natürlich auch nicht, was gegen Audi sprach.

Wie wichtig Sainz die "Motorenfrage" ist

Aus seinen früheren Äußerungen aber geht zumindest hervor, was Sainz wichtig war. Und so viel sagte Sainz schon im April: Die Motorenfrage für 2026 sei es nicht.

"Denn ganz egal, wie sehr die Teams dir verkaufen wollen, dass sie mit dem [neuen] Motor super unterwegs sind. Die Realität ist, keiner weiß es genau." Das sei "wie ein Münzwurf", meinte Sainz. Und: "Du kannst heute nicht wissen, wer es am besten hinbekommt."

Was Sainz aber weiß: Williams-Motorenpartner Mercedes war schon zu Beginn der Turbo-Hybrid-Ära ab 2014 hervorragend aufgestellt beim Antriebsstrang und verfügt immer noch über einen leistungsstarken, zuverlässigen Antrieb. Audi dagegen ist in Sachen Formel-1-Antrieb ein unbeschriebenes Blatt. Ob das für Sainz ein Faktor war oder nicht, das ist unklar.

Die entscheidenden Faktoren laut Sainz

Klar ist aber, welche Faktoren Sainz für sich selbst als entscheidend definiert hat, denn manche dieser Faktoren hat er in Interviews konkret genannt, schon im Februar. Darunter: eine Perspektive.

Er wolle "die für mich beste Option" auswählen, hatte Sainz gesagt. Und: "Es geht um die beste Option für die nächsten drei, vier Jahre. Um die Option, von der ich das Gefühl habe, dass ich mein absolut Bestes geben werde, um gemeinsam ein siegreiches Formel-1-Projekt auf die Beine zu stellen. Wir werden sehen, wer mir genau dafür die besten Chancen bieten wird."

Misst man Sainz heute an seinen damaligen Aussagen, dann ist sein Wechsel zu Williams auch eine Backpfeife für Audi. Denn er scheint dem Privatteam Williams mittelfristig mehr zuzutrauen als dem Werksteam Audi, sonst hätte er sich wohl kaum für den aktuell Vorletzten der Konstrukteurswertung entschieden, wenn es andere, interessantere Alternativen gegeben hätte.

Was Sainz abgeschreckt haben könnte

Was also hat Sainz bei Audi gesehen, das ihn von einem Wechsel nach Hinwil in die Schweiz abgehalten hat? Vielleicht waren es die Entwicklungen der vergangenen Wochen rund um den Rauswurf von Andreas Seidl und Oliver Hoffmann gut eineinhalb Jahre vor dem werksseitigen Audi-Einstieg.


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So lassen sich seine jüngsten Aussagen vom Belgien-Grand-Prix jedenfalls deuten, als Sainz sagte: Er habe angesichts der "komplexen Situation" auf dem Formel-1-Fahrermarkt "so lange gewartet, um zu sehen, wie sich die Zukunft für die einzelnen Teams entwickelt. Und jede Woche, die vergeht, bestätigt mich darin. Jede Woche passiert wieder irgendwas bei einem der Teams. Es war genau richtig, so lange zu warten."

Natürlich: Sainz nennt hier Audi nicht. Doch bei keinem anderen Formel-1-Team mit freien Plätzen für 2025 und darüber hinaus ist es zuletzt zu derart großen Umwälzungen gekommen wie bei dem Rennstall, der ab 2026 als Audi antritt. Und Umwälzungen gehen immer mit Unsicherheiten einher.

Experten hatten von Audi abgeraten

Aber schon davor hatten Experten von einem Wechsel zu Audi abgeraten. Der frühere Formel-1-Fahrer Karun Chandhok etwa, inzwischen Analyst im englischen Fernsehen, hatte Sainz nahegelegt, die besten Jahre seiner Karriere nicht für Aufbauarbeit bei Audi zu "verschwenden", weil "Audi wird 2026, 2027 und wahrscheinlich 2028 nicht die Meisterschaft gewinnen", so Chandhok im März bei Sky.

Ebenfalls bei Sky und einen Monat später erklärte Ex-Champion Nico Rosberg, "es dauert fünf Jahre - wenn überhaupt - für ein Team, ganz nach vorne zu kommen. Ein Wechsel zu Audi komme einem Neuanfang gleich.

Neue Zweifel am Audi-Projekt

Ein Neuanfang, den Sainz so nicht wollte und der jetzt zum Problem wird für Audi, wie es mein Kollege Roberto Chinchero bereits im Juni in seinem Kommentar geschildert hat.

O-Ton damals: "Sollte sich Sainz am Ende gegen Audi und für Williams entscheiden, wäre das ein harter Schlag für das neue Audi-Werksteam." Und: "Geht er tatsächlich zu Williams, spricht das für eine geringere Glaubwürdigkeit des Audi-Vorhabens und es werden Zweifel gesät."

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Carlos Sainz und Nico Hülkenberg als Audi-Teamkollegen (Fotomontage) Zoom Download

"Eine Niederlage im Transferpoker gegen ein Spitzenteam wäre zwar ebenso unerfreulich, aber wenigstens verständlich. Aber eine Absage zu kassieren, weil der erklärte Wunschfahrer lieber zu einem Team wechselt, das in den zurückliegenden 20 Jahren gerade mal ein Rennen gewonnen hat und das nur die Hälfte für Sainz' Dienste bieten kann, das spielt auf einem ganz anderen Niveau."

Welche Optionen Audi jetzt noch hat

Dazu kommt: Die weiteren Spitzenfahrer der Formel 1 sind bereits anderweitig gebunden. Was bleibt, sind die Fahrer, die bislang noch keine Anschlussverträge ergattert haben und damit klarerweise nicht erste Wahl waren bei anderen Teams. Statt sich neben Nico Hülkenberg noch einen echten Topfahrer zu angeln, muss Audi jetzt also das nehmen, was halt noch verfügbar ist.

Da wäre zum Beispiel Daniel Ricciardo, der bei Racing Bulls gerade von Yuki Tsunoda in den Schatten gestellt wird und inzwischen vielleicht selbst zweifelt, ob das Vollzeit-Comeback im B-Team von Red Bull so eine gute Idee war. Oder Kevin Magnussen, der bei Haas zugunsten von Formel-1-Neuling Oliver Bearman und/oder Esteban Ocon ausgemustert wurde.

Und dann sind da natürlich noch die beiden aktuellen Sauber-Fahrer Valtteri Bottas und Guanyu Zhou, die zuletzt aber beide nicht durch besonders heldenhaften Einsatz auf der Rennstrecke aufgefallen sind. Bottas wäre, wie Ricciardo, immerhin ein ehemaliger Grand-Prix-Sieger. Aber in jüngster Zeit schien er sich mit Projekten links und rechts der Rennstrecke eher auf die Zeit nach der Formel 1 als auf die Rolle als Audi-Werksfahrer vorbereitet zu haben.

Oder macht Audi etwas ganz anderes?

Oder zaubert Audi nun jemand ganz anderen aus dem Hut, der aktuell nicht in der Formel 1 fährt? Auch das ist eine Möglichkeit. Und da wird manchen Beobachtern der Name Mick Schumacher einfallen, der aber schon Ende 2022 nach dem verlorenen Haas-Teamduell gegen Magnussen von niemandem in der Formel 1 gewollt wurde und inzwischen bei Alpine in der Langstrecken-WM fährt. Wenn, dann wäre Schumacher wohl in erster Linie ein PR-Stunt für Audi.

Denn eines ist klar: Sainz nicht bekommen zu haben, das ist eine Niederlage für die deutsche Marke. Und das, noch ehe sich am ersten Audi-Formel-1-Auto überhaupt ein Rad gedreht hat - und unmittelbar nach der "Entmachtung" von Seidl und Hoffmann an der Teamspitze. Davon muss sich das Audi-Projekt erst einmal erholen.

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Euer
Stefan Ehlen

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