Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Stefano Domenicali
Der Herr Chefredakteur jammert: Warum 24 Rennen pro Saison zu viel sind und was das mit der Qualität der redaktionellen Berichterstattung macht
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
© circuitpics.de
Stefano Domenicalis Job ist, für Liberty Media möglichst viel Geld zu verdienen Zoom Download
ich gebe zu: Diese Kolumne schreibe ich nicht zum ersten Mal. Stefano Domenicali schlecht schlafen zu lassen, als Gesicht für alles, was in der Formel 1 meiner Meinung nach verkehrt läuft, ich glaube, das habe ich schon mal gemacht. Aber ist ja auch egal. Manches Thema muss man mehrmals aufschreiben, bis es wirklich greift.
Das Thema, über das ich mich aufrege, ist die Übersättigung des Rennkalenders. Eine gefährliche Übung, denn: Da jammert ausgerechnet der vornehme Herr Chefredakteur, weil er meint, er möchte lieber weniger arbeiten, und weil er es besser finden würde, wenn die Formel-1-Fans weniger Rennen sehen können.
Das ist natürlich eine legitime Perspektive. Es gibt aber auch noch eine andere.
Zu viele Rennwochenenden gehen auf die Gesundheit
Nämlich die, dass ich selbst zu denen gehöre, die ziemlich schlecht geschlafen haben, oder zumindest ziemlich kurz. Unsere Livestreams auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de enden selten groß vor Mitternacht, aber im besten Fall sollte man morgens vor 7 Uhr wieder auf der Matte stehen. Montags, wenn diese Kolumne geschrieben werden will, reden wir eher von 4 Uhr.
Jenseits von zwölf Stunden am Tag zu arbeiten, fünf Tage hintereinander, das müssen andere Jobs auch aushalten. Aber es gibt dann schon den Punkt, wo man sich fragt, ob unsere Redakteure nicht mehr an die eigene Gesundheit denken sollten, wenn man merkt, dass die Datenaufzeichnungen der Apple-Watch belegen, dass man an Rennwochenenden durchschnittlich nur 3:58 (März) bis 5:18 Stunden (Juli) schläft, und man bei 5:18 Stunden Schnitt das Gefühl hat, eine echt faule Sau geworden zu sein.
Cyril Abiteboul hat vor Jahren schon gesagt, und ich fand das immer wahnsinnig schlau, dass die Formel 1 aufpassen muss mit ihrem Rennkalender, weil irgendwann der Punkt erreicht ist, an dem ihre Protagonisten keine Freude mehr ausstrahlen, und weil das unweigerlich früher oder später aufs Publikum abfärben wird.
Bei uns in der Redaktion, da will ich uns hier gar nicht besser und tougher reden als wir sind, ist der Punkt erreicht.
Seit Anfang Juni waren von acht Wochenenden gerade mal zwei Formel-1-frei, und an einem der beiden freien Wochenenden war Le Mans. Es ist kein Wunder, dass vor dem Rennen in Spa meine Entschuldigung dafür, dass ich ausnahmsweise "länger" geschlafen habe, direkt beantwortet wurde mit Sätzen von Kollegen, die ungefähr so lauteten: "Meine Kopfschmerzen gehen aber auch nicht weg. Körper will einfach nicht mehr nach den letzten Wochen."
Klar, mehr Rennen bedeuten unterm Strich auch mehr Pageimpressions für uns und damit mehr Umsatz, aber anders als die Teams können wir es uns nicht leisten, das Personal so weit aufzustocken, dass wir gemütlich rotieren können, wie uns das gerade gefällt. Unser Kernteam ist fest, und das muss es meiner Meinung nach auch sein, weil wir nur so eine gewisse Qualität gewährleisten können.
Schon seit Jahren gestatten wir unseren Redakteuren, ein paar Tage im Jahr sogenannte "Joker" ziehen zu können, auch an Rennwochenenden, weil's halt auch mal vorkommt, dass die Schwester heiratet oder man ein Kind bekommt oder andere Nebensächlichkeiten passieren, die man irgendwie mit dem Formel-1-Job in Einklang bringen muss. Aber jedes Mal, wenn einer der Kollegen so einen Joker zieht, rotieren alle anderen im Team, weil dessen Job natürlich irgendwie kompensiert werden muss.
Kein Betteln um Mitleid, sondern ein Bericht aus dem Alltag
Ich schreibe das nicht auf, weil ich um Mitleid betteln möchte. Wie gesagt, wir haben wirklich tolle, spannende Jobs, und wir würden sie nicht tauschen wollen. Aber es gibt ja auch unter unseren Lesern viele, die sagen: "Es wird langsam zu viel."
24 Rennwochenenden, dazu auch noch sechs Sprints am Samstag, das ist für die, die wirklich alles aufsaugen wollen, was die Formel 1 zu bieten hat, ein ganz schöner Brocken. Schließlich ist die Formel 1 nicht allein auf der Welt: Fußball-EM, Olympia, Wimbledon - es gibt auch noch andere Dinge, für die die Damen und Herren Formel-1-Fans ganz gern den Fernseher einschalten.
Ich zum Beispiel habe den Plan verworfen, nach Spa zu fahren, weil wir ohnehin nicht mehr hinterherkommen, den Content, den wir in den vergangenen Wochen eingesammelt haben, ordentlich zu verarbeiten.
Es geht Schlag auf Schlag in der Formel 1, Redaktionen wie unsere funktionieren nur noch, haben aber kaum noch Zeit zum Durchatmen, um auch mal kreative Impulse zu setzen. Wann sollte man die großen Storys denn auch verarbeiten und veröffentlichen?
Früher gab's noch mehr rennfreie Sonntage, und ich fand es fantastisch, als in den großen Tageszeitungen des Landes, in der Welt/Bild am Sonntag etwa, immer ein großes Interview stattfand, mit Michael Schumacher oder Niki Lauda oder Sebastian Vettel.
So wurden Heldengeschichten erzählt, so wurde das Publikum angefixt, und es war auch mal Raum, über die zu berichten, die sonst immer untergehen, weil am Rennsonntag halt der klare Fokus auf denen liegt, die am erfolgreichsten sind. Und es wurde auch die breite Öffentlichkeit erreicht, die sich kein teures Pay-TV-Abo leistet, und wahrscheinlich hat die Formel 1 so immer mal wieder neue Fans dazugewonnen.
Wie viele Leserzuschriften habe ich schon beantwortet, warum wir denn nicht mehr über das Schweizer Sauber-Team berichten? Darauf gibt's zwei Antworten. Erstens: Weil wir die Zeit nicht mehr haben, uns mit solchen Nischenthemen auseinanderzusetzen. Und zweitens: Weil Sauber keine wirklich spannenden Geschichten produziert.
Interesse an der Formel 1: Die ersten Warnsignale gibt's schon
Ich glaube, dass die Formel 1 mit ihrem dicht gestaffelten Programm gerade akut Gefahr läuft, das Publikum zu übersättigen. Die Gier nach mehr war nach der legendären Saison 2021 groß, doch die rückläufigen TV-Zahlen und das "Sommerloch" belegen, dass Märkte auch übersättigt werden können.
Abiteboul hatte schon recht: Wenn die Teamchefs und Ingenieure bei ihren Interviews im TV keine echte Freude mehr ausstrahlen, wenn die Berichterstatter nur noch ihre Pflicht tun, statt kreative Impulse zu setzen, wenn die Leidenschaft abhandenkommt und der Funke nicht mehr überspringt, dann bekommt die Formel 1 ein Problem. Vielleicht nicht sofort, aber langfristig.
Oder, wie es ein waschechter Mühlviertler wie ich vielleicht formulieren würde: Wenn man die Kuh zu brutal melken will, um ihr auch wirklich den letzten Dollar aus dem Euter zu quetschen, dann werden die Zitzen irgendwann blutig werden, und die Milch schmeckt dann auch nicht mehr so.
Wären 20 Grands Prix pro Jahr nicht viel nachhaltiger?
Ich bin überzeugt: Die Formel 1 könnte auch mit 20 Grands Prix pro Jahr, mit 20 Events allerhöchster Qualität, einen Haufen Geld verdienen. Und sie könnte es wahrscheinlich viel nachhaltiger tun. Und von den kleinen Lichtern hinter den Kulissen, so wie denen in unserer Redaktion, würden sich ein paar drüber freuen, auch in den Sommermonaten wieder sowas wie ein Leben haben zu können.
Mir ist schon klar: Es gibt auch diejenigen unter euch, die gar nicht genug bekommen können von der Formel 1, und die das, was ich heute aufgeschrieben habe, als wehleidiges Gejammere von jemandem empfinden, der sich den falschen Job ausgesucht hat.
Hey, das ist ein legitimer Standpunkt, und ich akzeptiere diese Meinung. Aber ich dachte, der eine oder andere findet es vielleicht auch mal ganz interessant, die Bedenken von jemandem zu hören, der mit dazu beiträgt, dass die Formel 1 beim Endkunden ankommt.
Ich weiß schon, dass Stefano Domenicali das wahrscheinlich nicht lesen wird. Und wenn, dann wird es ihn nicht jucken. Was sind schon ein paar raunzende Journalisten gegen 80 Millionen Dollar mehr auf dem Konto?
Die Wahrheit ist: An seiner Stelle würde ich den Rennkalender womöglich auch nicht anders gestalten. Schließlich lautet der Auftrag, möglichst viel Geld für Liberty Media zu verdienen.
Aber von einer besseren Welt träumen, das wird ja wohl noch erlaubt sein. Gut, dass jetzt Sommerpause ist.
Euer
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.