• 22. Juli 2024 · 06:35 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Andrea Stella

Warum McLaren-Teamchef Andrea Stella vielleicht anders entscheiden hätte sollen und sich Lando Norris in Ungarn ziemlich ungeschickt verhalten hat

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Andrea Stella

Andrea Stella hatte nach dem Grand Prix von Ungarn einiges zu erklären Zoom Download

ich gebe zu: Diese Kolumne wäre ein bisschen stimmiger gewesen, wenn Lando Norris die Führung dann doch nicht an Oscar Piastri zurückgegeben hätte, und wenn es nach dem Rennen auf dem Hungaroring zu einer richtig fetten Explosion gekommen wäre bei McLaren.

So gibt's ja im Grunde nicht viel zu meckern: Doppelsieg, das wahrscheinlich derzeit schnellste Auto im Feld, und am Ende steht eh "der Richtige" vorn. Keiner muss sich drüber aufregen, dass Norris halt doch ein verdammter Egoist ist und sportlicher Anstand nix mehr wert ist in der Formel 1.

Das ist aber nur die eine Seite der Geschichte, warum Andrea Stella, der Teamchef von McLaren, am Montagmorgen nach dem Grand Prix von Ungarn für mich derjenige ist, der letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat.

Keine Stallorder - und irgendwie doch ...

Es gibt da noch eine andere Seite, und die geht so: Sollte Norris am Ende der Formel-1-Saison 2024 um weniger als sieben Punkte die WM verlieren, dann werden wir uns alle an den Hungaroring erinnern, und viele werden ihren Finger heben: "Ich hab's doch gleich gesagt!"

Damit wir uns nicht missverstehen: Ich applaudiere dem McLaren-Ethos, aufrichtig zu versuchen, das Richtige zu tun und Piastri den Sieg nicht wegzunehmen, den er sich über zwei von drei Stints ehrlich verdient hat. Er hat den Start gewonnen, er hat geführt, er hat das ziemlich souverän getan, und er hätte in einer alternativen Realität vielleicht auch gewonnen, wenn er für ein anderes Team als Norris gefahren wäre und nicht ein Team zwei Interessen unter einen Hut hätte bringen müssen.

Was haben wir nicht gejammert und uns beschwert, als Ferrari alles dem Erfolg von Michael Schumacher untergeordnet hat, und Eddie Irvine und Rubens Barrichello auch dann zurückstecken mussten, wenn sie mal einen der seltenen Tage hatten, an denen sie besser waren als "Schumi". "Let Michael pass for the Championship!" Erinnert ihr euch?

Andererseits: Sabine Kehm hat einmal erzählt, dass Ferrari in dieser Frage auch deswegen so konsequent war, weil sich all die Niederlagen zwischen 1996 und 1999 tief in die DNA eingebrannt hatten, und weil man am Ende halt nichts dem Zufall überlassen wollte. Wirklich nichts.

Kosten die sieben Punkte am Ende die WM?

Ein bisschen so ist es jetzt auch wieder: McLaren überlässt die Fahrer-WM 2024 dem Zufall. Kann sein, dass Ungarn am Ende keine Rolle spielt. Kann aber sein dass schon. Und dann wird Andrea Stella sicher noch viele Male ganz, ganz schlecht schlafen und von einem Sonntag in Ungarn träumen.

Ich weiß nicht, wie ich an seiner Stelle entschieden hätte. Klar ist: McLaren hat sich an die teaminternen Absprachen gehalten, wie sie vor dem Rennen immer besprochen werden. McLaren hat das Richtige getan.


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Und trotzdem war es irgendwie doch nicht ganz richtig. Es ist eine scheiß Situation. Und ich bin froh, dass ich nicht drüber entscheiden musste, sondern mich gemütlich drüber auslassen kann, was vielleicht dann doch nicht ganz ideal gelaufen ist.

Es ist grundsätzlich unwahrscheinlich, dass 2024 ein anderer Fahrer Weltmeister wird als Max Verstappen. Verstappen hat jetzt 76 Punkte Vorsprung auf Norris. Das ist eine Menge Holz. Andererseits sind noch bis zu 310 Punkte zu vergeben. Es klingt wie eine Floskel, aber es ist halt einfach wahr: Entschieden ist da noch gar nichts.

Ungarn war der erste Grand Prix der zweiten Saisonhälfte. McLaren hat ihn dominiert. Den ersten Grand Prix der ersten Saisonhälfte hat Red Bull dominiert. Und warum sollte Norris in der zweiten Saisonhälfte nicht das Gleiche gelingen wie Verstappen in der ersten?

Wenn ich recht habe, könnte es am Ende ganz schön eng werden, und dann könnten die sieben Punkte Unterschied zwischen einem ersten und einem zweiten Platz vielleicht das Quäntchen sein, auf das es ankommt.

Ich kritisiere nicht, dass McLaren moralisch richtig entschieden hat. Ich weise nur drauf hin, dass diese Moral womöglich einen Preis haben wird.

Sicher, ganz vorbei ist die WM für Piastri auch nicht. Aber selbst mit Ungarn-Sieg fehlen ihm nochmal 40 Punkte mehr auf Verstappen als Norris. Das ist dann doch schon ein Bereich, an dem es unrealistisch wird, vom ganz großen Wurf zu träumen.

Warum sich Norris ungeschickt angestellt hat

Wie wenig es braucht, um eine WM kippen zu lassen, hat Ungarn im Grunde genommen spannend veranschaulicht. Es hätte nicht viel gefehlt, dann hätte Norris den Grand Prix gewonnen und Verstappen wäre ausgeschieden. Dass die Radaufhängung des Red Bull den Raketenstart über Lewis Hamiltons linkes Vorderrad überlebt hat, ist für mich sowieso ein kleines Wunder. Und dann wären es jetzt nicht 76 Punkte Abstand gewesen, sondern nur noch 59.

Dass Norris am Boxenfunk erstmal rumgezickt hat und den greifbar nahen Sieg nicht freiwillig aufgeben wollte: Hey, geschenkt! Wie er sich nach dem Rennen verhalten und was er dazu gesagt hat, ringt mir allergrößten Respekt ab. Das war der Auftritt eines jungen Mannes, dem Integrität noch was zu bedeuten scheint, und das ist selten geworden in einer Welt wie der unseren.

Andererseits komme ich nicht ganz drum umhin, auch ihn ins Visier zu nehmen. Weil er sich bei der ganzen Sache ziemlich unklug angestellt hat.

Norris hat in der ersten Rennhälfte keinen Stich gemacht gegen Piastri. Das ist oft so, dass Piastri zu Beginn einer Renndistanz gut mithalten kann. Aber hinten raus ist Norris fast immer der Schnellere, und das war auch am Sonntagnachmittag in Mogyorod so.

Das Rennen begann zu kippen, als Piastri in Runde 33 von 70 bei Kurve 11 neben der Strecke war. Das kostete ihn zwei Sekunden in einer Runde, und ab dem Zeitpunkt war er nur noch Zweitbester im Grand Prix von Ungarn, was den schieren Speed betrifft. Der (ungewollte) Undercut "funktionierte" für Norris auch deswegen, weil er in den Runden vor dem Boxenstopp seinen Rückstand von viereinhalb auf unter zwei Sekunden reduziert hatte.

So schenkte ihm McLaren in Runde 47 die Führung, als Piastri um zwei Runden später als er reingeholt wurde. Er möge dieses Geschenk bitte zurückgeben, hieß es am Boxenfunk. "At your convenience."

Das hätte man verbindlicher formulieren können als "wann's dir halt passt", und auch Norris hat sich selbst damit geschadet, die Sache nicht sofort zu erledigen. Sicher, ich kann schon verstehen, dass er einen auf Ayrton Senna machen und der Welt erst zeigen wollte, dass er eigentlich der Beste ist, indem er Piastri erst in der allerletzten Kurve demonstrativ überholen lässt. Suzuka 1991, wisst ihr noch?

Aber die Wahrheit ist: Er war der schnellere Fahrer als Piastri, er hat das im letzten Stint trotz eines Reifennachteils eindeutig unter Beweis gestellt, und wegen seines bockigen Verhaltens hatte er am Ende nur noch zwei Schüsse, die Sache Rad an Rad zu regeln und doch noch zu gewinnen.

Hätte er gleich Platz gemacht, wären es 23 gewesen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Piastri da gut ins Schwitzen gekommen wäre, und hätte Norris dann wirklich aus eigener Kraft überholt und gewonnen, dann würde heute kein Mensch über Stallorder reden und darüber, was McLaren nicht alles falsch gemacht hat.

Ein Sieg, über dem ein Schatten hängt

Das ist ja das, was die Geschichte am meisten eintrübt: Ab dem Zeitpunkt hing ein Schatten über dem McLaren-Triumph, ganz egal, wie man es auch dreht und wendet. Hätte Norris den Funk abgedreht und eiskalt gewonnen, würde ihn die Welt jetzt als unsportlich verurteilen. Und so kann sich Piastri nicht so unbeschwert über seinen allerersten Grand-Prix-Sieg freuen, wie er das eigentlich tun sollte.

Das Gute ist: Piastri wird noch einige Grands Prix mehr gewinnen. Und Norris am Ende hoffentlich nicht um sieben Punkte oder weniger die WM verlieren. Dann war diese Kolumne für die Tonne.

Aber was wenn nicht?

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.

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