Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: George Russell
Jetzt gehört Mercedes ihm: George Russell schwingt sich spätestens in Kanada zum neuem Teamleader bei den Silberpfeilen auf und darf plötzlich von Großem träumen
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
zugegeben, das ein oder andere Mal wird sich George Russell in der Nacht wohl unruhig hin und her gewälzt haben, und dann plagten sie ihn womöglich doch noch: Die Gedanken, was ohne die kleinen Fehler hier, und vergebenen Chancen da, drinnen gewesen wäre am Sonntag im Großen Preis von Kanada.
Vielleicht ging es ihm ein bisschen wie Tennis-Ass Alexander Zverev in einer anderen großen französischsprachigen Metropole dieser Welt, der sich nach seiner Niederlage im Finale von Roland-Garros, seinem zweiten verlorenen Grand-Slam-Endspiel nach den US Open 2020, wohl letzte Nacht notgedrungen gefragt hat, wie viele Chancen auf den ganz großen Wurf er noch bekommen wird.
Doch bei Russell sieht die Sache, und womöglich auch die Antwort auf diese Frage, ein bisschen anders aus, obwohl auch er nicht den ersehnten Sieg erringen konnte - denn in der Formel 1 muss nicht nur die eigene Leistung stimmen, sondern auch die des Teams und vor allem der Technik: Und hier hat Mercedes am Wochenende einen äußerst wichtigen Beweis für die Zukunft abgeliefert.
Mercedes hat endlich den Durchbruch erzielt
"In die richtige Richtung" gehe es, merkte Teamchef Toto Wolff in Kanada nicht zum ersten Mal an. Gehört haben wir diese Durchhalteparolen bei den Silberpfeilen freilich schon oft, doch hellhöriger machen da die Aussagen Russells, dass sich dieses Mal definitiv etwas anders anfühle: "Zu einhundert Prozent", verleiht der Brite seiner Einschätzung über die Nachhaltigkeit der jüngsten Formbesserung seines Arbeitgebers Nachdruck.
Die neuen Updates am W15 haben voll eingeschlagen: Das hatte sich schon in Monte Carlo angedeutet, in Montreal nun konsolidiert. "Wir hatten wirklich ein richtig schnelles Auto dieses Wochenende", sagt Russell und freut sich: "Endlich wieder um Siege kämpfen zu können, das macht Spaß. Darum geht es in der Formel 1, deshalb fahren wir Rennen."
Dabei redet Russell, als sei er Lewis Hamilton, so sehr hat er den Mercedes-Habitus offenbar verinnerlicht: Nach Jahren des Erfolgs in die ergebnistechnische Dürreperiode geraten, um jetzt endlich "wieder" angreifen zu können? In Wahrheit hat Russell bisher kaum um Siege kämpfen können. In Brasilien gewann er 2022 seinen ersten und bisher einzigen Grand Prix, wobei genau jenes Rennen bei Mercedes längst nicht mehr so positiv konnotiert ist.
Hat es einen doch glauben gemacht, die zu Beginn des neuen Reglements eingeschlagene Entwicklungsrichtung könne doch erfolgreich sein - und ließ einen deshalb gleich noch eine zweite Saison lang an einem, wie sich später herausstellte, Irrweg festhalten.
Ritter Russell soll Mercedes in eine neue Ära führen
Genauso gebetsmühlenartig wiederholt Wolff deshalb schon seit Wochen, dass es immer wieder auch Rückschläge geben werde, einfach weil man bei Mercedes mittlerweile ein gebranntes Kind ist - und nicht wieder den Versuchungen von damals erliegen will, als in Sao Paulo kurz die Hoffnung aufkeimte. Es muss sich seinerzeit im Spätherbst wie ein neuer Frühling angefühlt haben - ehe sich herausstellte, dass es nur die letzten Zuckungen einer abgelaufenen goldenen Ära in Silber waren.
"Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer", packte Wolff auch dieses Wochenende in Montreal gleich den nächsten Spruch fürs Phrasenschwein aus, und blieb den Jahreszeiten dabei treu: Lange, dunkle Winter hatte Mercedes nun aber auch wirklich genug in den letzten Jahren.
Russell, der vor wenigen Wochen im Rahmen des Rennens in Imola in einer mittelalterlichen Burgruine erst die Lorenzo-Bandini-Trophäe verliehen bekam, quasi den höchsten Nachwuchspreis der Formel 1, ist von Mercedes auserkoren worden, als der strahlende Ritter mit der silbernen Rüstung, der die Stuttgarter in eine neue Zeitrechnung führen soll.
Nur, dass die Übernahme des Zepters und der Rolle des Teamleaders schon so früh erfolgt, damit hatten die wenigsten gerechnet. Noch ist Superstar Lewis Hamilton zwar da, aber seine Leistung nicht in gewohntem Ausmaß - und im Kopf dürfte auch schon der ein oder andere Gedanke zu viel an seine Zukunft in Rot umherspuken.
In Montreal war Hamilton zwar grundsätzlich schnell unterwegs, in den entscheidenden Momenten fehlte aber irgendwie die Konzentration. Im Qualifying verpuffte seine Performance urplötzlich, und auch im Rennen kam das volle Potenzial des Rekordweltmeisters nicht zur Geltung, was dazu führte, dass er anschließend hart mit sich selbst ins Gericht ging.
Erinnerungen an Rosberg: Russell führt Hamilton vor
Eigentlich kein Wunder, schaut man nur mal auf die Zahlen im teaminternen Duell mit Russell: 8:1 führt der Jüngere der beiden Briten mittlerweile im Qualifying, immerhin 7:2 auch im Rennen.
Hinzu kommt am Sonntag, dass Russell Hamilton auch im direkten Duell auf der Strecke um mindestens die 13 Jahre älter aussehen ließ, die er im Vergleich zu ihm tatsächlich mehr auf dem Buckel hat. Das Manöver in der Zielschikane war hart, aber fair - und ließ Hamilton wenig Spielraum, sich zu verteidigen.
Das letzte Mal, dass man solch starke, bisweilen fast schon dominante Phasen eines Hamilton-Teamkollegen über einen derart langen Zeitraum sah, war Nico Rosberg gerade drauf und dran der Welt zu beweisen, dass auch in ihm ein Weltmeister steckte.
Mit keinem geringeren Ziel als die absolute Spitze war auch Russell einst angetreten, den Motosport-Kosmos zu erobern. Denn man darf nicht vergessen: Als der Brite als Junior auf dem Weg in die Formel 1 war, war Mercedes gerade in der absoluten Blütezeit.
Heißt im Umkehrschluss: Wäre Russell ein paar Jahre älter und entsprechend früher aufgestiegen, wäre er nun mutmaßlich mindestens mit einer Vizeweltmeisterschaft und einigen Grand-Prix-Siegen dekoriert. Schließlich hat selbst Hamilton-Wingman Bottas derer zehn.
Doch just mit Russells Ankunft im Team stürzte der Mercedes-Rennstall ab, und mit ihm auch die Aktie Russell, der auf dem Weg zum wichtigen Formel-2-Titel einst immerhin seine Freunde und Landsmänner Lando Norris und Alex Albon deutlich geschlagen hatte, ehe beim damals chancenlosen Williams-Team zum Einstand in der Königsklasse drei eher langatmige Lehrjahre anstanden.
Nicht mal Montreal kann Hamilton helfen
Es mag vielleicht nicht mehr der Prime-Hamilton sein, aber dass Russell den Rekordweltmeister im dritten gemeinsamen Jahr derart im Griff hat, ist schon eine Ansage: Erneut werden Erinnerungen wach an Nico Rosberg, der seinerzeit bei einem ebenfalls schwächelnden Mercedes-Team einem in die Jahre gekommenen siebenfachen Champion um die Ohren fuhr... namens Michael Schumacher.
Noch beeindruckender macht Russells Auftritt am Wochenende aber die Tatsache, dass der Circuit Gilles Villeneuve eigentlich Hamiltons Strecke ist. Die zu groß geratene Gokart-Bahn auf der Île Notre-Dame ist mit ihren harten Bremspunkten und nahestehenden Mauern längst zum Wohnzimmer des Briten geworden: Dort gewann Hamilton nicht nur seinen ersten Grand Prix, er ist mit sieben Triumphen und sechs Poles auch Rekordhalter - beide Bestmarken teilt er sich jeweils mit Schumi.
Spätestens jetzt dürfte klar sein, wer der neue Teamleader bei Mercedes ist, eine Rolle, in die Russell ja ohnehin reinwachsen soll - und in die es reinzuwachsen sich jetzt auch wieder lohnen könnte, wo es doch plötzlich so aussieht, als können die Silberpfeile nach Jahren des Hinterherfahrens und Leidens doch noch im Konzert der Großen mitspielen.
So erklärt sich auch Russells überschwänglicher Jubel nach dem Qualifying, der zunächst vielleicht etwas befremdlich anmutete - bei genauerer Betrachtung wird klar, dass das nicht bloß der Jubel über eine Pole war, es war der Jubel darüber, dass sein Traum von der Spitze der Formel 1 und einer potenziellen Weltmeisterschaft, der in den düstersten Stunden des Sidepod-Konzepts schon fast ausgeträumt schien, doch noch am Leben ist.
Wer fährt 2025 neben Russell bei Mercedes?
Was den Blick nach vorne für Russell bei den Silberpfeilen zusätzlich schmackhaft macht: Der Kelch, mit Carlos Sainz einen ebenfalls erfahrenen Teamkollegen zu bekommen, der sich bereits Grand-Prix-Sieger nennen darf und auf ähnlich hohem Level wie er selbst agiert, geht offenbar an ihm vorbei.
Vieles deutet hinter den Kulissen indes auf die Beförderung von Supertalent Andrea Kimi Antonelli ins Stammcockpit hin, doch in der aktuellen Formel 1 müssen Rookies, bei allem zweifelsfrei vorhandenem Talent, trotzdem erst einmal gewisse Lernphasen durchlaufen.
Erscheint Teamchef Wolff die Antonelli-Beförderung am Ende als doch noch zu früh, stehen mit Valtteri Bottas und Esteban Ocon überdies zwei altbekannte Optionen bereit, die Russell in Sachen Pace aber beide im Griff haben sollte.
Nur einen Stolperstein hat Russell noch im Weg, um Mercedes endgültig zu seinem Team zu machen - der, den seit drei Jahren gefühlt alle Fahrer im Weg haben: Max Verstappen.
Wolffs Pläne, den Superstar zu Mercedes zu locken, sind hinlänglich bekannt. Bei Red Bull versucht man auch deshalb gerade alles, um den Weltmeister doch langfristig im Team zu halten. Sergio Perez und Verstappen können sich zwar in echt weit weniger gut leiden, als es der für die Medien gespielte Burgfrieden und Schmusekurs vermuten lässt.
Die Verlängerung des ungefährlichen Mexikaners, der auch in Montreal vor allem wieder durch eine unterdurchschnittliche Leistung auffiel, kann aber getrost als weiterer Baustein einer Renovierung nach dem ungemütlichen Tornado namens Horner-Skandal gewertet werden, mit dem der Brausehersteller, oder das, was von ihm übrig ist, gerade versucht seinem Superstar wieder ein wohliges Heim einzurichten, das irgendwo auf dem Weg zwischen unangemessenen Chatnachrichten des Teamchefs und dem Abgang von Stardesigner Adrian Newey verloren gegangen zu sein scheint.
Wenn Horners einfache Logik also dem Vernehmen nach darauf aufbaut, dass der erfolgshungrige Niederländer, solange Red Bull siegt und Verstappen sich dort zumindest halbwegs wohlfühlen kann, das Team nicht verlassen wird - dann tat Russell vielleicht tatsächlich ganz gut daran, den Kanada-Grand-Prix am Sonntag nicht zu gewinnen, um seine eigenen rosigen Aussichten in Silber nicht zu gefährden...
Euer Frederik Hackbarth
P.S.: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat, nämlich Esteban Ocon, der gerade kräftig an seinem eigenen Ast sägt, das hat mein Kollege Christian Nimmervoll in der Schwesterkolumne aufgeschrieben, die ihr hier nachlesen könnt.