• 09. Oktober 2023 · 03:17 Uhr

Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat: Max Verstappen

Eine Laudatio auf den Weltmeister: Wie gut Max Verstappen wirklich ist, was ihn von anderen unterscheidet und welcher historische Verdienst Helmut Marko zuteilwird

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,

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Formel-1-Weltmeister 2023: Max Verstappen mit dem Siegerpokal beim Grand Prix von Katar Zoom Download

als ewiger Nörgler und Fingerzeiger - so, wie das in der DNA vieler Journalisten verhaftet ist - hätte ich in meinem "Wort zum Sonntag" heute gern gemeckert und kritisiert. Als einer, der in seinem Leben selbst nichts Gescheites gelernt hat, liegt mir das frustrierte über andere Schimpfen halt doch irgendwie am besten.

Über Toto Wolff zum Beispiel, der nach dem Crash von Lewis Hamilton und George Russell zu Hause womöglich das Essen quer über den Tisch verteilt hat, weil er so stinksauer war, wäre mir sicher was eingefallen. Oder auch über Logan Sargeant, der seit Monaten eigentlich in fast jedem Rennen "gut" für eine "Letzte-Nacht"-Kolumne ist.

Aber den nörgelnden Part überlasse ich heute meinem Kollegen Stefan Ehlen in seiner "ausgeborgten" Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat". Bei mir schläft diesmal, so will es die Tradition am Montag nach einer WM-Entscheidung, der neue Weltmeister am besten: Max Verstappen.

Abu Dhabi 2021: Was wäre wenn?

Manchmal frage ich mich, ob die (Formel-1-)Welt heute wohl die gleiche wäre, wenn Michael Masi in Abu Dhabi 2021 nicht die zumindest fragwürdige Entscheidung getroffen hätte, die überrundeten Fahrzeuge vor dem Restart überholen zu lassen.

Helmut Marko vertritt ja beharrlich die Ansicht, dass Verstappen mit seinen frischen Reifen Abu Dhabi trotz der "Pufferautos" zwischen ihm und dem führenden Lewis Hamilton gewonnen hätte. Nun, da bin ich anderer Meinung. Verstappen mag ein Genie am Lenkrad sein. Wunder bewirken kann er aber auch nicht.

Aber wahrscheinlich wäre er dann zwar kein drei-, aber trotzdem ein zweimaliger Weltmeister. Denn als die Formel 1 das legendäre Abu-Dhabi-Finale heiß diskutierte und sich über den schwarzen Rollkragenpulli von Toto Wolff lustig machte, hatte Adrian Newey die Pläne für den 2022er-RB18 längst fertig in der Schublade.

Adrian Newey und der Groundeffect

Es war nicht nur Verstappen, der ab Anfang 2022 eine neue Zeitrechnung in der Formel 1 einleitete. Es war vor allem Neweys altes Wissen über die "Groundeffect-Cars", das Red Bull mit Verstappen am Steuer zum Maß aller Dinge gemacht hat.

Und doch ist es meiner Meinung nach Verstappens Genius, den es in dieser Laudatio primär zu würdigen gilt. Denn im Paddock ist die Ansicht weit verbreitet, dass der Red Bull RB18 und vor allem der aktuelle RB19 der Konkurrenz haushoch überlegen waren/sind. Ich bin mir da, ehrlich gesagt, gar nicht so sicher.

Wie gut ist Verstappen wirklich?

Klar ist: Der RB19 ist mit hoher Wahrscheinlichkeit das beste Auto im Feld. Aber ob der Abstand zur Konkurrenz wirklich so groß ist, wie viele glauben, wage ich vorsichtig zu bezweifeln. Diejenigen, die regelmäßig unsere Analysen auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de schauen, wissen das. (Hier geht's zum Re-Live der F1-Show am Sonntagabend nach dem Grand Prix von Katar!)


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Sergio Perez sieht neben Verstappen aus wie ein Amateur, genau wie Pierre Gasly und Alexander Albon vor ihm. Doch wollen wir nicht vergessen: Das ist der gleiche Sergio Perez, der schon vor zehn Jahren im Sauber die Großen geärgert hat, der gleiche Sergio Perez, der im Racing Point ein Rennen gewinnen und öfter mal aufs Podium fahren konnte, der gleiche Sergio Perez, der Lance Stroll alt aussehen hat lassen, wie das nicht einmal Sebastian Vettel gelungen ist.

Sergio Perez, davon bin ich überzeugt, hat das Rennfahren nicht verlernt. Was sich aber seit den Zeiten, als er bei Force India respektive Racing Point der heißeste Underdog der Formel 1 war, geändert hat, ist der Teamkollege. Nennen wir es den Verstappen-Faktor.

Verstappen: Mit 18 schon gut, mit 26 unschlagbar?

Verstappen zeichnet aus, dass er schon in jungen Jahren, als er mit zarten 18 gleich sein allererstes Rennen für Red Bull in Barcelona 2016 gewinnen konnte, ein Rohdiamant war. Ein Jahrhunderttalent. Vielleicht noch ein bisschen ungeschliffen, aber mit höchster Karatzahl. Garantierte Wertsteigerung absehbar.

Doch anders als andere Supertalente blieb er in seiner Entwicklung nicht stehen. 2016 und 2017 konnte ihm Daniel Ricciardo noch auf Augenhöhe begegnen. 2018 dämmerte Ricciardo dann nach und nach, dass der junge Kerl im anderen Auto in Zukunft nicht mehr zu bändigen sein wird, und er suchte bei Renault und später bei McLaren das Weite.

Ich habe längst die Übersicht darüber verloren, welche historischen Rekorde und Bestmarken Verstappen auf dem Weg zu seinem dritten WM-Titel ausgelöscht hat. Aber es spricht Bände, dass er die Konstrukteurs-WM 2023 auch im Alleingang gewonnen hätte. Verstappen 433 Punkte, Mercedes 326, Ferrari 298: So steht es nach 17 von 22 Rennwochenenden. Eigentlich völlig irre, oder?

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Und wenn ein Perez dazu in der Lage war, im damals vielleicht viert- oder fünftbesten Auto der Formel 1 ein Rennen zu gewinnen und öfter mal aufs Podium zu fahren, dann frage ich mich: Was würde eigentlich ein Verstappen in einem Mittelfeldauto aufführen? Wäre er auch im McLaren ein WM-Kandidat? Würde er selbst einen Alpine zu ein, zwei Siegen prügeln, so, wie das Fernando Alonso 2008 (damals noch unter dem Teamnamen Renault) gelungen ist? Würde er den Alfa Romeo regelmäßig in die Top 6 stellen?

Ich glaube: Ja, er könnte das. Aber es ist letztendlich eine rein hypothetische und nicht beweisbare These.

Höchstdotierter Formel-1-Vertrag aller Zeiten

Verstappen, so hört man, hat sich seinen Red-Bull-Vertrag bis Ende 2028 mit der besten Gage vergolden lassen, die je ein Formel-1-Team bezahlt hat. Es soll ihm wichtig gewesen sein, bestverdienender Grand-Prix-Pilot zu sein. Verstehe ich. Er ist ja auch der Beste, und es gibt kaum jemanden, der das heute noch ernsthaft in Abrede stellt.

Der (immer noch erst) 26-Jährige ist keiner, der sich stundenlang in Meetings mit seinen Ingenieuren vergräbt, wie das einst Ayrton Senna oder Sebastian Vettel praktiziert haben. Er sagt seinen Technikern, was er will, geht nach Hause, zockt dort am Rennsimulator, um seine Akkus aufzuladen, und kommt dann ausgeruht an die Rennstrecke zurück, um zu gewinnen und zu gewinnen und zu gewinnen.

Was Verstappen von Mika Häkkinen unterscheidet

Und er wird vom Gewinnen nicht satt. Nach 49 Grand-Prix-Siegen und drei Weltmeisterschaften könnte ein junger Mann, der sein ganzes Leben nur Motorsport gelebt hat, auch mal müde werden. Mika Häkkinen war auch so ein Ausnahmetalent, aber nach zwei WM-Titeln war der "Fliegende Finne" satt. Ausgebrannt. Müde.

Verstappen hingegen brennt immer noch wie am ersten Tag. Es nervt ihn, wenn Oscar Piastri in Katar den Sprint gewinnt, er kämpft um jeden Bonuspunkt für die schnellste Runde, egal wie unvernünftig das im größeren Kontext sein mag. Und das, obwohl ihn die Rekorde, die damit einhergehen, nicht scheren. Verstappen will gewinnen, immer und immer wieder, und kann nur ganz schlecht verlieren. Nicht nur auf eine WM-Saison gesehen, sondern an jedem einzelnen Tag.

Es ist genau diese Entschlossenheit, die ihm sein Vater Jos eingetrichtert hat und die ihn zu der Siegesmaschine macht, die er heute ist.

Hinter dem Champion steckt auch ein Mensch

Wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Wirkte Verstappen bis Abu Dhabi 2021 immer irgendwie unrund, getrieben, verbissen, so strahlt er seit jenem denkwürdigen Tag eine neue Souveränität und innere Ruhe aus. Und mit dieser Souveränität und Ruhe trat neben dem Jahrhundert-Rennfahrer plötzlich auch ein Mensch mit wachsender Persönlichkeit zum Vorschein.

Ganz egal, ob er darüber referiert, dass er auch ein Leben nach der Formel 1 für sich sieht, im Motorsport, aber auch außerhalb; ob er die Tochter seiner Lebensgefährtin Kelly Piquet (deren leiblicher Vater übrigens Daniil Kwjat ist) bei Simracing-Livestreams liebevoll auf den Schoß nimmt; ob er davon erzählt, wie wichtig ihm seine Familie ist und dass das echte Leben nicht nur aus Lenkrad und Gaspedal besteht: Der Max Verstappen von 2023 ist ein junger Mann mit Substanz, mit dem man sich inzwischen auch gern mal bei einem Abendessen und einem Glas Wein über Gott und die Welt unterhalten würde.

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Immer dabei: Foto von Freundin Kelly Piquet und Stieftöchterchen Penelope Zoom Download

Als er sich am Samstagabend in Katar den dritten WM-Titel gesichert hatte, wurde erstmal gefeiert. Verstappen ist kein Fan der F1-Sprints, und wahrscheinlich hat es ihm gestunken, dass er und seine Mädels und Jungs nicht ordentlich Party machen konnten, weil am Sonntag noch ein Rennen zu bestreiten war.

Aber bis drei Uhr morgens, so erzählt man sich, wurde dann doch gefeiert, und wahrscheinlich ist dabei auch der eine oder andere Spritzer Wodka ins Red Bull geflossen. Morgens um acht Uhr, das hat zumindest Helmut Marko verraten, gab's dann einen Feueralarm im Teamhotel, und somit war's mit Schlafen erstmal vorbei. Also haben einige Bullen dann am Pool zu Ende gechillt.

Kein Sieg, den Verstappen nicht gewinnen will

Doch wer dachte, Verstappen wäre am Tag nach seiner WM-Party verwundbar, der lag falsch. Sein Sieg im Hauptrennen war souverän, und als ihm sein Renningenieur Gianpiero Lambiase zwischendurch instruierte, er möge sein Tempo etwas anziehen, es aber bitte nicht übertreiben, witzelten wir in der Redaktion schon: Jetzt müssen sie Verstappen schon irgendwelche Zusatzchallenges stellen, damit er überhaupt gefordert wird.

Wenn das so weitergeht, könnte im RB20 vielleicht eine Sudoku-Challenge am Display nicht schaden.

Es ist nicht in Stein gemeißelt, dass Verstappen ewig weiter gewinnt und die sieben WM-Titel von Michael Schumacher und Lewis Hamilton ein- oder sogar irgendwann überholt. Aber in einem Punkt lehne ich mich jetzt schon aus dem Fenster: Unabhängig davon, ob er die Rekorde besagter Herren eines Tages bricht oder nicht, ist er in der Historie der besten Rennfahrer jetzt schon auf der gleichen Stufe. Mindestens.

Helmut Marko: Der Macher hinter den Kulissen

Übrigens finde ich, dass an einem Tag wie diesem noch ein historischer Verdienst gewürdigt werden sollte, nämlich jener von Helmut Marko. Mein inzwischen 80-jähriger Landsmann, den ich für seine Geradlinigkeit und gesunde Härte in der Weltsicht schätze, hat das heutige Erfolgsteam von Red Bull zusammengehalten, als Christian Horner und Adrian Newey seinerzeit das Gefühl hatten, dass Ferrari eine Adresse wäre, die sich in ihren Lebensläufen schick machen würde. Und der Dietrich Mateschitz das nötige Kleingeld für die fälligen Gehaltserhöhungen abschwatzen musste.

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Helmut Marko und Max Verstappen: Gemeinsam Historisches erreicht Zoom Download

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit Helmut Marko, ziemlich früh am Morgen (wie immer), in seinem Büro im Graz. Jahre her. Die genauen Details der Geschichte sind mir leider entfallen, aber im damals vorangegangenen Grand Prix hatte Verstappens Teamkollege (es muss Gasly oder Albon gewesen sein) beim Überholen Zeit hinter einem Toro Rosso verloren.

Daraufhin spielten die Verstappen-Hater auf Social Media verrückt und stellten provokant die Frage: Angenommen, das wäre nicht Gasly (oder Albon) gewesen, sondern Verstappen, dann hätte Marko doch bestimmt sofort sichergestellt, dass sich der Toro Rosso nicht breit macht, sondern Verstappen kampflos durchgewunken wird?

Ich fand, ich sollte dem Doktor genau diese Frage stellen. Und schon während ich anfing, sie zu formulieren, wurde mir klar: Okay, Verstappen hätte diese Hilfe gar nicht benötigt. Er hätte das Problem einfach selbst aus dem Weg geräumt und überholt. Auch ohne Eingriff von außen.

"Sehen Sie, Herr Nimmervoll", grinste Marko mich an. "Langsam verstehen Sie es ja doch ..."

Verstappen ist ein Ausnahmekönner am Lenkrad, ein Jahrhundertfahrer, ein Juwel im Formel-1-Auto. Aber ohne ein paar ganz wichtige Menschen in seinem Hintergrund wäre er heute wahrscheinlich kein dreimaliger Weltmeister.

Gratulation, Max.

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.

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