• 10. Juli 2023 · 07:38 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Carlos Sainz

Warum Carlos Sainz bei Ferrari in einer ähnlich verzwickten Situation steckt wie Gerhard Berger und welches Team ihm möglicherweise einen Ausweg bieten könnte

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,

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Carlos Sainz: Ein schöner Dienstwagen entschädigt für vieles, aber nicht für alles ... Zoom Download

ich bin Ende der 1980er-Jahre erstmals mit der Formel 1 sozialisiert worden. Sonntagnachmittag saß ich mit meinem Papa üblicherweise beim Kirchenwirt, in einem kleinen Nebenzimmer lief Formel 1 auf dem (verdammt kleinen) Fernseher, aus dem Lautsprecher hörte man Heinz Prüller irgendwelche Geschichten erzählen und Gerhard Berger saß im Ferrari.

An den Doppelsieg in Monza 1988 habe ich bruchstückhafte Erinnerungen; so richtig setzt mein Gedächtnis aber mit der Saison 1989 ein.

1989 war der Ferrari 640 mit den schmalen Seitenkästen und dem semiautomatischen Getriebe wunderschön (das optisch fast identische Nachfolgermodell 641 steht sogar im Museum of Modern Art in New York), aber das Ferrari-Team unter Rennleiter Cesare Fiorio leider auch anfällig für Pleiten, Pech und Pannen.

Gerhard Berger kam in 16 Rennen nur dreimal ins Ziel, aber wenn, dann richtig: In seinem herbstlichen Höhenflug wurde er hintereinander Zweiter in Monza, Erster in Estoril und Zweiter in Jerez. Die Bilder aus Estoril, wo er mit dem Helm am Schoß die Auslaufrunde fuhr, haben sich bei mir eingeprägt. Ansonsten ließ ihn die chaotische Saison bei Ferrari so entnervt zurück, dass er beim Skifahren in Tirol mit Ron Dennis klarmachte, 1990 zu McLaren zu wechseln.

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Estoril 1989: Gerhard Bergers Ferrari 640 war wunderschön, aber kein Weltmeisterauto Zoom Download

Das mit den Pleiten, Pech und Pannen ist 2023 ganz ähnlich wie vor 34 Jahren. Was heute anders ist: Ferrari gewinnt nicht, wenn doch mal alles klappt.

Was Sainz mit dem jungen Berger zu tun hat

Insbesondere die Situation von Carlos Sainz erinnert mich irgendwie an den jungen Berger. Ein gutaussehender, charmanter Kerl, vom Charisma her eigentlich wie gemacht für Ferrari, verdient für das, wie viel er unterm Strich gewonnen hat, ziemlich gut, und wird neben seinem Teamkollegen irgendwie immer als ein bisschen schlechter wahrgenommen, obwohl das vielleicht gar nicht gerechtfertigt ist.

So, wie Berger bei Ferrari 1989 neben Superstar Nigel Mansell (die Tifosi nannten ihn "Il Leone", den Löwen) in der Wahrnehmung ein wenig unterzugehen drohte, so ist auch Sainz neben Charles Leclerc gefühlt nur der zweitinteressanteste Ferrari-Fahrer; jedenfalls nicht der, auf den das Team seine Zukunft aufbaut.

Boxenfunk: Die nackte Wahrheit ohne PR-Zensur

Wenn man ein Gefühl dafür kriegen will, wie schlecht Ferrari organisiert ist, muss man anno 2023 nur ein wenig Boxenfunk hören.

Während der Safety-Car-Phase in Silverstone wurde zwischen Sainz und seinem Renningenieur darüber diskutiert, ob man nun nochmal reinkommen sollte, um Reifen zu wechseln und dann mit frischeren Pirellis nochmal richtig zu attackieren, oder ob man lieber die Trackposition behält und dann mit den ausgelutschten Reifen nach hinten verteidigt.

Sainz wollte dann wissen, wie lang es voraussichtlich dauern wird, bis er mit frischen Reifen das wieder aufgeholt hat, was ihn der Boxenstopp kosten würde. Was in einer ziemlich mühsamen Diskussion mündet, in der er von seinem Renningenieur praktisch einzeln erfragen muss, welche Rundenzeiten die anderen mit welchen Reifen so fahren.

Am Ende wechselt Sainz die Reifen nicht und sagt: "Ah, scheiß drauf."

Ferrari und der Boxenfunk, das war 2023 schon ein paar Mal Thema. Am prägnantesten in Barcelona, wo Leclerc so sauer war, dass er bis zur Zieldurchfahrt kein Wort mehr mit seinem Renningenieur reden wollte. Oder zuletzt in Montreal, wo sich Sainz im Qualifying nicht ausreichend über die Position anderer Fahrer informiert fühlte und deshalb vor der letzten Kurve Pierre Gasly im Weg stand.

Schräge Erklärung: Einfach zu langsam gefahren?

Aber hier geht's um Silverstone, und da hat mich nach dem Rennen die erste Analyse von Teamchef Frederic Vasseur verblüfft.

Vielleicht sei man mit den Reifen "ein bisschen zu konservativ" gewesen, räumte der Franzose im Interview mit Ted Kravitz von 'Sky' ein, und: "Wir hatten mit mehr Verschleiß gerechnet. Wir haben nicht genug gepusht."

Der Ferrari sei also schnell genug gewesen, man sei aber zu vorsichtig gefahren, um die Reifen nicht zu ruinieren, die letztendlich aber eh haltbar genug gewesen wären? Ferraris Erklärungen für schlechte Ergebnisse, bei allem Respekt, werden immer bizarrer.

Man fühlt sich zurückerinnert, wie Jock Clear vor dem ersten Rennen in Bahrain die Medien gemaßregelt hat, Ferrari habe doch kein Reifenproblem. Was seither alle Daten, die man irgendwie auswerten kann, eindeutig widerlegen. Clear ist damit zum Running Gag in unserer Redaktion geworden.

Und man muss Vasseur nur Sainz als Spiegel vorhalten, der klipp und klar sagt: "McLaren war schneller als wir, Mercedes war schneller als wir. Und weniger Reifenverschleiß hatten sie auch."

Harte Kritik von Ralf Schumacher an Sainz

Mit dem verschlissenen Hard rutschte Sainz dann einmal fast von der Strecke und schaffte es, sich innerhalb von ein paar hundert Metern zuerst von Sergio Perez, dann von Alexander Albon und letztendlich auch noch von Charles Leclerc überholen zu lassen. So fiel er vom siebten auf den zehnten Platz zurück. Am Boxenfunk: kein Wort drüber.

'Sky'-Experte Ralf Schumacher bezeichnet das als "fast peinlich"; Sainz sei "von der Rolle" gewesen.

Was der Boxenfunk aber verrät, ist, dass Vasseurs Behauptung, Ferrari habe in Silverstone eigentlich kein Problem mit dem Abbau der Reifen gehabt, auf wackeligen Beinen steht. Es waren noch keine zehn Minuten im Rennen gefahren, da meldete Sainz schon: "Struggling front left." Also: Mein linker Vorderreifen lässt nach.

Das Chaos zieht sich bei Ferrari durch alle Abteilungen. Am Boxenfunk, in der Kommunikation zwischen den immer genervter wirkenden Fahrern und ihren Renningenieuren, wird das am sichtbarsten.

"Bei denen liegen die Nerven blank", sagt einer, der Sainz gut kennt.

Wäre ein Teamwechsel das Beste für Sainz?

An Sainz' Stelle würde ich hinterfragen, was ich bei Ferrari eigentlich noch soll. An Leclerc, der aus irgendeinem Grund der Liebling der Chefetage zu sein scheint, wird's für ihn in Sachen teaminternen Sympathien vermutlich kein Vorbeikommen geben, und dafür, sich dauernd als Nummer 2 zu fühlen und nur wegen des Geldes bei Ferrari zu bleiben, ist Sainz mit 28 Jahren noch zu jung.

Gerhard Berger war 29, als er entschied, Ferrari hinter sich zu lassen und sich Ayrton Senna bei McLaren anzutun: "Was nützt mir das viele Geld, wenn ich nicht Weltmeister werden kann?"

Bis Ende 2024 hat Sainz noch Vertrag. Er wäre dumm, diesen zu kündigen. Und dann? Vielleicht bekommt er danach Lust auf was Neues, was Frisches, auf etwas, das Spaß macht und nicht nervt. Und wofür man von irgendwelchen TV-Experten nicht so schnell als "peinlich" denunziert wird.

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Da fällt einem spontan Sainz' alter Chef Andreas Seidl ein, der, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeobachtet, als Sauber-CEO gerade das aufbaut, was er 2026 als Audi-Teamchef führen wird. Seidl hätte seine Fahrer für 2026 im besten Fall schon gern 2025 im Team, und ein erfahrener Mann wie Sainz, mit dem er schon bei McLaren gute Erfahrungen gemacht hat, könnte perfekt ins Profil passen.

Nur ein Argument spricht eher nicht für Sainz: dass er dann die Erfahrung von vier Jahren Ferrari mitbringt. Denn das, was er in Maranello erlebt und gelernt hat, ist nicht gerade ein Garant für Erfolg in der Formel 1.

Übrigens: Nach allem, was wir wissen, hat es noch keine konkreten Gespräche zwischen Sainz und Seidl gegeben. Aber dass Sainz über Audi nachdenkt und Audi für Sainz ein spannender Plan B sein könnte, das gilt im Fahrerlager als offenes Geheimnis.

Könnt ihr euch Sainz und Audi als Kombination vorstellen? Schreibt eure Meinung in unser Diskussionsforum und tauscht euch dort mit gleichgesinnten Formel-1-Fans aus!

Am besten geschlafen hat letzte Nacht, zumindest nach Meinung meines Kollegen Stefan Ehlen, Zak Brown. Wie er seine Laudatio auf den McLaren-CEO begründet, könnt ihr in der Schwesterkolumne nachlesen.

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.

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