• 03. April 2023 · 04:23 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Sucht's euch aus!

Wir rekonstruieren Sekunde 30 nach dem Neustart: Warum Nico Hülkenberg eigentlich auf dem Podium stehen müsste, wenn man die Regeln genau nimmt

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Sucht's euch aus!

Eigentlich hätte sich Nico Hülkenberg für sein erstes Podium feiern lassen sollen Zoom Download

unsere Rennanalyse am Sonntagabend haben wir auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de (Jetzt abonnieren!) mit dem Titel "So hat die FIA Hülkenberg sein erstes Podium geklaut!" aufgemacht, und bei der grafischen Gestaltung des Thumbnails ließ ich mich dazu hinreißen, "Hülkis Podium" als Eyecatcher draufzuschreiben.

"Too much" fand das der eine oder andere User, und unterstellte uns Clickbait im Kampf um die Aufmerksamkeit des YouTube-Algorithmus.


So hat die FIA Hülkenberg das Podium geklaut!

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Wir erklären, warum die Startaufstellung gegen den Wortlaut des Reglements war und auf welcher Grundlage Haas Protest eingelegt hat. Weitere Formel-1-Videos

Nun, das sehe ich nicht so: Die FIA hat Nico Hülkenberg meiner Meinung nach tatsächlich sein erstes Podium in der Formel 1 geklaut, indem sie ihre eigenen Regeln ungenau ausgelegt hat. Und das will ich in dieser Kolumne so präzise wie möglich erklären.

Dazu müssen wir ganz genau auf den Neustart des Grand Prix von Australien in Runde 57 (von 58) schauen.

Neustart in Runde 57 unter der Lupe

Hülkenbergs Haas steht, auf der linken Seite des Grids, auf Platz 8 der Startaufstellung, rechts neben ihm auf P7 Lando Norris im McLaren. Norris kommt auf den ersten paar Metern sogar besser weg, doch dann beschleunigt Hülkenberg schneller und geht an ihm vorbei.

In der ersten Kurve verbremst sich Pierre Gasly und rutscht ins Gras. Ein paar Meter weiter vorn schubst Carlos Sainz Fernando Alonso an. Alonso dreht sich auf der rechten Seite der Fahrbahn, Gasly brettert links durch die Botanik. Jetzt ist Hülkenberg schon Fünfter und hängt sich in den Windschatten von Lance Stroll und Sainz.

Beim Anbremsen von Kurve 3 verpasst Stroll mit kalten Reifen den Bremspunkt, es qualmt und funkt, und der Aston Martin fährt geradeaus weiter. Es reicht zwar nicht mehr ganz, um auch Sainz noch zu überholen, aber Hülkenberg vermeidet zumindest eine Berührung mit dem Ferrari und ist jetzt Vierter. Auch das ist im Haas nichts anderes als sensationell.

Außen in Kurve 4 befindet sich eine LED-Anzeige, auf der den Fahrern ein Safety-Car-Einsatz angezeigt werden kann. Als Hülkenberg an dem Punkt vorbeifährt, leuchtet diese nicht auf.

Erst rund 100 Meter später, beim Herausbeschleunigen aus Kurve 4, geht zuerst Sainz und dann auch Hülkenberg vom Gas. Hülkenberg kann jetzt schon die nächste Safety-Car-LED sehen, links neben der Fahrbahn vor Kurve 5. Und diese leuchtet.

Seit dem Start sind jetzt, wir halten das für unser Protokoll fest, exakt 30 Sekunden vergangen.

Warum ist das so wichtig?

War die "Paraderunde" hinter dem Safety-Car nötig?

Das Rennen musste nach der neuerlichen Unterbrechung nochmal neu gestartet werden, weil die 58. und letzte Runde noch nicht absolviert war. In Runde 57 fuhr das Feld zurück an die Box, in Runde 58 wurde es vom Safety-Car in die Startaufstellung gebracht. Eine reine Paraderunde also, damit der formelle Ablauf und die Renndistanz stimmen.

So sieht es das Reglement vor, und das mag nicht jeder Fan auf den ersten Blick sinnvoll finden. Regeltreu und pragmatisch ist es aber schon. Rein theoretisch könnte jemand auf der neutralisierten Runde hinter dem Safety-Car noch einen Motorschaden erleiden, zum Beispiel.

Würde die Rennleitung nur alle Regeln so genau nehmen!

Die schlampige Handhabung von Artikel 57.3

Denn als die Reihenfolge festgelegt wurde, in der das Feld hinter dem Safety-Car über die Ziellinie zu fahren hatte, war Hülkenberg plötzlich wieder Siebter.

Dazu muss man wissen: Artikel 57 des Sportlichen Reglements ("Suspending a Sprint Session or a Race") sieht vor, dass im Falle einer Rennunterbrechung für die Startaufstellung beim Neustart jene Reihenfolge wiederhergestellt wird, an der es zuletzt möglich war, die Position aller Fahrzeuge zu ermitteln.

Im englischen Originalwortlaut liest sich das so: "In all cases the order will be taken at the last point at which it was possible to determine the position of all cars. All such cars will then be permitted to resume the sprint session or the race."

Was NICHT in Artikel 57.3 steht

Im Reglement steht ausdrücklich nicht, dass die Reihenfolge am letzten Messpunkt des offiziellen Timingsystems festgemacht wird, den alle Fahrzeuge passiert haben. Und im Reglement steht auch nicht, dass der Rennleiter die Startreihenfolge möglichst schnell ermitteln muss, damit die Wartezeiten im Fernsehen nicht zu lang dauern.

Doch genau mit diesen Punkten, die eben nicht im Reglement stehen, begründen die vier Rennkommissare (Loïc Bacquelaine, Enrique Bernoldi, Christopher McMahon und Nish Shetty), warum sie dem Protest des Haas-Teams gegen das Rennergebnis nicht stattgegeben haben.

In Punkt 8 der Urteilsbegründung heißt es zum Beispiel: "Er (Rennleiter Niels Wittich; Anm. d. Red.) sagte, dass in der für die Fortsetzung des Rennens verfügbaren Zeit die letzte Startaufstellung der zuverlässigste Zeitpunkt war; angesichts der Daten, die für ihn zu dem Zeitpunkt verfügbar waren, den relativen Positionen der Autos und den Zwischenfällen auf der Strecke."

Da frage ich mich aber: Steht in Artikel 57.3 irgendwo, dass es im Zweifelsfall schnell gehen muss? Nein. Im Reglement steht es klipp und klar: Die Startaufstellung wird ermittelt zum letztmöglichen Zeitpunkt vor dem Abbruch, in dem sich die Positionen ermitteln lassen.

Drei Meinungen: Welche Reihenfolge ist die richtige?

Wann dieser Zeitpunkt ist, darüber gibt's drei Meinungen. Wittich findet, dass es der Moment des Starts war. Wir nennen diesen Zeitpunkt Sekunde 0.

Das Haas-Team argumentiert, man hätte die zweite Safety-Car-Linie dafür heranziehen können - genau wie beim Präzedenzfall in Silverstone 2022, als der Start ebenfalls abgebrochen wurde.

Die zweite Safety-Car-Linie befindet sich in Melbourne ein paar Meter nach der Boxenampel. Sie ist vor der ersten Kurve quer über die Start- und Ziellinie eingezeichnet.

Das Überqueren der zweiten Safety-Car-Linie passiert in Sekunde 9. Hülkenberg hat zwar Norris schon überholt, doch vor ihm haben sich Alonso, Stroll und Gasly noch nicht aus dem Rennen gekegelt. Das ist der Zeitpunkt, von dem Haas sich gewünscht hätte, dass er für die Startreihenfolge herangezogen wird.

Dabei wird noch volles Rohr weitergefahren. Seit dem Start sind exakt 30 Sekunden vergangen, als die Safety-Car-LED bei Kurve 5 erstmals aufleuchtet. Also müsste dem Wortlaut des Reglements nach eigentlich die Reihenfolge zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden, solange sie sich ermitteln lässt.

Startreihenfolge ermitteln: Eine Rekonstruktion mit F1 TV

Also let's do it!

Klar ist: Verstappen führt, Hamilton ist Zweiter, dahinter folgen Sainz, Hülkenberg und Yuki Tsunoda.

Dahinter wird die Ermittlung der Reihenfolge, zugegeben, etwas komplizierter. Weil Stroll in der Sekunde, in der das Safety-Car-Signal an die LED-Boards an der Strecke ausgespielt wird, gerade durch das Kiesbett rollt.

Aber selbst mit F1 TV konnte ich binnen weniger Minuten rekonstruieren, dass Norris und Oscar Piastri gerade noch an Stroll durchrutschen, bevor das gelbe Licht aufleuchtet. Damit sind die beiden McLarens Sechster und Siebter.

Die Onboard von Guanyu Zhou hingegen belegt eindeutig, dass Stroll neben der Strecke noch vor ihm lag, als das Safety-Car-Signal aufleuchtete. Also Stroll auf P8, vor Zhou, Valtteri Bottas, Sergio Perez und Alonso.

Pierre Gasly, Esteban Ocon, Logan Sargeant und Nyck de Vries stehen - in dieser Reihenfolge - neben der Strecke.

Zur Erinnerung an Artikel 57.3: "letztmöglicher Zeitpunkt". Und ich würde doch meinen: Das, was ein mittelmäßig intelligenter Amateur mit einem iPad und der F1-TV-App kann, sollte auch die Rennleitung eines Milliardensports, mit dutzenden Monitoren und Unmengen von Daten, können.

Warum nicht Sekunde 0 gelten sollte, sondern Sekunde 30

Sekunde 30, nicht Sekunde 9 - und schon gar nicht Sekunde 0. Daraus schließe ich: Hätte Niels Wittich das Reglement so ausgelegt, wie es geschrieben ist, dann hätte Nico Hülkenberg den Grand Prix von Australien nicht als Siebter, sondern als Dritter beendet.

In ihrer Abweisung des Haas-Protests schreiben die Kommissare unter Punkt 10, dass die GPS-Daten für die Ermittlung der Startreihenfolge "unzuverlässig" waren.

Ein Argument, das meiner Meinung nach nicht zieht. Selbst wenn dem so sein sollte: Man hätte immer noch Onboards verwenden können, um die Reihenfolge in der Sekunde, in der das Rennen neutralisiert wurde, zu ermitteln.

Was mir die FIA entgegenhalten würde

Ein Gegenargument, Sekunde 30 heranzuziehen, lautet: Würde man die Regel so auslegen, dass wirklich der letztmögliche Zeitpunkt zählt, dann könnte rein theoretisch jemand mit Vollgas an allen anderen vorbeifahren, absichtlich crashen und so eine rote Flagge erwirken. Und trotzdem hätte er zum Zeitpunkt des Abbruchs Positionen gewonnen.

Stimmt! Aber erstens ist das nicht passiert, und zweitens liegt dann das eigentliche Problem woanders, nämlich in der Formulierung von Artikel 57.3.

Den könnte man ja für die Zukunft umformulieren. So nämlich, dass die letzte Messlinie des offiziellen Timingsystems zählt, die noch alle Fahrzeuge überquert haben, bevor der Zwischenfall eingetreten ist, der letztendlich für den Abbruch ausschlaggebend war.

So wurde das in der Praxis ja auch gehandhabt. Aber man sollte dann halt auch die Regeln so schreiben.

Regelauslegung: Es fehlt die einheitliche Linie

Zumal die Schiedsrichter bei der Auslegung ihrer eigenen Regeln mal ziemlich pingelig sind, mal aber auch nicht.

Ob die Fünfsekundenstrafe gegen Sainz wegen der Karambolage mit Alonso in Kurve 1/2 nicht etwas zu hart war, darüber muss man diskutieren dürfen. Man hätte Sainz meines Erachtens nach zumindest die Chance geben sollen, sich zu erklären. Das ist nicht passiert.

Auf der anderen Seite lässt man Gasly unbestraft, der ausgerechnet seinen Teamkollegen Ocon ohne jede Not in die Mauer drückt. Das Argument, dass er vom Ausflug in die Wiese noch im Schleudern war und nicht volle Kontrolle über sein Auto hatte, ist nicht zulässig. Jedes Ruckeln hatte sich zum Zeitpunkt des Crashs schon längst wieder stabilisiert.

Ein ganz ähnlicher Zwischenfall hat Sebastian Vettel übrigens in Kanada 2019 den Sieg gekostet, weil er dafür bestraft wurde, dass er Hamilton auf ganz ähnliche Weise abgedrängt hat. Das ist nicht stringent.

Es ist ganz eindeutig, dass Gasly Ocon nicht den nötigen "Racing Room" lässt. Und dass Gasly nach dem Rennen zu Ocon ging, um sich zu entschuldigen, sagt eigentlich alles über die Schuldfrage aus, was man wissen muss.

Man kann den Rennkommissaren zugutehalten, dass solche Zwischenfälle in der ersten Runde anders bewertet werden als mitten im Rennen. Und sie halten in ihrem Urteil auch fest, dass beide Fahrer die Entscheidung so akzeptiert haben.

Ist ja auch klar: Hätte es eine Strafe gegen Gasly gegeben, wäre er wegen seines vollen Strafpunktekontos beim nächsten Rennen gesperrt worden. Kein Wunder, dass Ocon dann nicht auf seinem Recht besteht. Das hätte Alpine-Teamchef Otmar Szafnauer sicher nicht gutgeheißen.

Aber Regel ist nun mal Regel, egal ob Teamkollege oder nicht.

Warum es wichtig ist, Regeln präzise zu formulieren

Die FIA begibt sich auf gefährliches Terrain, wenn sie ihre Regeln mal so, mal so auslegt. Denn was ist, wenn es beim nächsten Mal nicht Gasly ist, der in Ocon reinfährt, sondern Max Verstappen, der Lewis Hamilton abschießt? Verstappen kann sich dann auf den Präzedenzfall Melbourne 2023 berufen - und müsste eigentlich freigesprochen werden.

Ihr könnt euch selbst aussuchen, ob jetzt Nico Hülkenberg, Niels Wittich oder die Rennkommissare am schlechtesten geschlafen haben. Aber eins steht fest: In Sachen Regeln und wie diese ausgelegt werden, gibt's in der Formel 1 viel Luft nach oben. Und das musste hier mal aufgeschrieben werden.

Gestattet mir noch die Frage: Seht ihr das eigentlich auch so, oder bin ich zu streng mit der FIA und der Formel 1 insgesamt? Warum diskutiert ihr darüber nicht im Motorsport-Total.com-Forum mit anderen Usern über diese Kolumne? Es tut manchmal gut, sich die Dinge von der Leber zu schreiben. Mir hilft's jedenfalls ...

Aber bevor ihr das tut, solltet ihr unbedingt noch "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" von Stefan Ehlen lesen, diesmal mit Max Verstappen als Thema. Die Schwesterkolumne gibt's jetzt montags immer auch auf Motorsport-Total.com und Formel1.de!

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.

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