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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Niels Wittich
Warum man vorsichtig dabei sein sollte, den Stab über die FIA zu brechen, und welche Rolle der virtuelle Rennkontrollraum in Genf dabei spielt
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,
© Motorsport Images
Niels Wittich bekommt in seinem Job als Rennleiter einfach keine Ruhe Zoom Download
Stefan Ehlen hat sich entschieden, den Titel der Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" diesmal ironisch zu interpretieren. "Am besten geschlafen" hat für ihn nämlich die FIA. Das trifft sich eher schlecht, denn genau das sollte auch in dieser Kolumne zum Grand Prix von Saudi-Arabien 2023 das Thema sein. Also möchte ich in einigen Punkten widersprechen und zumindest ein paar ergänzende Gedanken einbringen.
Erstens: FIA-Rennleiter Niels Wittich ist sicher ein kompetenter Motorsportfunktionär. Diese Kolumne an ihm als metaphorischen "Verlierer des Wochenendes" aufzuhängen, ist wahrscheinlich unfair. Aber ich habe mir nun mal vorgenommen, mein "Wort zum Sonntag" wann immer möglich an einer Person festzumachen.
Klar ist: Die FIA als Verband trägt die Gesamtverantwortung für das Chaos, das sich letzte Nacht nach dem Rennen abgespielt hat. Soweit bin ich mit der Ehlen-Sicht auf die Dinge d'accord. Inwieweit Wittich auch persönliche Verantwortung trägt, ist von außen nicht seriös zu beurteilen.
Aber: Letztendlich muss der Rennleiter derjenige sein, der den Kopf für die reibungslose Organisation des Rennens hinhält. [Für den Grand Prix von Saudi-Arabien eine irgendwie schräge Formulierung, "Kopf hinhalten", nicht wahr? Hier geht's zu Informationen über die Menschenrechtslage in Saudi-Arabien!] Und da sind dann doch einige Fehler passiert, über die man diskutieren muss.
Safety-Car: War es wirklich notwendig?
Übrigens nicht, dass bei der Situation um Lance Stroll das Safety-Car auf die Strecke geschickt wurde. Ja, im Nachhinein betrachtet war das eine übertriebene Intervention im Rennen. Die Begründung der FIA, die Rennleitung habe auf den ersten Bildern nicht sofort erkennen können, ob das Auto sicher abgestellt ist oder nicht, mag albern klingen.
Aber es kann in einem Rennen mit 50 Runden schon mal passieren, dass die FIA-Mitarbeiter an Wittichs Seite nicht jeden einzelnen Monitor und jeden einzelnen Fleck der Strecke zu 100 Prozent lückenlos überwachen. Es reicht schon ein Wortwechsel mit dem Sitznachbarn, um kurz abgelenkt zu sein.
Dass man dann auf Nummer sicher geht, statt wertvolle Sekunden verstreichen zu lassen, in denen erstmal geklärt werden muss, wo das Auto denn nun steht, und ein schwerer Unfall passieren könnte, ist für mich nachvollziehbar. Das habe ich übrigens in unserer Rennanalyse auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de am Sonntagabend noch etwas genauer erklärt.
FIA-Penalty erklärt: Darum bekam Alonso P3 zurück!
Wir erklären, auf welche Regeln sich die FIA-Stewards bezogen haben, wie es zu dem Chaos kommen konnte und was in Zukunft getan werden muss. Weitere Formel-1-Videos
Selbst über das Alonso-Urteil, bei dem sich die FIA selbst revidieren musste, kann man im Nachhinein betrachtet sagen: Am Ende, als endlich die richtigen Fakten auf dem Tisch lagen, wurde die richtige Entscheidung getroffen.
Warum hat die Meldung 50 Minuten gedauert?
Aber (und damit zweitens): Festzustellen, dass der Wagenheber Alonsos Auto berührt hat, und das an die Rennkommissare zu melden, darf nicht 50 Minuten dauern.
Ich habe Verständnis dafür, dass solche feinsten Details der Rennleitung vor Ort in Dschidda durchrutschen. Aber dafür gibt's ja den berühmten FIA-Rennkontrollraum in Genf. Wie der genau aussieht und wie viele Mitarbeiter dort sitzen, daraus macht der Verband bisher ein Geheimnis. Vielleicht aus gutem Grund.
Denn man sollte meinen, dass dort ausreichend Mitarbeiter sitzen, um im Zweifelsfall jede relevante Rennsituation gründlich zu durchleuchten und zu analysieren, sodass ein etwaiger Verdacht auf einen Regelverstoß zeitnah an Wittich und sein Team gemeldet werden kann.
Auf welcher Grundlage hat Genf zuerst Entwarnung gegeben?
Stattdessen gab der Kontrollraum unmittelbar nach dem Alonso-Stopp Entwarnung - und dann, eine Runde vor Rennende, die Meldung ab, dass da vielleicht doch was nicht gestimmt hat.
Das wirft Fragen auf.
Warum wurde zuerst Entwarnung gegeben? Selbst unser Co-Kommentator Daniel Windolph dämmerte im Rahmen unserer YouTube-Watchparty während des Rennens sofort, dass da was faul gewesen sein könnte. Hätte da nicht auch in Genf einer auf die Idee kommen müssen, sich die Szene im Replay etwas genauer anzuschauen?
Und wenn schon Entwarnung gegeben wurde, wie das die Kommissare in ihren Dokumenten behaupten, warum wurde die Szene in Genf dann offenbar später doch nochmal angeschaut und die ursprüngliche Entscheidung widerrufen? Warum kam es doch noch zu einem Bericht an die Kommissare, wenn der Fall doch schon geschlossen war?
Kontrollraum in Genf: Wo ist die Transparenz?
Sowas kann mal passieren, wenn in so einem Kontrollraum ein halbes Dutzend schlecht bezahlte Studenten sitzen, von denen jeder zwei Monitore im Auge halten muss und die nebenher damit beschäftigt sind, auf Facebook und Twitter zu surfen.
Aber bei einem Milliardenbusiness wie der Formel 1 kann man, so hoffe ich zumindest, davon ausgehen, dass in Genf ausreichend professionell ausgebildete Ressourcen vorhanden sind, um mit solchen Situationen kompetent umzugehen.
Wittich ist ja kein Idiot. Werden ihm die richtigen Szenen vorgelegt, wird er die richtige Entscheidung darüber treffen, was er den Kommissaren zur Beurteilung weiterleiten muss und was nicht. Aber wenn die, die ihm zuarbeiten, ihren Job nicht richtig machen, muss er fast zwangsläufig ins Schwimmen kommen.
Wir wissen als Außenstehende letztendlich viel zu wenig, um zu beurteilen, wo die individuelle Verantwortung liegt. Aber, und da bin ich anderer Meinung als Kollege Ehlen, ich würde nicht pauschal aufschreiben wollen, dass das System insgesamt krankt.
Warum die FIA bei den Regeln kein Auge zudrücken darf
Denn, drittens, es ist schon richtig, dass die FIA die Einhaltung ihrer eigenen Regeln konsequent überwacht. Das mag manchmal dazu führen, dass Entscheidungen ohne "Menschenverstand" getroffen werden, wie es Alonso am Sonntagabend formuliert hat.
Ich verstehe schon, woher das kommt: Ob der Wagenheber das Auto nun berührt hat oder nicht, hat für das Rennergebnis keinen Unterschied gemacht. Den Fahrer für etwas zu bestrafen, wofür er nichts kann, erscheint auf den ersten Blick wenig sinnvoll. Ist es wahrscheinlich auch. Eine Geldstrafe wäre in solchen Fällen gleichzeitig konsequent und trotzdem angemessen.
Aber denen, die nach mehr Augenmaß und gesundem Menschenverstand rufen, sage ich: Regeln müssen auf Punkt und Komma eingehalten werden! Gibt die FIA bei einer Entscheidung auch nur einen Millimeter nach und beruft sich dabei auf Augenmaß und gesunden Menschenverstand, wird das bei nächster Gelegenheit von den Teams schamlos ausgenutzt. Und sie können sich dabei auch noch auf einen Präzedenzfall berufen.
Artikel 54.4 sollte gleich am Donnerstag nachgeschärft werden
Es ist immer so eine Sache mit dem Augenmaß im Sportrecht. Augenmaß kennt keine klaren Grenzen. Regeln schon.
Zumindest dann, wenn sie richtig formuliert sind. Am Auto darf beim Absitzen einer Strafe nicht gearbeitet werden, heißt es in Artikel 54.4 des Sportlichen Reglements. Aber was bedeutet "am Auto arbeiten" denn? Wo ist das definiert? Das ist die Grauzone, mit der sich die FIA im konkreten Fall angreifbar gemacht hat.
Grauzonen, und das ist die gute Nachricht, kann man eliminieren. Am besten schon am kommenden Donnerstag, beim nächsten Meeting des Sporting Advisory Comitees (SAC). So hat es die FIA am Sonntagabend zumindest angekündigt.
Und jetzt, lieber Herr Wittich, können Sie sich auch noch die Kolumne meines Kollegen Ehlen durchlesen. Der war in der Beurteilung der FIA, finde ich zumindest, weit weniger gnädig als ich.
Oder? Es würde mich freuen, wenn der eine oder andere im Forum auch mit anderen Usern über diese Frage debattieren würde. Denn genau diese Diskussionen sind es, die die Formel 1 so viel interessanter machen als viele andere Sportarten, die weit weniger komplex sind.
Euer
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.