Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Nicholas Latifi
Szafnauer, Binotto, Blume: Alle könnten sie schlecht geschlafen haben, aber letztendlich ist es wohl für Nicholas Latifi an der Zeit zu gehen
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,
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Nicholas Latifi hat in bisher 54 Formel-1-Rennen erst zweimal WM-Punkte geholt Zoom Download
eigentlich hatte ich seit Samstag die fixe Idee, dass diese Kolumne Otmar Szafnauer gehören wird. Der Mann kann einem richtig leidtun. Schon bei Racing Point hatte man das Gefühl, dass er oftmals vor einer TV-Kamera die Fehler anderer Leute (Lawrence Stroll) verteidigen musste, ohne davon wirklich überzeugt zu sein. Das war diesmal nicht anders.
Von der berühmten Simulatorsituation rund um Oscar Piastri, am Tag der berühmten Presseaussendung, gibt es zwei Versionen: die von Piastri und die von Szafnauer. Als ich Szafnauer das in der FIA-Pressekonferenz am Samstag erklärt habe und von ihm wissen wollte, wer denn nun die Wahrheit sagt, meinte er nur: "Ich habe dich noch nie angelogen!"
Verzeihung, aber daran habe ich meine Zweifel. Ich möchte Szafnauer keine Lüge unterstellen, denn ich war in der Situation (die auf unserem Portal noch eine ausführliche Aufarbeitung erfahren wird in den nächsten Tagen) nicht dabei und er schon. Aber sagen wir mal so: Piastris Version klingt plausibler, wenn man das CRB-Urteil gelesen hat.
Ferrari: Sollten wir der Scuderia eine eigene Kolumne widmen?
Dann wäre da noch Mattia Binotto, ein echter Dauerbrenner als "Letzte-Nacht"-Kandidat am Montagmorgen. Nico Rosberg sagt, jedes Formel-2- und jedes Formel-3-Team würde in Sachen Strategie und Boxenstopps einen besseren Job machen als Ferrari, und fordert, dass jetzt Köpfe rollen müssen.
Aber Binotto denkt gar nicht dran. Er lässt Rosberg ausrichten, dass seiner Meinung nach Stabilität auf lange Sicht erfolgreicher sein wird. Und er meint auch, von außerhalb des Paddocks sei es leicht, solche Kommentare abzugeben.
Dazu muss man wissen: Rosberg, der Formel-1-Weltmeister von 2016, ist zwar TV-Experte für Sky Deutschland und Sky UK, darf aber den Paddock nicht betreten, weil er nicht gegen das Coronavirus geimpft ist. Er habe nämlich "Monster-Antikörper", haben wir vor ein paar Monaten schon gelernt. Binotto hat das am Sonntagabend für einen kleinen Seitenhieb genutzt.
Hat Marko wirklich den Porsche-Deal abgesagt?
Und natürlich, zu guter Letzt, Porsche-CEO Oliver Blume, dem Helmut Marko am Sonntagabend via 'F1-Insider.com' eine wahre Hiobsbotschaft ausrichten hat lassen: "Porsche wird kein Anteilseigner bei uns werden." Der Deal, bei dem zumindest ein sogenannter "Termsheet" ("Piastrigate" lässt grüßen!) schon unterschrieben war, droht auf den allerletzten Metern zu platzen.
Red-Bull-Teamchef Christian Horner, erzählt man sich im Paddock, ist kein Freund davon, sich von einem gleichrangigen Porsche-CEO in einer gemeinsamen Formel-1-Gesellschaft dreinquasseln zu lassen, und hat sich, wie er selbst betont, seinen Status als alleiniger Entscheider im Team sogar in seinen Vertrag schreiben lassen.
Wer letzte Nacht wirklich am schlechtesten geschlafen hat
Aber aufgewacht bin ich heute mit dem Einfall, ausnahmsweise mal nicht jemanden schlafen zu lassen, der an der Spitze der Formel 1 im Rampenlicht steht, sondern einen, der sonst selten Gegenstand von Berichterstattung, dafür aber umso öfter Thema in unseren Redaktionssitzungen ist: Nicholas Latifi.
Der 27-jährige Kanadier ist, so sehe ich das zumindest, der letzte echte Paydriver der Formel 1. Klar, es gibt auch andere, die Sponsorendollars oder reiche Väter auf ihrer Seite haben, was ihre Karriere gepusht haben dürfte (Lance Stroll, Guanyu Zhou). Aber Latifi ist der einzige Fahrer, bei dem ich sage: Es ist Zeit zu gehen!
Kolumnist kritisiert Rennfahrer: Darf man das?
Aus der Position eines Kolumnisten heraus einen Profirennfahrer so zu kritisieren, ist natürlich immer problematisch. Und man muss diese Kritik in den richtigen Kontext setzen.
Latifi hat in seinem Leben viel mehr erreicht als ich. Wahrscheinlich auch mehr als 99 von 100 Lesern dieser Kolumne. Er ist einer der talentiertesten Autofahrer der Welt, verdient (nach unsereiner Maßstäben) einen Haufen Geld, reist um die Welt, ist wohlerzogen und ein Sohn, wie er jede Mama und jeden Papa stolz machen würde. Wer kann das schon von sich behaupten?
"Kann nicht glauben, dass ihr mich gelinkt habt!"
Lewis Hamilton tobt, weil er meint, sein Mercedes-Team habe ihn "gelinkt". Das Thema des Tages bei unserer Analyse des Grand Prix der Niederlande. Weitere Formel-1-Videos
Aber Kritik an Formel-1-Fahrern bedeutet eben auch Kritik nach Formel-1-Maßstäben, und das sind die härtesten und brutalsten der Welt, an denen sich unsereins zum Glück nicht messen lassen muss. Wenn wir in unserem Beruf zu langsam sind oder Fehler machen, gibt's keinen Shitstorm tausender User auf Social Media, sondern schlimmstenfalls einen Anschiss vom Chef.
Was ich damit sagen will: Ich habe großen Respekt vor allem, was Latifi mit seinen 27 Jahren in seinem Leben erreicht hat. Wäre er mein bester Freund, mein Bruder oder mein Sohn, ich wäre jeden Tag stolz auf ihn und darauf, dass er es irgendwie in die Formel 1 geschafft hat, in den exklusiven Club der besten Autofahrer der Welt - ein Ziel, an dem sich jedes Jahr hunderte ebenfalls sehr gute Nachwuchsrennfahrer die Zähne ausbeißen.
Geld regiert die Welt
Latifi fährt seit 2020 Formel 1, und es ist wohl kein Zufall, dass sein Vater ausgerechnet am Saisonbeginn 2020 beim damals noch strauchelnden Williams-Team in die Bresche sprang, mit einem millionenschweren Darlehen.
Latifi sen. erhielt im Gegenzug dafür zwei Sicherheiten. Erstens: eine Hypothek auf die Sammlung historischer Williams-Fahrzeuge. Zweitens: ein Renncockpit für seinen Sohn.
Was mich ehrlich gesagt ein bisschen ärgert: Wie kann es sein, dass seitens der Formel 1 in Frage gestellt wird, ob Colton Herta die Tauglichkeit hat, Grands Prix sicher zu bestreiten, während sich gleichzeitig die Latifis dieser Welt Cockpits in den besten Nachwuchsteams in Europa kaufen, um in der Formel 2 leichter an die Superlizenzpunkte heranzukommen?
Das Märchen von der "Einheitsserie" Formel 2
Denn, das muss man den weniger motorsportaffinen Lesern vielleicht erklären: Die Story von der Einheitsserie Formel 2 ist ein Märchen. Dass dort alle Teams die gleichen Autos einsetzen, stimmt zwar. Aber auch in Formel 2 und Formel 3 kann man Erfolg mit Geld kaufen.
Es gibt dafür ein sehr prominentes Beispiel, und sogar ein deutsches. Timo Glock versuchte 2006 in der GP2, seine Formel-1-Karriere wieder in Schwung zu kriegen, und landete zunächst im Team BCN. In den ersten neun Rennen wurde er einmal Vierter, einmal Siebter und einmal Achter und schaffte es sonst nie in die Top 10.
Ab Monaco fuhr er für das besser finanzierte iSport-Team, und schwupps waren die Ergebnisse da: Zweiter gleich beim allerersten Renneinsatz, der erste Sieg beim dritten, bis zum Ende sensationell noch Vierter in der Meisterschaft und im Jahr darauf sogar Champion.
Von wegen gleiche Chancen für alle!
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Wenn dein Papa jetzt zufällig eine große Nummer in der Fleischverarbeitungs- oder Modebranche ist und das Taschengeld nicht nur reicht, um dreimal im Jahr auf die Kartbahn zu gehen (was inzwischen ganz schön teuer geworden ist), sondern man sich darum ein Formel-2-Team kaufen kann, dann sind das natürlich ganz andere Voraussetzungen als die einer einfachen Handwerkerfamilie aus Hessen.
Nicht den Funken einer Chance im Duell gegen Albon
Latifi hat in Q1 in Zandvoort mehr als eineinhalb Sekunden auf seinen Teamkollegen Alexander Albon verloren. Im Qualifyingduell der Saison 2022 steht es jetzt 3:12 aus Sicht des Kanadiers.
Wir erinnern uns: Das ist der Alexander Albon, der bei Red Bull an der Seite von Max Verstappen sang- und klanglos untergegangen ist und dessen Formel-1-Karriere schon fast beendet schien, bevor ihm Jost Capito eine zweite Chance gab.
Jetzt muss man die eineinhalb Sekunden natürlich in Kontext setzen: Latifi spürte auf seiner zweiten Runde einen Leistungsverlust, und seine erste, das wisse man inzwischen, sagt man bei Williams, die sei halt selten das Gelbe vom Ei.
Das klingt nach einer gut gemeinten Verteidigung, ist aber in Wahrheit entlarvend, weil man Latifi in Schutz nimmt, indem man die Erwartungen an ihn niedrig ansetzt.
So viel Respekt ich vor den Leistungen aller Profirennfahrer auch habe (wirklich!) und so nett ich Nicholas Latifi als Mensch auch finde (ernst gemeint!): Es ist Zeit zu gehen und den Platz in der Formel 1 einem anderen jungen Fahrer zu überlassen.
Ein Colton Herta, der gut eine Handvoll IndyCar-Rennen gewonnen hat, kommt nicht in die Formel 1 rein, weil ihm vom Superlizenzsystem die Qualifikation abgesprochen wird. Das passt irgendwie nicht zusammen.
Ein Mick Schumacher muss um seine Karriere fürchten.
Ein Drugovich, Pourchaire, Sargeant, Doohan warten alle auf ihre Chance. Dafür müssen aber Plätze frei werden.
Ich hätte da schon eine Idee.
Einer muss sich um seine Zukunft keine Sorgen machen: George Russell. Ihm hat mein Kollege Stefan Ehlen die Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" auf Motorsport.com Deutschland gewidmet.
Euer
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.