• 29. August 2022 · 06:28 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: George Russell

Zur falschen Zeit im richtigen Team: Was George Russell mit Supertalenten wie Kimi Räikkönen, Daniel Ricciardo oder Charles Leclerc verbindet

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: George Russell

George Russell: Ist er zu spät ins Werksteam von Mercedes aufgestiegen? Zoom Download

rund um diese Kolumne, die immer am Montagmorgen nach der Formel 1 erscheint, gibt's ein großes Missverständnis. Das habe ich gemerkt, seit ich abends immer im Diskussionsforum von Motorsport-Total.com mitlese und auf etwaige Fragen oder Feedback von Forumsmitgliedern direkt antworte. So, wie ich das übrigens auch heute Abend tun werde. (Hier klicken, um einen Beitrag zu verfassen!)

Denn viele User meinen, dass "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" immer diejenigen abbilden soll, die das schlechteste Rennen gefahren oder sonst irgendwie negativ aufgefallen sind, und das am besten noch nach streng objektiven Kriterien.

Das ist nicht (und war nie) Sinn und Zweck dieser Kolumne.

Immer wieder Ferrari ...

Denn wenn, dann wäre #LetzteNacht 2022 eine ziemlich monotone Angelegenheit. Ich müsste schon wieder von Ferrari-Teamchef Mattia Binotto oder einem seiner Fahrer, Charles Leclerc oder Carlos Sainz, schreiben, weil der Rückstand auf Red Bull immer größer wird, die WM praktisch gelaufen ist und die taktisch-operativen Fehler, von denen Binotto sagt, dass sie Ferrari oft zu Unrecht zugeschrieben werden, nicht enden wollen.

Es ist genau so gekommen, wie ich vorhergesagt habe: Nachdem Ferrari von Anfang an nahe Gewichtslimit war und sensationell aus den Startlöchern gekommen ist, hatte Red Bull in Sachen technischer Entwicklung mehr Luft nach oben und beim Gewicht mehr Luft nach unten - und das wirkt sich jetzt aus.

Der Red-Bull-Express rollt gerade unaufhaltsam in Richtung zweiter WM hintereinander. Mercedes-Teamchef Toto Wolff kann sich sogar vorstellen, dass sich die Sache bereits erledigt haben wird, bevor die Formel 1 Europa verlässt. Zumindest aus Mercedes-Sicht.

Dazu muss man wissen: Verstappen führt aktuell mit 283 Punkten. Bester Mercedes-Fahrer in der WM ist George Russell auf Platz 5. Sein Rückstand: 113 Punkte.

Acht Rennwochenenden sind noch zu fahren, darunter ein F1-Sprint in Brasilien. Gibt also noch maximal 216 Punkte. Oder, anders ausgedrückt: Wenn Verstappen dreimal gewinnt und Russell dreimal leer ausgeht, ist die Sache nach Monza gegessen. Auch rechnerisch.

Den Rechenspielen allzu große Bedeutung beizumessen, ist inzwischen unsinnig. Verstappen wird am Ende Weltmeister sein, ganz egal, wo letztendlich die Entscheidung fällt.

Hamilton: Entschuldigung auf Social Media

Schlecht geschlafen haben könnte nach Spa zum Beispiel Lewis Hamilton, der sich nach seiner Kollision mit Fernando Alonso auch auf Social Media noch selbst Vorwürfe gemacht hat.

"Ich möchte mich zuallererst bei meinen Fans entschuldigen", schrieb er da. "Vor allem bei denen, die heute da waren, um mich zu unterstützen. Ich fahre jetzt seit 30 Jahren Rennen, und der Schmerz nach einem Fehler tut noch genauso weh wie beim ersten Mal."

Aber der fragwürdige "Held" meiner Kolumne soll diesmal sein Teamkollege sein, George Russell.

Warum Russell am schlechtesten geschlafen hat

Jetzt werden einige die Stirn runzeln und sich fragen: Warum Russell? Der fährt eine super erste Saison im Mercedes, bietet dem siebenmaligen Weltmeister im gleichen Team auf Augenhöhe die Stirn, präsentiert sich trotz Mercedes-Krise stets gefasst und analytisch und hat 2022 bisher genau das bestätigt, was man in seinen Williams-Jahren nur erahnen konnte, nämlich dass er zweifellos das Zeug hat, Formel-1-Weltmeister zu werden.

Dazu kommt: Russell ist in Spa ein erstaunlich starkes Rennen gefahren und hätte am Ende beinahe noch Polesetter Carlos Sainz im Ferrari abgefangen.

Doch diese Kolumne soll manchmal auch ungewöhnliche Blickwinkel auf die Dinge öffnen, und dieser Blickwinkel lautet heute: Russell ist zur falschen Zeit im richtigen Team - und läuft, wenn er Pech hat, Gefahr, dass er genau deswegen eben doch nicht Weltmeister wird.

Berger, Räikkönen, Ricciardo, Leclerc - und jetzt Russell?

Es wäre nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Formel 1 so, dass schlechtes Timing einem Supertalent zum Verhängnis wird.

Kimi Räikkönen zum Beispiel kam 2002 zum vermeintlich besten Team McLaren-Mercedes, wurde aber erst Weltmeister, als er die "Silberpfeile" verließ und zu Ferrari wechselte.

Daniel Ricciardo schaffte es 2014, den frischgebackenen Vierfach-Weltmeister Sebastian Vettel bei Red Bull rauszufahren, und gewann gleich in seiner ersten Saison drei Grands Prix. Doch Red Bull hatte sein Mojo bereits verloren, auch wegen der Unterlegenheit der Renault-Motoren. Heute ist Ricciardo eine gescheiterte Karriere.

Oder Charles Leclerc, der dachte, der längste Ferrari-Vertrag aller Zeiten sei ein Segen für seinen Traum, eines Tages Weltmeister zu werden. Leclerc fuhr gleich im ersten Jahr auf Augenhöhe mit Vettel, aber der ganz große Durchbruch ist ihm bis heute nicht gelungen.


Russell: Zur falschen Zeit im richtigen Team?

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Toto Wolff sagt, den W13 wird Mercedes nicht ins Museum, sondern in den Keller schieben. Schlechte Nachrichten für George Russell. Weitere Formel-1-Videos

Wenn man den Gedanken noch ein bisschen großzügiger auslegt, mit ein wenig nationaler Brille (ich bin Österreicher), dann könnte man auch noch Gerhard Berger aufzählen, der 1990 als "next big Thing" nach Prost und Senna bei McLaren-Honda unterschrieben hat.

Berger stand gleich beim ersten Rennen in Phoenix auf Poleposition, kehrte nach drei Jahren aber nicht mit drei WM-Titeln im Gepäck zu Ferrari zurück, sondern nur mit drei Grand-Prix-Siegen.

Wobei Berger - das unterscheidet ihn von Räikkönen und Ricciardo - zumindest 1990 noch das beste Gesamtpaket in der Formel 1 hatte, ehe McLaren-Honda 1991/92 nach und nach von Williams-Renault abgelöst wurde.

Russells beeindruckende Statistik gegen Hamilton

Russells Statistik liest sich beeindruckend: 7:7 im Qualifyingduell gegen Hamilton, 8:6 im Rennduell, 170:146 nach Punkten. Das erinnert sehr an Ricciardo 2014 bei Red Bull gegen den damaligen Superstar der Formel 1, Vettel. Auch Ricciardo kam, sah und siegte - hatte aber das Problem, dass sein Team auf dem absteigenden Ast war, als er sich dem Höhepunkt seines Schaffens näherte.

Dass die glorreiche Mercedes-Dominanz irgendwann enden würde, war unausweichlich. Seit 2014 hat das Team die Formel 1 teilweise nach Belieben kontrolliert und achtmal hintereinander die Konstrukteurs-WM gewonnen. Das ist in der Geschichte des Grand-Prix-Sports einmalig.

Siegesserien hat es schon öfter gegeben. McLaren-Honda in den späten 1980er-Jahren, dann Williams-Renault, McLaren-Mercedes. Michael Schumacher und Ferrari setzten zwischen 1999 und 2004 ganz neue Maßstäbe. Danach kam irgendwann Red Bull, und seit 2014 gewinnt Mercedes.

Eins haben all diese Serien gemeinsam: Irgendwann wurden sie beendet.

Warum enden Siegesserien in der Formel 1?

Die Gründe dafür sind vielfältig.


Fotostrecke: Die längsten Siegesserien von Formel-1-Teams

Erstens: Die Formel 1 ist ein hart umkämpftes Geschäft. In den besten Teams arbeiten die besten Ingenieure. Das wissen natürlich auch die anderen, und locken diese mit hohen Gehältern, um ihren technologischen Rückstand zu reduzieren.

Das wirkt sich fast zwangsläufig auf das gerade dominante Team aus. Denn entweder geht man die Angebote der anderen Teams mit, damit die Leute bleiben; dann wird die Personalstruktur aber irgendwann zu teuer. Gerade in Zeiten der Budgetgrenze ein schwerwiegender Nachteil. Oder man lässt die Leute ziehen. Dann läuft man Gefahr, dass das Know-how ausblutet.

Mercedes hat bisher stets Mechanismen gefunden, sich dagegen zu wehren, indem die besten Köpfe etwa durch "Empowering" aufstrebender Talente kompensiert wurden. Nach Paddy Lowe kam James Allison, um ein konkretes Beispiel zu nennen, und nach James Allison kam Mike Elliott. Gespürt hat man davon lange Zeit nichts.

Aber als Helmut Marko die kühne Vision entwickelte, im Hinblick auf einen möglichen Formel-1-Einstieg des Volkswagen-Konzerns Red Bull Powertrains zu entwickeln und die Firma zunächst auf eigene Beine zu stellen, bis Porsche kommt, wilderte er vor allem bei Mercedes AMG High Performance Powertrains in Brixworth, wo die bis dahin besten Motoren der Formel 1 gebaut wurden.

Jetzt ging der Exodus an Personal zu weit, als dass Mercedes das noch spurlos verkraften würde können. Parallel dazu passierten Corona und ein komplett neues Reglement, das eigentlich schon 2021 hätte kommen sollen, letztendlich aber 2022 eingeführt wurde.

Jetzt fehlten die kreativen Köpfe, und siehe da: Nach acht Jahren mit dem besten Motor gilt plötzlich wieder Ferrari als PS-Krösus der Branche.

Wie in der Beziehung: Irgendwann sind die Schmetterlinge weg ...

Zweitens: Selbst die Ingenieure, die bei einem Erfolgsteam bleiben, sind irgendwann nicht mehr so hungrig wie am ersten Tag.

Ein Phänomen, das jeder von uns kennt: Wenn man das erste Mal mit dem Schwarm vom letzten Wochenende ausgeht, ist alles noch super aufregend. Nach drei Jahren wird dann drüber gestritten, wer den Müll rausträgt und warum die Zahnpasta offen im Bad liegt.

So ist naturgemäß auch der erste WM-Titel für einen Formel-1-Ingenieur spannender als der achte, und irgendwann stellt sich der eine oder andere die Frage, ob es wirklich dafürsteht, Familie und Kinder wieder einmal hochmotiviert für Überstunden hängen zu lassen, nur um das Ganze noch ein neuntes Mal zu erleben.

Russell hat möglicherweise den falschen Zeitpunkt erwischt, um zu Mercedes zu wechseln.

Kommen die Sterne für Russell früh genug auf Totos Karte?

Auf der anderen Seite: Mit seinen erst 24 Jahren ist er jung genug, diese Phase auszusitzen und auf den nächsten Erfolgszyklus von Mercedes zu warten. Dass dieses Team nie mehr Weltmeister wird, kann man sich schließlich auch kaum vorstellen. Dass es jetzt erstmal ein bisschen dauern wird, das schon.

In Spielberg gab es am Freitagabend ein faszinierendes Abendessen mit Toto Wolff. Er hielt irgendwann eine Karte in die Runde, auf der alle Konstrukteurs-Weltmeister der Formel 1 mit Logos in eine Tabelle eingezeichnet waren.

"Was fällt euch da auf?", wollte er von den Journalisten wissen. "Zuletzt viele Mercedes-Sterne", sagte einer. "Viel Gelb, für Ferrari", meinte ein anderer.

Was Wolff damit zum Ausdruck bringen wollte: Kein Team der Welt kann über Jahrzehnte hinweg jeden WM-Titel gewinnen. Auch Mercedes nicht. Aber wenn in 40 Jahren ein anderer Teamchef die gleiche Karte in der Hand hält, sagte er sinngemäß, dann sollen da viele Mercedes-Sterne drauf sein.

Vielleicht kommen die nächsten Sterne für Russell doch noch früh genug, damit er die Erfolge einfahren kann, die seines herausragenden Talents würdig wären.

Übrigens: Mein Kollege Stefan Ehlen hat sich in der Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" nicht mit Sieger Max Verstappen, sondern mit Fernando Alonso auseinandergesetzt. Eine kontroverse Meinung? Ach, lest doch am besten selbst!

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.

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