• 04. Juli 2022 · 06:20 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Carlos Sainz

Erster Sieg im 150. Rennen, aber es war ein hohler Triumph, den Carlos Sainz in Silverstone eingefahren hat, findet Chefredakteur Christian Nimmervoll

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

Foto zur News: Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Carlos Sainz

Carlos Sainz' erster Sieg in der Formel 1 wird von vielen Faktoren überschattet Zoom Download

es gehört neuerdings zur Tradition dieser Kolumne dazu, dass ich diese am Montagabend im Diskussionsforum von Motorsport-Total.com verteidige (wir Österreicher würden das, zumindest im Akademikerdeutsch, "Defensio" nennen) und zum Teil auf Userkommentare eingehe. Das wird auch heute Abend wieder so sein. Und ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher: Viele User werden mich für geistesgestört erklären.

Im 150. Formel-1-Rennen seiner Karriere hat's endlich geklappt mit dem erlösenden ersten Grand-Prix-Sieg für Carlos Sainz. Nur Sergio Perez (190. Anlauf) musste länger warten. Ausgerechnet den (trotz so vieler Rennteilnahmen immer noch erst) 27-jährigen Spanier schlecht schlafen zu lassen, erscheint dem einen oder anderen auf den ersten Blick sicher fragwürdig. Aber ich möchte versuchen, das zu argumentieren.

Erstens: Natürlich hat Sainz in Wahrheit geschlafen wie ein Baby. Die Erleichterung war ihm nach dem Rennen in Silverstone anzusehen. Weil er es Kritikern wie Helmut Marko gezeigt hat, der ihn einst bei Red Bull ziemlich kampflos hat gehen lassen, und das nicht ohne Grund, wie der Österreicher nicht müde wird zu betonen.

Weil sein Vater Carlos sen. jetzt stolz wie Oskar auf seinen kleinen Jungen ist. Und weil er sich selbst bewiesen hat, dass er das kann, was ihm Experten wie Martin Brundle schon lange zutrauen, nämlich in den Kreis der Allerbesten der Formel 1 vorzustoßen.

Ein Triumph unter (sehr) glücklichen Rahmenbedingungen

Zweitens (und damit wären wir bei den Abers dieser Kolumne): Sainz kam schon am Samstag wie die Jungfrau zum Kind zur ersten Poleposition seiner Formel-1-Karriere. Vor der letzten Q3-Runde lag er an achter Stelle, zwei Sekunden hinter seinem Teamkollegen Charles Leclerc, und selbst bei der ersten Zwischenzeit hatte er noch fast sieben Zehntelsekunden Rückstand auf Max Verstappen.

Es hatte dann vor allem mit dem Dreher Leclercs und der damit verknüpften gelben Flagge zu tun, dass Sainz überhaupt auf Poleposition stand, weil alle, die auf der Strecke hinter Leclerc waren (alle bis auf Fernando Alonso und Sergio Perez), ihre alles entscheidende Runde de facto abbrechen beziehungsweise zumindest vom Gas gehen mussten.

FIA nimmt ihre eigenen Regeln nicht so genau

Drittens: Sainz verlor den ersten Start gegen Verstappen und hatte großes Glück, dass es die FIA mit ihren eigenen Regeln nicht ganz so genau nahm, als die Startaufstellung für den zweiten Start ermittelt wurde.

In Artikel 57.3 des Sportlichen Reglements heißt es nämlich wörtlich: "Die Reihenfolge wird am letzten Punkt genommen, an dem es möglich war, die Reihenfolge aller Autos zu bestimmen."

Dass Verstappen dann beim Neustart trotz des gewonnenen ersten Starts nochmal hinter Sainz losfahren musste, "ist etwas, was wir uns anschauen müssen", findet Red-Bull-Teamchef Christian Horner.

Ich fand das in dem Moment auch, also habe ich der FIA eine WhatsApp geschickt mit Artikel 57.3 und der Frage, ob das nicht im Widerspruch dazu stehe, zur ursprünglichen Startaufstellung zurückzugehen.

Wie die FIA selbst argumentiert

Die FIA argumentiert offiziell, dass vor der roten Flagge "nicht alle Autos die SC2-Linie überquert hatten", und daher die ursprüngliche Startaufstellung die letzte zuverlässig wiederherstellbare Reihenfolge sei.

Das ist nicht wahr.

Zum Zeitpunkt, als die rote Flagge aktiviert wurde, hatten 15 Autos bereits mindestens drei Minisektoren absolviert, neun davon sogar vier, und es wäre somit ein Leichtes (und sportlich fair) gewesen, die tatsächliche Reihenfolge für den Neustart zu berücksichtigen.

Nur Yuki Tsunoda und Esteban Ocon, die in den Startcrash verwickelt wurden, aber weiterfahren konnten, waren gerade erst auf Höhe von Kurve 2 und somit noch nicht digital vom Timing erfasst. Allerdings hätte sich über den "Driver-Tracker" oder auch die Onboards problemlos rekonstruieren lassen, dass Tsunoda an 16. Stelle lag und Ocon an 17.

Sainz hatte also das Glück auf seiner Seite, als er die zum zweiten Mal geschenkte Poleposition beim Neustart nutzte, um doch in Führung zu gehen; schaffte es aber in Runde 10, viertens, mit einem unnötigen Fahrfehler im Becketts-Komplex, diese an Verstappen zu verschenken.

Leclerc trotz Schaden am Auto klar schneller

Fünftens: Sainz war der deutlich langsamere Ferrari-Fahrer. Obwohl Leclerc nach der Kollision mit Perez am Neustart (die die FIA kurioserweise als Kollision Leclerc-Verstappen untersuchte) eine Frontflügelendplatte und fünf Punkte Anpressdruck weniger hatte, war er der schnellere Ferrari-Pilot im Rennen. Das ist auf einer Strecke, auf der man so von der Aerodynamik abhängig ist wie in Silverstone, kein Ruhmesblatt.

Und sechstens: Als in Runde 39 das Safety-Car auf die Strecke ging, um den gestrandeten Ocon-Alpine zu bergen, wäre es für Ferrari locker möglich gewesen, beide Autos gleichzeitig an die Box zu holen. Sainz lag zum dem Zeitpunkt 4,7 Sekunden hinter Leclerc, und in der Boxengasse hätte er problemlos noch die eine oder andere Sekunde Sicherheitspuffer aufreißen lassen können.

Stattdessen traf Ferrari die Fehlentscheidung, Leclercs "Trackposition" zu schützen und Sainz, der die um fünf Runden älteren Hards drauf hatte, zum Reifenwechsel (auf Soft) an die Box zu holen.

Neustart: Leclercs "Abu-Dhabi-Moment"

Das war, wie unser Videohost Kevin Scheuren in unserer YouTube-Rennanalyse am Sonntagabend gesagt hat, Leclercs "Abu-Dhabi-Moment" - weil er mit den gebrauchten Hards gegen die frischen Softs von Sainz und Lewis Hamilton natürlich nicht den Funken einer Chance hatte, als die Gelbphase zu Ende ging.


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Jede Menge Punkte also, die sich sehr glücklich gefügt haben, damit Sainz einen wie ich finde hohlen Sieg einfahren konnte. Wird ihm zwar herzlich egal sein, denn der erste Sieg ist fast immer ein Ereignis, das bei einem Rennfahrer einen Knoten löst und ihn nachher besser fahren lässt als davor.

Aber vielleicht hat sich Sainz in Silverstone, was seine langfristige Perspektive bei Ferrari betrifft, keinen Gefallen getan.

Sein Team war nämlich überaus gnädig mit ihm. Obwohl viele gefordert hatten, alle Jetons auf Leclerc zu setzen, durfte Sainz als das langsamere Auto viel zu lang vor seinem Teamkollegen bleiben.

Wie Ferrrari das Thema Stallorder angepackt hat

Binottos Frauen und Männer kamen auf die Idee, das Thema Stallorder sportlich zu lösen, indem man Sainz eine Zielzeit vorgab. Würde er 1:32.2 Minuten fahren, würde er vorn bleiben dürfen. Sainz bettelte am Boxenfunk: "Eine Runde noch!" Fuhr diese aber eine halbe Sekunde zu langsam.

Unter normalen Umständen hätte dieses rundenlange Zaudern des Kommandostands, um Sainz eine faire Chance zu geben, Hamilton in Führung spülen können. Es war Ferraris Glück, dass die Mercedes-Boxencrew im entscheidenden Moment patzte.

Als umgekehrt dann Sainz gebeten wurde, etwas für Leclerc zu tun, nämlich den Abstand beim letzten Neustart auf die maximal erlaubten zehn Wagenlängen anwachsen zu lassen, verweigerte der Spanier den Befehl.

Offiziell, weil sonst Hamilton von hinten zu gefährlich geworden wäre. Aber jeder wusste natürlich, dass es in Wahrheit nur darum ging, den mit den älteren Reifen wehrlosen Leclerc zur Schlachtbank zu führen und den Grand Prix selbst zu gewinnen.

Das mag einerseits für Sainz sprechen, weil es einen gewissen Killerinstinkt nachweist, den die ganz großen Champions und solche, die es noch werden wollen, zwingend brauchen.

Befehl des Teams verweigert: Ist das wirklich klug?

Andererseits würde ich mir als Chef angesichts einer solchen Befehlsverweigerung Gedanken machen, ob ich einem solchen Mitarbeiter nicht mal gründlich den Kopf waschen sollte. Sainz hat mit seinem Egotrip nämlich einen möglichen Ferrari-Doppelsieg unwahrscheinlicher gemacht.

Und so hat er sich mit dem hohlen Sieg von Silverstone meiner Meinung nach langfristig betrachtet keinen Gefallen getan. Denn Ferrari hat mutmaßlich gelernt, dass man von Anfang an auf Leclerc hätte setzen sollen, um das Ergebnis für das Team zu maximieren.

Binottos Zeigefinger und was dieser zu bedeuten hatte

Leclerc ist derjenige, der planmäßig den Titel nach Maranello holen soll, und der wird jetzt zurecht daran zweifeln, ob er sich auf sein Team wirklich verlassen kann. Wie Binotto ihn im Parc ferme zur Seite nahm und mahnend den Zeigefinger erhob, dass er in den Interviews nur ja nicht das sagen soll, was er gerade wirklich denkt, war eine Szene, die viel darüber aussagt, wie sich die Dynamik bei Ferrari jetzt entwickelt.

Binottos Zeigefinger verfehlte seine Wirkung übrigens nicht. Leclerc sagte artig, dass er das große Ganze aus dem Cockpit nicht gesehen habe und sich natürlich mit Sainz über dessen Sieg freut. Dabei hingen seine Mundwinkel bis zum Boden, und jeder, der ihn auch nur ein wenig kennt, wusste: Dem stinkt das alles ganz gewaltig!

Viel aufzuarbeiten also für Binottos Team. Und ich kann mir gut vorstellen, dass diese Aufarbeitung für Sainz kein wahnsinnig angenehmer Prozess wird. Möglicherweise mit einem Ergebnis am Ende, das man so natürlich niemals offiziell aussprechen wird, aber lauten könnte: "Wir wissen jetzt, dass Leclerc derjenige ist, auf den wir setzen müssen, wenn wir Weltmeister werden wollen."

Das Ganze hat aber einen Haken: In der Fahrer-WM liegt Sainz nur noch elf Punkte hinter Leclerc. Eine Stallorder pro Leclerc auszusprechen, ist damit politisch noch unmöglicher geworden, als es vor Silverstone ohnehin schon war.

Man stelle sich nur vor, wie Carlos Sainz sen. darauf reagieren würde. Da würde ich dann lieber nicht in Binottos Haut stecken ...

Übrigens: Einer kann nach Silverstone froh sein, dass er nicht für immer "geschlafen" hat, und zwar Guanyu Zhou. Mit dessen Horrorcrash hat sich mein Kollege Stefan Ehlen in der Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" auf unserem Schwesterportal Motorsport.com auseinandergesetzt.

Euer
Christian Nimmervoll

Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.

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