Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Max Verstappen
Max Verstappen ist die Zukunft, aber Lewis Hamilton (noch) die Gegenwart: Chefredakteur Christian Nimmervoll über den Grand Prix von Sao Paulo 2021
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,
was ist das für eine verrückte Weltmeisterschaft?
Ich meine das im positiven Sinne. Vor einer Woche habe ich hier noch geschrieben, dass Toto Wolff die WM-Titel 2021 durch die Finger zu gleiten drohen. Sieben Tage später sieht das schon wieder ganz anders aus. Das Momentum hat in Brasilien, beim Grand Prix "von Sao Paulo", wie er kurioserweise offiziell hieß, gedreht. Schon wieder.
Prognosen zu treffen, ob sich am Ende Lewis Hamilton durchsetzen wird oder Max Verstappen (der immer noch 14 Punkte Vorsprung hat), halte ich für unseriös. Eins ist meiner Meinung nach aber klar: Es wird 2021 einen verdienten Formel-1-Weltmeister geben. Und zwar ganz egal, wer's am Ende wird.
Die Show, die den Fans in dieser Saison geboten wird, ist atemberaubend. Nicht nur wegen der zwei Ausnahmekönner auf der Strecke. Auch das Drumherum ist Spektakel pur. Nicht ein Rennwochenende, das ohne irgendeine Kontroverse oder zumindest ein schlagzeilenträchtiges Wortgefecht zwischen dem Red-Bull- und dem Mercedes-Lager vergeht. Es ist immer für Unterhaltung gesorgt. Auf wie auch abseits der Strecke.
So gesehen - darauf haben mich die Livechat-User in unserer Formel-1-Analyse auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de am Sonntagabend gebracht - könnte der erst kürzlich einberufene RTL-Sportchef Andreas von Thien Thema dieser Kolumne sein.
Unter seinem Vorgänger Manfred Loppe hat der Kölner Privatsender die Formel-1-Rechte nicht mehr erworben und sich darauf zurückgezogen, nur noch vier Saisonrennen zu sublizenzieren. Eine Entscheidung, die RTL zwar eine Menge Geld spart, die dem einen oder anderen innerhalb des Senders aber bestimmt wehtut. Denn 2021 ist eine epische Saison, die in die Geschichte eingehen wird.
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Das Interesse an der Formel 1 war noch nie größer. Die Reichweiten der Portale von Motorsport Network Deutschland sprechen eine eindeutige Sprache. Unsere YouTube-Livestreams erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Auf Social Media wird die Königsklasse leidenschaftlicher denn je diskutiert. Michael Schumachers Sohn fährt jetzt Grands Prix. Und RTL ist nicht mehr dabei.
Schade.
Bitter auch, dass RTL eigentlich den Grand Prix von Brasilien übertragen wollte, stattdessen aber das vorletzte Saisonrennen in Saudi-Arabien zeigen wird. Nach der gestrigen Megashow ist kaum vorstellbar, dass Dschidda spannender wird als Sao Paulo.
Falls dort überhaupt gefahren wird. Die Bauarbeiten an der brandneuen Strecke sind immer noch nicht abgeschlossen. Aber das, keine Panik, hat die Formel 1 noch immer irgendwie hinbekommen. Zur Not halt auf den allerletzten Drücker.
Wirklich schlecht geschlafen hat aber womöglich Max Verstappen. Nach der Hamilton-Disqualifikation am Freitag schien alles angerichtet zu sein für eine WM-Vorentscheidung, und im Sprint am Samstag lief zunächst alles nach Plan. Der Niederländer vergrößerte seinen Vorsprung von 19 auf 21 Punkte.
Dann gewann Verstappen auch im Hauptrennen den Start, und weil Hamilton nur vom zehnten Platz losfuhr, roch das stark nach nochmal locker zehn Punkten, die dazukommen könnten. Aber letztendlich kam alles anders. Verstappen geht mit 14 Punkten Vorsprung in die letzten drei Saisonrennen. Und die kommen, zumindest laut Helmut Marko, eher Mercedes entgegen.
Wenngleich ich Wert lege auf die Feststellung, dem Doktor in diesem Punkt nicht zuzustimmen: Katar würde ich sogar eher als Red-Bull-Strecke sehen, und Abu Dhabi sollte mindestens ein Unentschieden sein. Nur die lange Gerade in Saudi-Arabien, die ist eindeutig Mercedes-Territorium.
Verstappen könnte theoretisch bereits so gut wie Weltmeister sein. Der Reifenschaden von Baku, die Kollision mit Hamilton in Silverstone, die Bowlingaktion von Valtteri Bottas am Hungaroring haben ihn rund 50 Punkte gekostet. Bei dem Wochenendverlauf, den wahrscheinlich die meisten Zuschauer noch am Freitag in Sao Paulo erwartet hätten, könnte sein Vorsprung schon um die 80 Punkte betragen. Und 78 sind noch zu vergeben.
Hätte, wäre, wenn. Das sind Kategorien, in denen denken allerdings weder Hamilton noch sein Chef Toto Wolff. Mit rauchenden Colts ("blazing Guns") habe er in Brasilien gekämpft, nie aufgegeben und letztendlich gewonnen, sagte Hamilton nach seinem 101. Sieg in der Formel 1.
Und es war ein besonders unwiderstehlicher.
Verstappen, der junge Wilde, schien schon eine Hand ans Zepter der Formel 1 gelegt zu haben, mit Galavorstellungen wie in Zandvoort, wo er unter dem Druck einer ganzen Nation Nerven aus Stahl bewiesen hat.
Niemand würde auf die Idee kommen, die Klasse des siebenmaligen Weltmeisters Hamilton ernsthaft anzuzweifeln. Aber es gab viele, die der Meinung waren: 2021 ist die erste Saison, in der Verstappen als Gesamtpaket mindestens ebenbürtig ist - und ihm vielleicht sogar langsam den Rang abläuft.
Doch dann kam Sao Paulo.
Wie sich Hamilton zurückgekämpft hat, obwohl er einen Nackenschlag nach dem anderen verpasst bekam, das ringt mir Respekt ab. Und nicht nur mir. Damon Hill, Weltmeister von 1996, schrieb nach dem Rennen auf Twitter: "Das war eine der besten Fahrten, die ich in der Formel 1 je gesehen habe. Egal von wem. Absoluter Wahnsinn!"
Der alte Meister hat dem jungen Herausforderer noch einmal seine Grenzen aufgezeigt. Und das, wo ich gerade anfing, mir die Frage zu stellen, ob Hamilton ein Michael-Schumacher-Schicksal zu erleiden droht.
Sprich: Nach einer langjährigen Siegesserie nicht den Höhepunkt für den Absprung zu nutzen, sondern noch zwei Jahre auf hohem Niveau mitzufahren, aber vom neuen Herausforderer geschlagen zu werden.
Nach dieser Logik wäre Verstappen für Hamilton das, was Fernando Alonso 2005/06 für Schumacher war.
Früher oder später, das ist bei zwölf Jahren Altersunterschied klar, wird Verstappens Formkurve jene von Hamilton überholen. Verstappen ist die Zukunft der Formel 1. Aber Hamilton ist, noch, die Gegenwart.
Apropos Hamilton und Gegenwart: Die Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" auf motorsport.com, geschrieben wie immer von meinem Kollegen Stefan Ehlen, ist diesmal eine Laudatio auf den siebenmaligen Weltmeister. Am besten jetzt gleich nachlesen!
Ihr
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.