Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lewis Hamilton
Warum sich Lewis Hamilton und Mercedes eigentlich nichts vorzuwerfen haben, aber im Hinblick auf die WM gerade deswegen unter Druck stehen
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,
© Motorsport Images
Lewis Hamilton steht unter Druck: In der WM hat er jetzt zwölf Punkte Rückstand Zoom Download
die Idee von "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" ist eigentlich, am Montagmorgen die Geschichte eines Verlierers des vergangenen Rennwochenendes zu erzählen. Treue Leser dieses Formats, das einst, so mich meine Erinnerung nicht trügt, mein ehemaliger Kollege Roman Wittemeier erfunden hat, wissen das.
Einen echten Verlierer des vergangenen Wochenendes zu identifizieren, das fällt mir aber nach dem Grand Prix der USA 2021 in Austin alles andere als leicht.
Ja, Fernando Alonso wird möglicherweise unrund geschlafen haben. Während des Rennens war nicht zu überhören, dass er mit der Entscheidung der Rennleitung, dass ihm Kimi Räikkönen die Position eben nicht zurückgeben muss, nicht einverstanden war. Als ich anschließend via Microsoft Teams an seiner Medienrunde teilgenommen habe, klang er aber schon deutlich entspannter. Nicht so, als würde ihm eine schlaflose Nacht bevorstehen.
Nikita Masepin hat sich sicher auch nicht mit Ruhm bekleckert. Das ganze Wochenende ging er gegen Mick Schumacher sang- und klanglos unter. Nach 56 Runden (beziehungsweise in seinem Fall 54) fehlten ihm eineinhalb Minuten auf den eigenen Teamkollegen. Aber weil seine Kopfstütze fast das ganze Rennen hindurch lose war, ist zumindest ein Teil davon erklärbar. Es war kein einfacher Nachmittag für den Russen.
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Man könnte auch darüber streiten, ob Sebastian Vettel in einem Aston Martin, der auf dem Circuit of The Americas eigentlich gut hätte funktionieren sollen, mit Platz zehn zufrieden sein darf. Aber mein Livestream-Kollege Kevin Scheuren findet, dass er der Mann des Rennens war. Da fehlt mir dann ehrlich gesagt die Chuzpe, ausgerechnet Vettel schlecht schlafen zu lassen.
Lando Norris und Valtteri Bottas haben sicher auch schon mal zufriedenstellendere Sonntage erlebt als den gestrigen. Aber reicht das, um sie zu den Verlierern des Wochenendes zu stempeln? Nicht wirklich.
Ich sag's ja: Es gibt keine richtigen Verlierer diesmal.
Dritte Nominierung 2021 für Hamilton
Weil ich mich hier aber trotzdem festlegen muss, setze ich mich in der Montagskolumne zum dritten Mal in dieser Saison mit Lewis Hamilton auseinander.
Das erste Mal war er nach Spielberg 1 dran, das zweite Mal nach Monza.
Was diesmal anders ist: Hamilton kann sich selbst eigentlich keinen Vorwurf machen. Es war einer hervorragenden fahrerischen Leistung seinerseits zu verdanken, dass Sieger Max Verstappen überhaupt bis in die allerletzte Runde schwitzen musste.
Und auch das Mercedes-Team hat sich keinen gröberen Schnitzer geleistet, bei dem man den Finger in die Wunde legen könnte.
Aber genau das ist der Grund dafür, dass Hamilton womöglich schlecht geschlafen hat. Denn obwohl er selbst maximal performt hat, trotz des gewonnenen Starts: Gegen Verstappen und Red Bull war er in Austin letztendlich machtlos.
Ich habe Toto Wolff nach dem Rennen gefragt, ob der Red Bull seiner Meinung nach das bessere Rennauto und es letztendlich vor allem Hamilton zu verdanken war, dass der Grand Prix bis zum Schluss spannend blieb. Seine Antwort: "Ich glaube, der Red Bull war auf dem Medium das schnellere Rennauto. Und der Mercedes war das schnellere Rennauto auf dem Hard."
Das wirft die Frage auf, ob es im Nachhinein nicht schlauer gewesen wäre, sich nicht undercutten zu lassen, sondern Hamilton selbst früher an die Box zu holen. Aber im Nachhinein redet es sich immer leicht. Besonders dann, wenn man nicht an vorderster Front an der Boxenmauer steht, sondern gemütlich zu Hause im Büro sitzt.
Niederlage trotz klarer Favoritenstellung
Tatsache ist: Mercedes hat nicht irgendeinen Grand Prix verloren, sondern den in Austin. Texas war bisher Mercedes-Land. Vor 2021 wurden die "Silberpfeile" dort seit Beginn der Hybridära nur ein einziges Mal geschlagen, nämlich 2018, als Kimi Räikkönen seinen letzten Sieg gefeiert hat. Dementsprechend klar schienen die Favoritenrollen vor dem Wochenende verteilt zu sein.
Dann fuhr Mercedes Red Bull im ersten Freien Training in Grund und Boden. Eine Sekunde betrug Verstappens Rückstand, und Hamiltons Welt schien in Ordnung zu sein.
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Doch im Nachhinein stellte sich heraus, dass das Auto zu tief eingestellt war. Das Set-up musste angepasst werden, die Bodenhöhe erhöht, und weil Mercedes (zumindest laut Andrew Shovlin) zudem schon mehr Motorleistung freigegeben hatte als sonst, war der vermeintlich enorme Vorsprung im Qualifying plötzlich ein Rückstand.
Mercedes konnte sich so etwas in den vergangenen Jahren leisten. 2021, mit Red Bull und Verstappen in Bestform, nicht mehr. Fehler werden gnadenlos ausgenutzt, und in den noch verbleibenden fünf Rennen sind in der Fahrer-WM zwölf Punkte aufzuholen. Nicht viel, aber auch nicht nichts.
Keine guten Voraussetzungen, wenn man bedenkt, dass mit Mexiko und Brasilien jetzt zwei Grands Prix in Höhenlage bevorstehen, die der Papierform nach eher Red Bull entgegenkommen sollten (ein Grund, warum Helmut Marko in der Schwesterkolumne auf Motorsport.com am besten geschlafen hat). Das ist zwar mit größter Vorsicht zu genießen, denn die Papierform lag 2021 schon oft daneben. Aber das Unterfangen achter WM-Titel ist für Hamilton zumindest nicht einfacher geworden.
Gleichzeitig bin ich der felsenfesten Überzeugung, dass es ein schwerer Fehler wäre, Hamilton und Mercedes zu unterschätzen. Nicht zuletzt der bewegliche Hintern des schwarzen Boliden, den 'Sky' am vergangenen Wochenende aufgedeckt hat, könnte in den verbleibenden Rennen eine entscheidende Rolle spielen.
Am meisten auf jenen Strecken, auf denen schnelle Geraden auf mittelschnelle und langsame Kurven treffen. Und davon kommt noch die eine oder andere ...
Ihr
Christian Nimmervoll
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "Breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen.