• 05. Juli 2021 · 06:27 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Michael Masi

"Let them race!" war gestern: Viele Fans können die Entscheidungen der FIA nicht mehr nachvollziehen, und auch bei einigen Teams wächst der Unmut

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

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FIA-Rennleiter Michael Masi steht derzeit auf mehreren Ebenen in der Kritik Zoom Download

nein, Michael Masi wird hier heute nicht gebasht, weil er für die umstrittene Gridstrafe gegen Sebastian Vettel am Samstag beim Grand Prix von Österreich verantwortlich war. Streng genommen war er das nämlich gar nicht. Über solche Strafen entscheidet in der Formel 1 nicht der Rennleiter, sondern das fällt ins Aufgabengebiet der vier Rennkommissare, und das waren in Spielberg Gerd Ennser, Walter Jobst, Paolo Longoni und Derek Warwick.

Aber es gibt schon so einiges, was man in Bezug auf die Entscheidungen der FIA aktuell hinterfragen kann, und Masi ist nun mal so etwas wie das Gesicht des Automobil-Weltverbands für die Formel 1.

Beginnen wir mit dem Thema, das am Sonntag alle so aufgeregt hat: die Strafe gegen Lando Norris (der letzte Nacht übrigens besonders gut geschlafen hat, wenn's nach meinem Kollegen Stefan Ehlen geht) wegen des Abdrängens von Sergio Perez in Runde und Kurve 4. Jedes Kind auf der Kartbahn, ärgert sich McLaren-Teamchef Andreas Seidl, weiß, "dass man da nicht hinfährt auf die Außenlinie, weil da wirst du im Kies landen". Und das ohne Schuld des Gegners.

Norris ist seine Linie genau wie in jeder anderen Runde gefahren, und das führte naturgemäß dazu, dass Perez außen verhungert ist und in den Kies musste. Sollte Norris dafür bestraft werden? Nicht wirklich. Und, wenn schon Strafe, warum hat das dann so lange gedauert? Ich sehe das genau wie Nico Hülkenberg: Perez ist einfach ein sehr, sehr hohes Risiko eingegangen, "und dafür hat er dann die Quittung bekommen".

Was ist eigentlich aus "Let them race!" geworden?

Es war ironischerweise vor ein paar Jahren in Spielberg, soweit ich mich erinnere, dass man sich in der Formel 1 auf das Credo "Let them race!" verständigt hat. Übersetzt: Lasst uns nicht jeden kleinen Furz sofort bestrafen, sondern die Fahrer mit Augenmaß und Fingerspitzengefühl nur dann sanktionieren, wenn es unbedingt nötig ist, um die sportliche Fairness sicherzustellen.

Mit "Let them race!", bei allem Respekt, haben viele Entscheidungen des vergangenen Wochenendes nichts mehr zu tun.

Womit Masi recht hat: Jeder Fall muss individuell beurteilt werden, und nur selten kann man prinzipiell vergleichbare Situationen wirklich in die gleiche Schublade stecken. Nehmen wir etwa Perez' zweite Situation an gleicher Stelle (Kurve 4) gegen Charles Leclerc: Das war schon eine Spur härter, als er selbst davor von Norris einstecken musste, und somit kann man die Strafe dafür ein bisschen eher nachvollziehen.

Die Nummer (wieder mit Leclerc) in der Pirelli-Kurve ein paar Runden später ist aber wieder so ein Fall. Es war ziemlich mutig (diplomatisch formuliert) vom Ferrari-Piloten, es dort außen zu probieren. Andere würden sagen: naiv. Aber dadurch, dass Perez im Duell kurzzeitig ins Rutschen kam und die Lenkung für einen Moment aufmachen musste, sah es so aus, als habe er den Ferrari absichtlich abgedrängt.

Ist das Grund genug, ihn ein zweites Mal zu bestrafen? Ich finde: nein. Was hat das noch mit "Let them race!" zu tun? Wenn du solche Manöver setzt wie Leclerc, dann weißt du, dass diese schiefgehen können. Außen zu überholen ist die höchste Kunst, die es in der Formel 1 gibt. Wenn es gutgeht, stehen die Experten auf und applaudieren. Aber das hat einen Grund. Denn außen zu überholen ist kein Selbstläufer. Soll es auch nicht sein.

Wird mit zweierlei Maß gemessen?

Nach dem Rennen in Spielberg hat sich Michael Masi erklärt. Vieles davon kann ich nachvollziehen. Einiges auch nicht. Dass zum Beispiel für Rennsituationen in der ersten Runde ein anderer Maßstab angelegt wird als später im Rennen, erschließt sich mir nicht. Wie sollen gerade junge Fahrer ein Gespür dafür bekommen, was erlaubt ist und was nicht, wenn die gleiche Aktion in Runde 2 in Ordnung ist, die in Runde 1 noch für eine Strafe gesorgt hat?

Und ich verstehe sogar Yuki Tsunoda ein bisschen (den Masi übrigens bis zum gemeinsamen Auftritt bei ServusTV heute vor einer Woche noch nie persönlich getroffen hatte), der nach seinen zwei Strafen wegen Überfahren der weißen Linie am Boxeneingang meinte, er habe das doch in den Freien Trainings genauso gemacht, und da habe sich keiner beschwert. Darum dachte er, das sei okay.


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Nun, lieber Yuki, das ist natürlich ein bisschen naiv. Aber es spricht auch nicht für die Professionalität der Rennleitung, wenn die Dinge manchmal geahndet werden und manchmal nicht. Klar ist das Herumreiten auf belanglosen Details, und klar hätte es Tsunoda letztendlich besser wissen müssen (spätestens beim zweiten Mal). Aber es ist ein kleines Beispiel für viele Dinge, die gerade schiefgehen in der Formel 1.

Gräbt man ein bisschen tiefer, findet man schnell den einen oder anderen Teamchef, der mal so richtig abledert über Masi. Natürlich nicht öffentlich - den Schiedsrichter kritisieren, das weiß jeder Fußballer, gibt eine gelbe Karte, und gelbe Karten tun in der Formel 1 meist mehr weh als im Fußball. Die will man sich sparen. Daher wird über das Thema nur "off record" geredet, also nicht vor laufenden Kameras und ohne Diktiergerät.

Braucht die FIA mehr Personal?

Aber die Unzufriedenheit wächst. Es könne doch nicht sein, dass die FIA eine technische Richtlinie nach der anderen veröffentlichen muss, und das immer erst nachdem ein anderes Team die Recherchearbeit übernommen und einen Konkurrenten quasi angezeigt hat. Es sei Aufgabe der FIA, Regelverstöße selbst zu ahnden. Aktuell erledigen die Teams untereinander den Job, den eigentlich Masi, Nikolas Tombazis & Co. machen sollten.

Nehmen wir die "Flexiwings": Es ist nicht ganz nachvollziehbar, warum es so lang gedauert hat, bis die technische Richtlinie gegriffen hat. Mag sein, dass die Teams, die umbauen mussten, Zeit brauchten, um neue Flügel zu bauen. Aber man könnte auch dagegenhalten: Wenn die FIA der Meinung ist, dass solche "Flexiwings" illegal sind, warum dann auch noch eine Schonfrist für die, die das Reglement ohnehin schon strapaziert und sich so einen Vorteil verschafft haben?

Und was ist eigentlich mit den flexiblen Frontflügeln? Warum soll der Heckflügel von Red Bull illegal gewesen sein, der Frontflügel von Mercedes aber nicht? Red Bull sagt, man habe das Thema bei der FIA platziert, und es liege nun am Verband, sich darum zu kümmern. Passiert ist bisher nichts. Das wirkt nach außen merkwürdig.

Oder die Boxenstopps: Schon seit mehr als einem Jahr beobachten die Teams, dass die Red-Bull-Mechaniker das Auto teilweise schon absenken, während die Schlagschrauber noch auf den Radmuttern stecken. Das deutet fast zwangsläufig auf ein automatisiertes System mit aktiven Sensoren hin, die die menschlichen Reaktionszeiten aushebeln. Ein Sicherheitsrisiko, finden einige.

Das mag eine faszinierende technologische Innovation sein; Fakt ist: Es ist laut Artikel 12.8.4 des Technischen Reglements ("Any sensor systems may only act passively") illegal, wenn die Signale automatisch übermittelt werden statt manuell von Menschenhand.

Wie Whiting früher die Dinge geregelt hat

Ein Teamchef erzählt mir, wie das früher war in der Formel 1, als Charlie Whiting noch gelebt hat. Da mag nicht alles immer sofort auf Papier aufgeschrieben worden sein. Aber eins war klar: Wenn Whiting einmal dahintergekommen war, dass ein Team das Reglement strapaziert, dann gab es nicht sofort eine technische Richtlinie, sondern erstmal eine klare Ansage. Im Sinne von: "Liebe Freunde, das lasst ihr ab sofort sein, sonst bekommt ihr ein Problem!" So wurde vieles schon geregelt, bevor es zum schlagzeilenträchtigen Thema wurde.

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Charlie Whiting, heißt es, hat viele Dinge auf dem "kleinen Dienstweg" erledigt ... Zoom Download

Man kann sicher darüber diskutieren, ob das der richtige Weg war, einen Milliardensport wie die Formel 1 zu regeln. Aber viele Teams haben derzeit das Gefühl, dass die FIA überfordert ist. Bei der Überwachung des Reglements, bei den Entscheidungen an den Rennwochenenden. Von den Tracklimits will ich gar nicht erst anfangen. Die Position der Fans dazu ist so eindeutig, dass ich mir den Vorwurf des Populismus gefallen lassen müsste, würde ich das Thema hier aufgreifen.

Michael Masi ist, verstehen Sie mich nicht falsch, ein fähiger Mann. Es tut mir fast leid, ihn zu kritisieren. Die Formel 1 befindet sich gerade im Umbruch, und ich möchte seinen Job nicht haben. Seine Gegenspieler sind tausende der schlauesten und besten Ingenieure, die der Motorsport zu bieten hat. Das ist ein Kampf, den die FIA immer schon verloren hat. Manchmal besser, manchmal schlechter.

Gerade vielleicht ein bisschen schlechter ...

Haben Sie Lust, das Thema mit uns zu diskutieren? Das geht am Montagabend um 19:00 Uhr in der traditionellen #LetzteNacht-Montagsanalyse auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de. Dort arbeite ich mit meinen Kollegen Stefan Ehlen und Kevin Scheuren sowie mit unserem neuen Experten Juan Pablo Montoya das zweite Spielberg-Wochenende auf. Und wir freuen uns, wenn dabei unter den Formel-1-Fans im Livechat lebendig mit uns diskutiert wird!

Ihr
Christian Nimmervoll

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