• 10. August 2020 · 06:14 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Sebastian Vettel

Warum die Verschwörungstheorien rund um Ferrari und Sebastian Vettel Unsinn sind, er aber trotzdem das Rennfahren nicht verlernt hat

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser/-innen,

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Sebastian Vettel erlebt gerade die schwierigste Phase seiner Karriere Zoom Download

was ich an meiner Montagskolumne am meisten mag ist, dass ich nicht neutral sein muss. Das bringt diese journalistische Darstellungsform so mit sich. Ich kann mich ganz offen dazu bekennen, dass mir Sebastian Vettel menschlich irgendwie nahe ist. Nicht, dass wir beste Freunde wären - nein, ganz und gar nicht! Aber seine geerdete, bodenständige Art, die schätze ich in diesem Millionenbusiness voller Blender und Heuchler.

Silverstone war echt kein gutes Pflaster für Vettel. Zwei Wochen, nach denen er sicher nicht gut schlafen kann. Es wird langsam schwierig, ihn zu verteidigen. Und zu jenen bewundernswerten, aber dennoch meiner Meinung nach fehlgeleiteten Fans, die die große Verschwörung wittern und unterstellen, dass Ferrari ihn ganz gezielt sabotiert, möchte ich nicht gehören.

In mittlerweile 22 Jahren Berufs-Motorsportjournalismus habe ich einige Dinge gelernt. Dazu gehört auch: Meistens treffen die ganz einfachen, logischen Erklärungen die Wahrheit am besten. (Und: In 99 Prozent aller Fälle geht es um a) Geld oder b) persönliche Eitelkeiten. Manchmal noch um c) Sex. Aber das ist ein anderes Thema ...)

Verschwörung gegen Vettel: Das ist doch Unsinn!

Ich glaube nicht, dass Mattia Binotto die Vettel-Mechaniker angewiesen hat, ihm heimlich einen schlechteren Flügel an den SF1000 zu schrauben als Charles Leclerc. Das würde den Argusaugen unseres Technik-Gurus Giorgio Piola sofort auffallen. Und ich glaube auch nicht, dass Vettels Motor weniger PS hat. Dafür ist die Streuung modernder Formel-1-Antriebe viel zu gering. Sie liegt bei zwei bis fünf PS, habe ich mir unlängst erklären lassen.

Es mag schon sein, dass es Binotto ganz gelegen kommt, dass Leclercs Ergebnisse bestätigen, dass er der neue "golden Boy" von Ferrari ist und nicht Vettel. Und man darf gerade in der Formel 1 auch nicht so naiv sein, ein Komplott ganz auszuschließen, das einen massiv in der Kritik stehenden Ferrari-Teamchef und seine Entscheidungen in der Öffentlichkeit etwas besser aussehen lässt, als sie eigentlich waren.

Wenn solche politischen Spielchen einem Team zuzutrauen sind, dann Ferrari. Das haben 70 Jahre Formel-1-Geschichte mehrfach bewiesen.


Letzte Nacht: Vettel-Kritik an Ferrari, Verstappen als Mercedes-Schreck

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Andererseits geht es um die Konstrukteurs-WM, und ob Ferrari Dritter wird oder Sechster (beides ungefähr gleich wahrscheinlich) macht einen Riesenunterschied für die "Kriegskasse" in Maranello. In normalen Jahren fast 15 Millionen US-Dollar. 2020/21, weil der FOM-Topf aufgrund der Coronakrise insgesamt spürbar kleiner ausfallen wird, wahrscheinlich etwas weniger.

Wir erinnern uns: In 99 Prozent aller Fälle geht es a) um Geld ...

Für sehr viel wahrscheinlicher halte ich ein anderes Szenario. Seb befindet sich 2020 einfach am leidtragenden Ende jenes Spektrums, das er zwischen 2009 und 2013 schon einmal von der anderen Seite erlebt hat. Bei Red Bull war er es, der immer "ein bisschen mehr geliebt" wurde als Teamkollege Mark Webber.

Red Bull hat damals sicher auch nicht Webbers Auto sabotiert. Aber es mag schon sein, dass die Herren Marko, Horner und Newey dafür gesorgt haben, dass die besten Ingenieure und Mechaniker, die man hatte, in der Vettel- und nicht in der Webber-Box waren. Oder dass der neueste Frontflügel am ihrer Meinung nach richtigen Auto landete. "Nicht schlecht für einen Nummer-2-Fahrer", wir erinnern uns.

Oder, noch viel entscheidender: Stardesigner Adrian Newey hat Vettel, so erzählt man das zumindest im Formel-1-Paddock, aus der Hand gefressen. Newey-Autos sind nicht jedermanns Sache. Aber Vettel war mit seinem speziellen Fahrstil einer, der sie besonders gut bändigen und zu seinem Vorteil nutzen konnte.

Früher Vettel, jetzt Leclerc: Teams folgen den Champions

Dass Red Bull bei der Entwicklung der jeweils neuen Boliden mehr auf Vettel gehört hat als auf Webber (und das vielleicht sogar eher unbewusst als bewusst), kann ich nachvollziehen. Das war der erfolgversprechendere Weg.

Und Vettel war, das haben wir ja bereits festgehalten, Markos "golden Boy". Erstens wegen seines Talents. Und zweitens, weil er der erste potenzielle Junior aus Markos damals oft kritisiertem Nachwuchskader war, das die Chance hatte, Formel-1-Weltmeister zu werden.

Jetzt ist es bei Ferrari genau andersrum. Leclerc ist derjenige, an dem sich die Ingenieure bei der Entwicklung orientieren. Er gibt die Richtung vor, nach seinem Fahrstil wird die Technik ausgerichtet. Er hat einen Vertrag bis Ende 2024, ihm gehört die Zukunft, er soll die WM wieder nach Maranello holen.

Bei Vettel hingegen weiß man: In ein paar Monaten ist alles vorbei. Vergebene Liebesmüh.

Dass Ferrari jetzt öffentlich volle Unterstützung für Vettel bekennt und sogar anbietet, sein Chassis zu tauschen, weil das ein paar TV-Experten fordern, ehrt die Scuderia. Es wird am großen Ganzen aber nichts ändern, vermute ich.

Das Problem ist meiner Meinung nach ein anderes: Der Ferrari ist aus nachvollziehbaren Gründen auf Leclercs Fahrstil zugeschnitten, und das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was Vettel braucht. Der viermalige Weltmeister liebt es, wenn sein Auto in den Kurven klebt, er liebt ein starkes Heck. In der Zeit, als das wegen des angeströmten Diffusors in der Formel 1 Hochkonjunktur hatte, war er nahezu unschlagbar.

Schwänzelt das Heck hingegen nervös hin und her, tut sich damit die Generation Leclerc-Verstappen viel leichter als Vettel. Und dann führt ganz schnell eins zum anderen: Du grübelst über den Daten und fragst dich, wie der Teamkollege so schnell durch Kurve XY fahren kann. Probierst es selbst aus und merkst, es geht nicht. Weil du früher aber immer schneller warst, willst du das nicht akzeptieren - und schon verrennst du dich in den verrücktesten Set-ups.

Es ist jener Kreislauf, den die Formel-1-Fahrer vor den TV-Kameras oft als Vertrauensverlust bezeichnen.

Seb steckt da mittendrin. Nur: Weil das Kapitel Ferrari ohnehin zu Ende geht, juckt ihn das doch nicht mehr. Sollte man zumindest meinen.

Warum "Copygate" für Vettels Zukunft wichtig ist

In Wahrheit hat er derzeit aber noch ganz andere Gründe, schlecht zu schlafen.

Sollte sich Vettels insgeheimer Wunsch erfüllen und er 2021 anstelle von Alexander Albon zu Red Bull zurückkehren, hätte er womöglich wieder das gleiche Problem wie bei Ferrari. Dort ist Verstappen der Platzhirsch, auf den alles zugeschnitten ist, und der hat einen ähnlichen Fahrstil wie Leclerc.

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Racing Point (Aston Martin) bleibt eine von Sebastian Vettels Varianten für 2021 Zoom Download

Für Aston Martin wiederum ist die Ausgangssituation seit dem FIA-Urteil vom vergangenen Wochenende nicht attraktiver geworden. Zwar ist noch unklar, wie das Berufungsverfahren letztendlich ausgehen wird. Aber dass Aston Martin (derzeit noch Racing Point) nicht einfach wie 2020 den Vorjahres-Mercedes kopieren kann, das zeichnet sich doch bereits ab.

Wohin also mit dem viermaligen Weltmeister? Die Optionen, die aus seiner Sicht einer näheren Prüfung standhalten und danach immer noch attraktiv erscheinen, werden immer weniger.

Vielleicht ist wirklich die Variante am charmantesten, die Ralf Schumacher kürzlich ins Spiel gebracht hat: nicht als Nummer 1B zu Red Bull Racing, sondern als Nummer 1 zu AlphaTauri. Red Bull könnte in der perfekten Welt zwei (fast) gleichwertige Autos ins Rennen schicken, mit größtenteils identischen Bauteilen. Gleichzeitig könnte man in Faenza für Vettel jenes Feintuning vornehmen, das er für seinen Fahrstil braucht, ohne damit Verstappen zu schaden.

Das Duell der Super-Vs, in zwei gegeneinander antretenden Red-Bull-Teams, mit einem Grand Prix am Red-Bull-Ring, übertragen vom Red-Bull-Sender ServusTV: Gibt's aus Sicht von Dietrich Mateschitz überhaupt ein größeres PR-Spektakel? Es wäre ganz, ganz großes Kino.

Der Haken daran ist nur: Damit dieses Szenario für Vettel wirklich attraktiv wird, muss die FIA ihr erstinstanzliches "Copygate"-Urteil in der zweiten Instanz überdenken. Denn wenn AlphaTauri das Auto für ihn selbst bauen muss, sind damit keine Siege und WM-Titel möglich. Und das ist ja schon bei Aston Martin der Casus knacksus.

Klar ist: Am größten sind Sebs Chancen, seine Karriere auch 2021 in einem konkurrenzfähigen Auto fortzusetzen, wenn er 2020 mit sportlicher Leistung gar keine andere Wahl lässt als ihn zu engagieren. Aber seinen alten Mentor Helmut Marko davon zu überzeugen, dass er seit 2013 nichts verlernt hat, wird unter den Rahmenbedingungen, die er bei Ferrari derzeit vorfindet, ganz, ganz schwierig ...

Ihr
Christian Nimmervoll

PS: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat und warum, das gibt's traditionell bei meinem Kollegen Stefan Ehlen auf unserem Schwesterportal motorsport.com nachzulesen.

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