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Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat
Die jüngsten Ferrari-Erfolge sind auch ein persönlicher Triumph für Neu-Teamchef Mattia Binotto - Die Scuderia scheint endlich auf dem richtigen Weg zu sein
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
die unerwarteten Siege sind häufig die schönsten. Geht es danach, müsste Singapur einer der tollsten Ferrari-Triumphe in der Formel-1-Geschichte gewesen sein. Denn der Marina Bay Street Circuit galt vor dem Wochenende als Kurs, der vor allem die Schwächen des SF90 betont. Mit so ziemlich allem hätte man gerechnet - aber vermutlich nicht mit dem ersten Doppelsieg seit mehr als zwei Jahren.
Es wäre jetzt leicht, Sebastian Vettel an dieser Stelle "gut schlafen" zu lassen. Und das hat er nach seinem ersten Sieg seit 392 Tagen ganz sicher auch. Doch ich habe in meiner Kolumne vor zwei Wochen bereits geschrieben, dass der viermalige Weltmeister nicht plötzlich zu schlecht für die Formel 1 geworden ist. Das gestern war die Bestätigung. Mehr aber auch nicht, denn Singapur war keine Trendwende für ihn.
Fakt ist, dass Vettel dieses Rennen ohne die bessere Strategie niemals gewonnen hätte. Das soll seine Leistung keinesfalls schmälern. Vielmehr ist es eine Erklärung, warum meine Wahl stattdessen auf einen anderen Mann gefallen ist, der eine sehr angenehme Nacht gehabt haben dürfte: Mattia Binotto. Den Aufschwung bei Ferrari darf sich nämlich auch der Neu-Teamchef auf seine Fahne schreiben.
Seit der Sommerpause voll im Soll
Drei Siege in Serie - das gab's bei der Scuderia seit der letzten Weltmeistersaison 2008 nicht mehr. Klar, die Erfolge in Spa und Monza waren die beiden Rennen in der zweiten Saisonhälfte, die Ferrari angesichts seines Pakets gewinnen musste. Das war in Singapur anders. Haben die Italiener 2019 zuvor häufig unterperformt, hatte man nun erstmals das Gefühl, dass sie mehr als das Maximum herausgeholt haben.
Das ist auch ein persönlicher Erfolg für Binotto, der zu Saisonbeginn eine Menge Kritik einstecken musste. Doch seit der Sommerpause hat man den Eindruck, dass Ferrari es endlich mehr und mehr schafft, das Maximum aus den Wochenenden herauszuholen. Auf zwei "normale" Siege folgte nun der erste Doppelsieg. Zur Erinnerung: Auch in der ersten Saisonhälfte hatte Ferrari bereits mehr als eine Gelegenheit, ein Rennen zu gewinnen.
Doch in Bahrain, Baku, Kanada, Österreich und Deutschland klappte es aus verschiedenen Gründen nicht. Immer kam etwas dazwischen. In Singapur machte nun ausnahmsweise einmal nicht Ferrari einen entscheidenden Fehler - sondern Mercedes. Damit hat sich übrigens unser Chefredakteur Christian Nimmervoll ausführlich in seiner Kolumne "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" befasst.
Ferrari plötzlich im "Mercedes-Modus"
Nun mögen diese drei Siege in Serie Zufall sein, und man könnte argumentieren, dass zumindest der in Singapur ohne den taktischen Fehler bei Mercedes wohl nicht passiert wäre. Doch genau darum geht es. Ferraris Problem in der ersten Saisonhälfte war nicht (nur) das Auto. Es waren vor allem die Fehler und die ausgelassenen Chancen. Bekommt man das in den Griff, ist bereits ein großer Schritt getan.
Denn umgekehrt besteht die große Mercedes-Stärke - auch schon vor 2019 - darin, Rennen zu gewinnen, die man eigentlich nicht gewinnen dürfte. Nicht selten kam es in den vergangenen Jahren vor, dass die Silberpfeile mehr Punkte aus einem Rennwochenende mitgenommen haben, als man am Donnerstag für möglich gehalten hatte. Bei Ferrari waren es im Zweifel weniger statt mehr.
Nun macht eine Schwalbe noch keinen Sommer und ein Rennen noch keine Wende - schon gar nicht im Hinblick auf die Saison 2019. Da ist der WM-Zug für Ferrari bereits vor Monaten abgefahren. Kritiker könnten nun also einwerfen, dass die aktuelle Siegesserie der Scuderia ohne Wert ist. Das sehe ich allerdings komplett anders - und das aus mehreren Gründen.
Die Scuderia sortiert sich für 2020
Denn vieles, was man aktuell leistet, ist auch für 2020 hilfreich. Da sind zum einen die Weiterentwicklungen am Auto, von denen man aufgrund des stabilen Reglements auch im kommenden Jahr profitieren wird. Dann gibt es die internen Prozesse, die Binotto nach den vielen Pleiten in der ersten Saisonhälfte überprüfen wollte. Die letzten Rennen könnten ein Zeichen dafür sein, dass sich auch da etwas tut.
Fotostrecke: Fotostrecke: Alle Ferrari-Rennleiter in der Formel 1 seit 1950
Mit ihm hat alles angefangen: Enzo Ferrari gründete 1929 die Scuderia Ferrari, die seit Beginn der Formel-1-WM im Jahr 1950 fester Bestandteil ist. Gleich in den ersten Jahren wurden einige Rennleiter verschlissen: Federico Giberti (1950-1951), Nello Ugolini (1952-1955), Eraldo Sculati (1956) und Mino Amorotti (1957). Wahrer Chef war bis zu seinem Tod im Jahr 1988 sowieso immer der "Commendatore", doch es gab Statthalter ... Fotostrecke
Und zu guter Letzt ist da noch der Faktor Selbstvertrauen. Es mag gestern keine Absicht gewesen sein, Vettel mit dem Undercut an Leclerc vorbeizubringen. Trotzdem glaube ich, dass man intern zumindest nicht unglücklich über den Ausgang des Rennens ist. Denn Leclercs Selbstvertrauen war nach den beiden Siegen in Spa und Monza sowieso schon am Limit. Vettel konnte diesen "Aufbausieg" mehr gebrauchen.
Übrigens: Die Fahrersituation könnte das einzige Haar in der Ferrari-Suppe sein, wenn man eins sucht. Gestern war die Strategie ganz sicher keine Entscheidung gegen Leclerc sondern eine für das Team. Doch glücklich war der Monegasse nicht. Das mag aktuell noch kein großes Problem sein, doch bei Mercedes haben wir 2014 gesehen, wie schnell ein Teamduell eskalieren kann, sobald beide Piloten um den Titel fahren.
Dieser Herausforderung würde sich Binotto 2020 aber sicher gerne stellen.
Ihr
Ruben Zimmermann
Ruben Zimmermann
P.S.: "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" fand jahrelang jeden Montag auf unseren Portalen Formel1.de und Motorsport-Total.com statt. 2019 ist sie umgezogen zu de.motorsport.com. Wen es dieses mal getroffen hat, können Sie hier nachlesen!