Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat
McLaren ist die vierte Kraft der Formel 1 und holte das beste Quali-Ergebnis seit 2014: Wie es Andreas Seidl gelungen ist, den Intrigenhaufen in Schwung zu bringen
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
ist es Ihnen auch aufgefallen? Das bereits totgeglaubte McLaren-Team hat sich ausgerechnet beim Renault-Heimrennen in Le Castellet zur vierten Kraft der Formel 1 aufgeschwungen und nur wegen Lando Norris' Hydraulikdefekt nicht die Plätze sechs und sieben belegt. Dazu kommt mit den Startplätzen fünf und sechs für Norris und Carlos Sainz das beste Qualifying-Ergebnis seit 2014!
Das ist bitter für die Franzosen, die nach der Trennung von Red Bull nun erneut zusehen müssen, wie ihnen ein Kundenteam den Auspuff zeigt. Es ist aber ein Triumph für den neuen McLaren-Geschäftsführer Andreas Seidl, der seit Mai im Amt ist.
Matrix-Fehler und Schokofrösche: Der Weg aus der Sackgasse
Genau so muss sich der Bayer, der von McLaren-Boss Zak Brown in Woking mit allen Vollmachten ausgestattet wurde, seinen Einstand gewünscht haben: Seidl hatte zwar keinen Einfluss auf das neue Auto - das muss man in aller Fairness zugeben -, aber er gilt als einer, der Menschen führen kann.
Und genau daran hat es in Woking in den vergangenen Jahren gemangelt. Das zeigte auch eine völlig verunglückte Management-Matrix, die die Verantwortung auf zu viele Schultern verteilte und bei der nicht klar war, wer eigentlich den Hut aufhat. Und die Schokofrösche, die es als Überstundenlohn gab, während das Topmanagement abcashte - ein Hohn, der selbst den eifrigsten Mitarbeiter lähmen muss.
Dass Seidls erste Amtshandlungen gleich von einem Aufschwung begleitet werden, mag auch eine glückliche Fügung sein. Dennoch geht dadurch ein Ruck durch die Mannschaft. Das einst so stolze Team spürt: Da geht wieder was!
Seidls Schlüsselfigur zum McLaren-Erfolg
Das hat auch damit zu tun, dass mit Ex-Toro-Rosso-Mann James Key ein Mann nun im Technikbüro das Zepter schwingt, der jahrelang vergeblich auf seine Beförderung zu Red Bull hoffte - und nun voll motiviert ist. Der Brite stieß nach Melbourne zum Team, und unter seiner Leitung wurden alle 40 Punkte des Teams, darunter drei sechste Plätze, geholt.
Und auch die Updates funktionieren, wie vor allem die Startplätze fünf und sechs in Frankreich gezeigt haben. Seidl ist überzeugt davon, dass er mit Key den richtigen Mann an seiner Seite hat, um McLaren wieder zum Erfolgsteam zu machen.
"Ich bin sehr zufrieden mit James", lobt Seidl den hochgeschätzten Briten. "Auch wie er mit dem Team interagiert, wie er als Persönlichkeit ist, welche technischen Fähigkeiten er hat. Er ist einer meiner wichtigsten Angestellten. Ich sehe die nächsten Monate und Jahre sehr positiv."
Der heimliche Teamchef ist Geschichte
Seidl, der früher beim BMW-Sauber-Team Einsatzleiter war und dann vom nunmehrigen Volkswagen-Motorsport-Konzernleiter Fritz Enzinger beim erfolgreichen Porsche-Le-Mans-Projekt zum Teamchef auserkoren wurde, ist dennoch das Gesicht des Aufschwungs.
Und nicht Superstar Fernando Alonso, der sich nun vielleicht in den Hintern beißen wird, weil er sich kurz vor der Trendwende aus dem Formel-1-Projekt hinauskatapultierte. Seidl scheint's nicht unrecht gewesen zu sein, denn der stellte klar, dass es für Alonso kein Zurück ins Formel-1-Team gibt.
Eine clevere Entscheidung, denn der Spanier gilt als Unruhestifter. Und genau das kann man in Woking nach Jahren des Fingerzeigens am wenigsten brauchen.
Seidls erste Akzente
Um das zu begreifen, muss man nur ein Jahr zurückblicken: Da war McLaren nach dem niveaulosen Nachtreten gegen Ex-Partner Honda in einer eigens produzierten Amazon-Prime-Doku zurecht das Gespött des Fahrerlagers. Denn auf die angekündigten Siege mit Neo-Motorenpartner Renault folgte der Rückfall ans Ende des Feldes zu Williams. Die einstigen Dauersieger waren nur mehr ein Schatten ihrer selbst und blamierten sich bis auf die Knochen.
Doch Seidl erkannte, dass McLaren im Gegensatz zu Williams eigentlich die Ressourcen hätte, um viel weiter vorne mitzumischen, und vor allem wegen eigener Fehler nicht konkurrenzfähig war. Und stürzte sich in die wohl größte Herausforderung seines Lebens.
Schon jetzt wirkt das Team im Auftreten viel demütiger als in den vergangenen Jahren, als man sich wie ein Dauersieger gab, aber eine Ohrfeige nach der anderen kassierte. Da hilft auch die Fahrerpaarung aus dem verlässlichen Sainz und dem hochtalentierten Youngster Norris, der in Frankreich durch Technikpech von Platz sechs auf Rang neun zurückfiel und wegen seines heldenhaften Kampfes der moralische Sieger war.
Sainz und Norris gut für den Teamgeist
Der Brite sprach nach Startplatz fünf vom "schönsten Tag" seiner Karriere und trug auch den Defekt mit Fassung, während Alonso vermutlich zuerst gegrantelt und dann gezündelt hätte. So etwas wirkt sich auch auf den Teamgeist aus.
Noch fehlen dem Team laut Seidls Einschätzung 1,5 Sekunden auf die Spitze. Und die grundlegenden Änderungen, die Technikchef Key bringt, werden erst 2020 greifen.
Wenn es McLaren aber weiterhin gelingt, dem mit Stars besetzten Renault-Werksteam vor der Nase herumzutanzen, dann kann man sich genau dieses ehrliche Selbstbewusstsein zurückholen, dass das Team in den vergangenen Jahren verloren hat.
Sven Haidinger
PS: Warum dieses Mal Lokalmatador Pierre Gasly eine unruhige Nacht hatte? Das lesen Sie in unserer Schwesterkolumne "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" aus der Feder von Chefredakteur Christian Nimmervoll auf de.motorsport.com.