Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat
Wieso Charles Leclerc trotz des verlorenen Sieges der eigentliche Bahrain-Gewinner ist und wie er mit Hirn-Telemetrie die Generation Hamilton in die Rente schickt
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
normalerweise servieren wir an dieser Stelle am Montagmorgen die Kolumne "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" meines Kollegen Christian Nimmervoll. Die übersiedelt 2019 auf unser Schwesterportal de.motorsport.com - und beschäftigt sich heute mit den neuen Leiden des Sebastian Vettel. Wir konzentrieren uns hier aber auf den Gewinner des Wochenendes - und damit auf den Piloten, der letzte Nacht am besten geschlafen hat.
Wie das Charles Leclerc sein kann, der nach dem dominanten Wochenende in Bahrain wegen eines technischen Defekts den Sieg verloren hat und danach untröstlich war? Als Verlierer geht Leclerc sicher nicht durch. Denn: Alle im Fahrerlager von Bahrain haben gespürt, dass sie Zeugen der Geburtsstunde eines neuen Champions waren. Selbst der glückliche Sieger Lewis Hamilton klopfte dem Ferrari-Senkrechtstarter nach dem Rennen auf die Schulter und prophezeite: "Du wirst noch viele Siege feiern."
Stallorder pro Vettel hilft Leclerc
Durch Leclercs selbstverständlichen Umgang mit dem eigenen Aufstieg vergisst man manchmal, wie beispiellos dieser ist. Seit Pedro Rodriguez in den 1960er-Jahren riskierte Ferrari nicht mehr, einen so jungen Piloten ins Cockpit zu setzen. Der Druck, mit dem sich Piloten in Maranello konfrontiert sehen, kann unmenschlich sein.
Genau das ist aber die Spezialität des 21-Jährigen, der sich in Bahrain zum zweitjüngsten Pole-Setter der Geschichte nach Sebastian Vettel krönte. Und damit dem wieder einmal fehlerhaften Ferrari-Piloten zeigte, dass nach den Jahren mit Kumpel Kimi Räikkönen nun ein anderer Wind in Maranello weht.
Denn während andere Piloten die bereits vor der Saison angekündigte Stallorder pro Vettel als Demütigung sehen würden, begreift sie Leclerc als Chance. Er erkennt, dass die Aussagen von Teamchef Mattia Binotto eigentlich Vettel mental schwächen, der eine Stallorder als viermaliger Weltmeister gar nicht nötig haben sollte.
Patenonkel Jules Bianchi
Und er weiß, dass er nun mit Speed Ferrari dazu zwingen kann, auf ihn zu setzen. So wie er es in Bahrain auf eindrucksvolle Art und Weise gemacht hat. Das war der erste Volltreffer gegen Vettel, der schon in Melbourne nur dank eines Funkbefehls vor Leclerc ins Ziel kam. Und nun im WM-Klassement vier Zähler hinter dem Neuling liegt.
Doch warum ist Leclerc für sein Alter schon so weit? Das hat vielleicht auch damit zu tun, was der überraschend bodenständige Youngster aus dem Fürstentum schon in jungen Jahren durchgemacht hat. 2015 starb mit Jules Bianchi der Rennfahrer, mit dem Leclerc an der Kartbahn aufwuchs und der nicht nur sein Patenonkel, sondern auch eine Art Mentor war. "Ich will die Titel gewinnen, die Jules verdient hätte", sagte er vor einigen Jahren über den Franzosen, der acht Jahre älter war.
Dominantes Wochenende nach Tod des Vaters
Zwei Jahre später der nächste Schicksalsschlag: Vater Herve Leclerc, ein früherer Formel-3-Pilot, starb im Alter von nur 54 Jahren nach schwerer Krankheit. Er war stets Charles Leclercs größter Fan. Sein damaliges Formel-2-Team ART stellte den Teenager für das Rennen auf dem herausfordernden Stadtkurs in Baku frei, doch der reagierte mit einem seiner besten Rennwochenenden.
Er holte die Pole, siegte im Hauptrennen und wurde im Sprintrennen Zweiter. Das Fahrerlager war baff. Hat der Junge keine Emotionen? "Ich habe mich gefragt, was mein Vater gewollt hätte, wäre er noch da gewesen", meinte Leclerc damals. "Mir wurde rasch klar, dass es ihn gefreut hätte, wenn ich mich gut schlage. Ich wollte für ihn ein gutes Ergebnis einfahren."
Verdrängung war aber nicht das Erfolgsgeheimnis: "Ich bin für ihn gefahren. Und es war schwierig, denn selbst wenn man noch so viel Mentaltraining macht, bereitet einen nichts auf so eine Situation vor." Genau ein Jahr später gelang Leclerc übrigens am selben Ort auch in der Formel 1 bei Sauber der Durchbruch - mit Platz sechs!
Wie der Durchbruch in der Formel 1 gelang
Nach drei schwierigen Auftaktrennen: Er hatte beim Set-up wie in der Formel 2 auf ein übersteuerndes Auto gesetzt, was aber in der Formel 1 nicht funktioniert, weil durch den enormen Abtrieb der Grip völlig abrupt abreißen kann. Dass es nach dem Rat der Ingenieure, auf Untersteuern zu setzen, plötzlich perfekt klappte, sagt auch etwas über den Senkrechtstarter aus: Er ist nicht beratungsresistent, sondern zieht aus den Fehlern seine Schlüsse und lernt extrem schnell.
Das hat er auch bei Ferrari bewiesen: Nach Platz fünf im Melbourne-Qualifying war Leclerc stocksauer und nahm sich vor, in Bahrain seine besten Sektorzeiten in einer Runde zu bündeln. Der Plan ging auf. Und bumm - Pole-Position!
Leclercs Hirn-Telemetrie
Dass er Dinge so schnell umsetzt, hat auch damit zu tun, dass er seine kognitiven Fähigkeiten und seine mentale Verfassung seit bereits elf Jahren in der Klinik von Formel-1-Arzt Riccardo Ceccarelli trainiert. Dabei werden seine Hirnaktivitäten bei einer Rennsimulation genau überwacht. "Ich habe immer geglaubt, dass ich mich bereits zu 100 Prozent konzentriere, und dann schaut man sich die Diagramme an und merkt, dass das nicht stimmt", erzählte er einmal.
"Das ist eine Art Telemetrie für das Gehirn. Ich habe so meine ideale Mischung aus Konzentration, Entspannung und Adrenalin gefunden." Das klingt nach einer gefährlichen Drohung für Vettel - und nach einer Ablöse der Generation um Hamilton (inzwischen auch schon 34 Jahre alt), die nur eine Frage der Zeit ist.
Zumal Leclerc auch politisch perfekt vernetzt ist. Sein Manager ist mit Nicolas Todt der Sohn von FIA-Boss Jean Todt, der als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten im gesamten Motorsport gilt. Und selbst die Mutter ist nicht ohne Einfluss: Sie ist Friseurin. Und schneidet regelmäßig Experte David Coulthard die Haare. Wenn ihr Sohn aber so weiter macht, dann hat sie keinen Grund, mal etwas zu viel Haupthaar zu erwischen.
Sven Haidinger