Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat
Ist Valtteri Bottas der neue Nico Rosberg? Wie der Melbourne-Sieger nun negative Energie zum eigenen Vorteil nutzt und welches Vorurteil als nächstes fallen muss
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
normalerweise servieren wir an dieser Stelle am Montagmorgen die Kolumne "Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat" meines Kollegen Christian Nimmervoll. Die übersiedelt 2019 auf unser Schwesterportal de.motorsport.com - und beschäftigt sich heute mit der Krise des Williams-Teams. Trotzdem gibt's natürlich weiterhin eine Montags-Kolumne auf diesem Portal - nur eben das Gegenstück "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat".
Was wurde nach dem Saisonende 2018 über Valtteri Bottas nicht alles geschrieben: dass seine Zeit bei Mercedes - ja sogar in der Formel 1 - eigentlich schon abgelaufen sei; dass Ersatzmann Esteban Ocon schon zu Saisonmitte sein Cockpit übernehmen werde; und dass sich der 29-jährige Finne bereits in der Rallye-Szene nach einem neuen Job umschaut.
"Fuck you!": Haben wir richtig gehört?
Doch dann siegte der "Underdog", der laut Ex-Weltmeister Jacques Villeneuve nach Platz zwei im Qualifying bereits "gebrochen" war, beim Formel-1-Saisonstart in Melbourne mit 20,9 Sekunden Vorsprung auf den als übermächtig geltenden Teamkollegen Lewis Hamilton. Und jubelte: "Das war das beste Rennen meiner Karriere." So einen großen Vorsprung hatte kein Pilot bei einer Siegesfahrt im vergangenen Jahr.
Und dann war da diese Botschaft über Boxenfunk nach der Zieldurchfahrt. "Fuck you! To whom it may concern ..." Also: "An alle, die sich angesprochen fühlen: Leckt mich!" Zieht da jemand plötzlich aus negativer Energie seine Kraft, der sonst als netter, braver Teamsoldat galt?
Neuerfindung mit Ansage
Der Eindruck täuscht nicht: Nach dem bitteren Saisonende 2018, als Bottas neben elf Hamilton-Siegen kein einziges Mal ganz oben stand, schwor sich der frustrierte und verärgerte Mercedes-Pilot: So etwas darf nie mehr passieren! Er ließ sich einen Bart wachsen und stellte im Gespräch mit 'Auto Bild motorsport' klar: "Ich brauche für dieses Jahr eine neue Einstellung, um meine Ziele zu erreichen."
Situationen wie in Sotschi, als er trotz anderslautender Versprechungen von Teamchef Toto Wolff zurückgepfiffen wurde und Hamilton den Sieg schenken musste, werde es in Zukunft nicht mehr geben: "Um meine Ziele zu erreichen, bin ich dieses Jahr bereit zu tun, was nötig ist. Wenn ich dafür an einigen Stellen härter agieren muss, gehört das dazu."
Möglicherweise tut da auch sein neues Umfeld gut: Statt Tony Ross, der in die Formel E zu HWA gewechselt ist, agiert nun Hamiltons ehemaliger Performance-Ingenieur Riccardo Musconi als sein Renningenieur. Und der kennt die Tricks der Ich-AG Hamilton ganz genau.
Macht es Bottas Nico Rosberg nach?
Bottas, der den heißen Atem des auf sein Cockpit spitzenden Ersatzmannes Ocon spürt, scheint aufgewacht zu sein: Er weiß, dass er als klassischer Teamplayer in der Formel 1 nicht weiterkommt. Ähnlich wie Nico Rosberg im Jahr 2016, der ebenfalls zwei Mal in Serie als Teamkollege zusehen musste, wie Hamilton den Titel holt, und dann sein Schwiegersohn-Image abschüttelte und die Krallen ausfuhr. Das Ergebnis ist bekannt.
Auch Bottas wirkte beim ersten Rennen der Saison plötzlich kompromisslos: Trotz der Anweisung des Teams, am Ende nicht auf die Schnellste Runde loszugehen, entschied er sich anders und ging kurz vor der Zielflagge noch einmal voll ans Limit. Nun führt er nicht nur erstmals in seiner Karriere die WM an, sondern sogar mit einem Weltrekord: 26 Punkte hatte nach dem ersten Rennen noch niemand auf dem Konto.
Und das ist mental extrem wichtig: Denn gerade bei Bottas hat sich in den vergangenen zwei Jahren gezeigt, dass er einknickt, wenn die Chance auf den Titel schwindet. "Mit Sicherheit war es nicht einfach, das Allerletzte aus mir herauszuholen, als ich wusste, dass ich nicht mehr um den WM-Titel kämpfe", gab der Finne, der 2018 ab dem Belgien-Grand-Prix nur noch dreimal auf dem Podest stand, sogar selbst zu.
Welches Vorurteil Bottas als nächstes widerlegen muss
Dafür muss er nun auch mit einem weiteren Vorurteil aufräumen: dass er nur an gewissen Tagen und auf gewissen Kursen wirklich siegfähig ist und daher langfristig gegen Hamilton keine Chance hat. Das attestiert ihm vor allem Red Bulls Motorsportkonsulent Helmut Marko, ein Kritiker des Finnen.
Doch Bottas hat schon in Melbourne den ersten Schritt gemacht: Denn auch die Strecke im Albert Park war bislang im Gegensatz zu Kursen wie Sotschi, Baku oder Spielberg keine klassische Bottas-Strecke. "Melbourne war noch nie mein bestes Rennen", bestätigt der Finne, der im Vorjahr im Qualifying crashte und bis 2019 im Albert Park nur einmal auf dem Podest stand.
Wenn er nun bei den bevorstehenden Rennen in Bahrain, Schanghai und Baku, die ihm liegen sollten, ebenfalls glänzt, dann könnte sich der Ehemann der früheren Weltklasseschwimmerin Emilia Pikkarainen wie Nico Rosberg vor drei Jahren ein wichtiges Polster schaffen. Und 2019 gegen Hamilton endlich einmal nicht untergehen.
Sven Haidinger