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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Fast Weltmeister, und trotzdem Grund für eine unruhige Nacht: Mercedes-Chefstratege James Vowles gab in Austin einmal mehr keine glückliche Figur ab
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
die Aufgabe eines Kolumnisten kann manchmal ziemlich undankbar sein. An einem Tag wie heute zum Beispiel. Beim Gedanken, jemanden öffentlich zu kritisieren, der a) wesentlich mehr auf dem Kasten hat als ich selbst und b) auf seinem Gebiet zweifellos eine Koryphäe ist, zieht sich in mir eigentlich alles zusammen.
Nichtsdestotrotz kommt in unserer traditionellen Montags-Kolumne heute einer unter die Räder, der es eigentlich gar nicht verdient hat. Nämlich Mercedes-Chefstratege James Vowles.
Nun werden Sie sich fragen: Wie bitte, Mercedes? Lewis Hamilton hat nach dem Rennen in Austin eine Hand und vier Finger am WM-Pokal, und auch der Konstrukteurstitel ist den Silberpfeilen kaum noch zu nehmen.
Aber es ist ein fragwürdiges Privileg der Besten unter den Besten, dass sie auch für kleine (und kleinste) Nachlässigkeiten kritisiert werden. Und die kann man unter den Mercedes-Strategien der Formel-1-Saison 2018 durchaus finden, wenn man nur genau genug schaut.
Hamilton könnte heute schon Weltmeister sein, wenn nicht irgendjemand am Mercedes-Kommandostand - und dafür trägt Vowles letztendlich die Gesamtverantwortung - die Idee gehabt hätte, ihn während der virtuellen Safety-Car-Phase nach Daniel Ricciardos Ausrollen an die Box zu holen.
Auf Supersoft qualifiziert, dann aber nicht genutzt
Trotz des verlorenen Starts hatte das Rennen in Austin für ihn gut begonnen. Weil er die härteren Reifen hatte als Leader Kimi Räikkönen, wuchs sein Rückstand zwischenzeitlich auf bis zu 2,7 Sekunden an. Doch als Rennleiter Charlie Whiting in der neunten Runde den VSC-Knopf drückte, war er schon wieder bis auf 1,6 Sekunden am führenden Ferrari dran.
Warum, ist schnell erklärt: Räikkönen hatte mit seinen Ultrasoft-Reifen in den ersten paar Runden einen Grip-Vorteil. Doch seine Reifen bauten schneller ab als Hamiltons Supersofts.
Das logische Vorgehen wäre aus Mercedes-Sicht gewesen, den ersten Stint so lange wie möglich zu strecken, dann wahrscheinlich mit ein paar Sekunden Rückstand auf Räikkönen aus der Box zu kommen - und in der zweiten Rennhälfte mit frischeren Reifen zu attackieren.
Toto Wolff sagt zwar, der Mercedes sei beim Grand Prix der USA nicht schnell genug gewesen, um zu gewinnen. Doch die Daten widerlegen das. Als Hamilton nach seinem zweiten Boxenstopp (den er eigentlich nie hätte benötigen sollen) freie Fahrt hatte, fuhr er die besten Rundenzeiten im Feld. Schwer vorstellbar, dass Räikkönen auch zu solchen Zeiten in der Lage gewesen wäre.
Eigentlich bestand keine Not, Hamilton an die Box zu holen. Aber womöglich ist man der Verlockung erlegen, nicht bedingungslos auf Sieg zu fahren (was richtig gewesen wäre), sondern mit einem Auge auf die WM-Entscheidung zu schielen.
Schließlich war klar, dass Hamilton auch nach seinem Stopp sicher vor Rivale Sebastian Vettel liegen würde. Und mit frischeren Reifen immer noch vor dem Deutschen zu sein, da konnte man zumindest mal nichts grob falsch machen. Soweit nachvollziehbar.
Ähnlicher Fehler wie in Abu Dhabi 2010
Dass es aber kontraproduktiv sein kann, in erster Linie den direkten Gegner zu "covern" und nicht auf das bestmögliche Rennergebnis zu fahren, ist in der Geschichte der Formel 1 nichts Neues. Fernando Alonso wäre heute vielleicht drei- statt zweimaliger Weltmeister, wenn nicht Chris Dyer in Abu Dhabi 2010 geglaubt hätte, dass es eine kluge Idee wäre, Mark Webber in Schach zu halten.
Die Geschichte endete damit, dass Alonso und Webber nicht am allseits unterschätzten Renault von Witali Petrow vorbeikamen - und Sebastian Vettel an der Spitze unbehelligt zum ersten von vier Red-Bull-Titeln fahren konnte.
Mag sein, dass meine laienhafte Analyse der Mercedes-Strategie völliger Mumpitz ist. Mag sein, dass es ganz andere Gründe dafür gab, Hamilton so früh (und in weiterer Folge zwangsläufig zwei- statt einmal) an die Box zu holen.
Tatsache ist: Es war ein Fehler.
Und es war nicht das erste Mal, dass Mercedes 2018 eine Rennstrategie falsch angelegt hat.
Schon in Australien unterlief der Vowles-Crew der Fehler, auf einen versuchten "Undercut" von Räikkönen zu reagieren, anstatt selbstbewusst am eigenen Fahrplan festzuhalten. Vettel, der von weiter hinten kommend in der dankbaren Position war, riskieren zu können, erbte den Sieg, als ein (zunächst virtuelles, dann echtes) Safety-Car im für ihn goldrichtigen Moment auf die Strecke kam.
In Bahrain übersah Mercedes Ferraris kühnen Plan, Vettel mit nur einem Reifenwechsel ins Ziel zu bringen, und verschenkte so einen möglichen Sieg durch Valtteri Bottas. Der war zwischendurch bewusst langsam unterwegs - in der Annahme, Vettel würde noch einmal reinkommen. Falsch gedacht.
Schanghai: Langsamer reagiert als Red Bull
In China verabsäumte es die Mercedes-Mannschaft, Hamilton geistesgegenwärtig an die Box zu lotsen, als das Safety-Car auf die Strecke kam. Red Bull begriff die Situation schneller - und gewann mit Daniel Ricciardo das Rennen.
Und in Österreich ließ man sich mit dem bis dahin sicher führenden Hamilton ebenfalls eine VSC-Phase als goldene Boxenstopp-Gelegenheit durch die Lappen gehen, sodass dieser seinen ersten Platz verlor. Vowles musste sich danach persönlich am Boxenfunk bei Hamilton entschuldigen. Noch während des Rennens.
Nun soll diese Kolumne keineswegs alles schlecht reden, was Vowles je getan hat, oder gar seinen Kopf fordern! Es liegt in der Natur der Sache, dass über Fehler mehr geredet wird als über Glanztaten. Auch ich bekomme selten positive Leserbriefe. Weil sich heutzutage keiner die Mühe macht, etwas zu kommentieren, was ihm gefällt.
Aber auf etwas hinzuhacken, was einen stört, das passiert ziemlich oft.
Man kann der Sache letztendlich auch einen positiven Touch geben. Mercedes wird 2018 überlegen Formel-1-Weltmeister - trotz all dieser kleinen Fehler. Wer das "System Toto Wolff" kennt, der weiß, dass man sich in Brackley über den Winter intensiv damit auseinandersetzen wird, Prozesse zu erarbeiten, damit solche Strategiepannen 2019 nicht mehr passieren.
Dann wird es für Ferrari & Co. ganz, ganz schwierig, die Mercedes-Erfolgsära zu beenden. Und daran hat Vowles einen großen Anteil, den ihm niemand ernsthaft in Abrede stellen würde.
Auch ich nicht.
Ihr
Christian Nimmervoll
PS: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat (nämlich Kimi Räikkönen) und warum, das erklärt Ihnen heute mein Kollege Sven Haidinger in der Schwesterkolumne auf de.motorsport.com.
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