Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Pfui, Mercedes - oder doch nicht? Chefredakteur Christian Nimmervoll wirft einen differenzierten Blick auf die umstrittene Stallorder von Sotschi ...
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
viele von Ihnen werden damit gerechnet haben, dass ich heute Mercedes-Teamchef Toto Wolff schlecht schlafen lasse. Weil er nach einem Tag wie gestern natürlich ein leichtes Opfer ist. Und, was soll ich sagen? Sie haben recht!
Allerdings möchte ich nicht so undifferenziert auf meinen Landsmann eindreschen, wie das einige unserer Leser tun. "Ich mag Herrn Wolff einfach nicht, und seine Entscheidungen finde ich fragwürdig", schreibt zum Beispiel einer auf Facebook. "Da fand ich Norbert Haug deutlich sympathischer."
Ein anderer meint: "Mercedes, die ihr gerne auf die anderen zeigt, habt wieder mal bewiesen, dass derjenige, der mit dem Finger auf die anderen zeigt, meist selbst Scheiße an den Fingern kleben hat." Wieder ein anderer unterstellt Wolff, er rege sich auf, "wenn es nicht nach seiner Nase geht. Die anderen fahren mit Tricks, und über die beschwert man sich bei Whiting. Aber selbst den Sport kaputtmachen."
Das geht immer so weiter, bis hin zu "Verarsche an jedem Rennfan", "Schiebung", "der letzte Dreck im Rennsport, stinklangweilig und abgekartet" - bis zum Urteil eines Fans: "Was hat das bitte noch mit Motorsport zu tun? Da kann man in der Zeit echt was Sinnvolles machen, bevor man so eine Scheiße guckt!"
Shitstorms: Anonymen Postern fehlt es meist an Charakter
Man sehe mir nach, dass ich den Postern dieser Beiträge in Sachen Orthografie und Grammatik etwas unter die Arme gegriffen habe. Shitstorm nennt man so etwas heutzutage. Und wahrscheinlich hätten nur die wenigsten Poster die Eier dazu, Toto Wolff ihre Meinung auch direkt ins Gesicht zu sagen, wenn er vor Ihnen stehen würde. Ist meistens so.
Ich will das gar nicht verurteilen. Als Jean Todt 2001 in Österreich mit dem Satz "Let Michael pass for the championship!" in die Formel-1-Geschichte einging und 2002 noch eine Stallorder nachlegte, schloss ich mich, damals noch jung und unreflektiert, dem Pfeifkonzert des tobenden Pöbels an und schrieb auf meiner damaligen Plattform 'Daily F1' eine Kolumne mit dem Titel "Pfui, Ferrari!".
Würde ich so heute nicht mehr machen.
Nicht, weil ich Toto Wolff, meinen Landsmann, in Schutz nehmen will. Ganz im Gegenteil - über die Jahre haben wir immer wieder Meinungsverschiedenheiten ausgefochten. Sondern weil ich selbst an seiner Stelle nicht anders entschieden hätte. Ganz ehrlich.
Kommen Sie mal kurz mit auf ein Gedankenexperiment. Sagen wir, Hamilton hätte Sotschi nicht mit 50, sondern nur mit 43 Punkten Vorsprung verlassen. Die Saison neigt sich dem Ende zu, die Lebensdauer der maximal drei pro Fahrer erlaubten Motoren auch. Dass so etwas wie in Malaysia 2016, wo eine Rauchwolke in Hamiltons Heck Nico Rosberg zum Weltmeister gemacht hat, noch einmal passiert, ist nicht ausgeschlossen.
50 Punkte Vorsprung sind schnell weg
Jetzt passiert genau das in Suzuka, und Sebastian Vettel gewinnt auf seiner Lieblingsstrecke. Dann sind's schon nur noch 18 Punkte Vorsprung für vier Rennen. Und plötzlich kann Vettel wieder aus eigener Kraft Champion werden.
Der Deutsche hat schon mehrfach bewiesen, dass er Wunder vollbringen kann, wenn er nur genug Blut geleckt hat. 2010 ging er als Dritter ins WM-Finale in Abu Dhabi, aber am Ende war er Weltmeister. 15 Punkte in einem einzigen Rennen aufgeholt. Auch das geht schneller, als man glaubt.
"Lügner", sagt Toto Wolff (augenzwinkernd) zu Journalisten, die behaupten, sie hätten an seiner Stelle anders gehandelt. Stimmt schon: Wenn Valtteri Bottas gewinnen hätte dürfen und Hamilton trotzdem Weltmeister wird, dann hätte Mercedes wirklich alles richtig gemacht. Sieger nicht nur in der Ergebnistabelle, sondern auch Sieger der Herzen!
Gut möglich, dass Hamilton letztendlich mit 80 Punkten Vorsprung den Titel gewinnt. Dann sagen alle: "Sotschi hättet ihr doch gar nicht nötig gehabt!" Aber wie soll man heute wissen, wie die nächsten fünf Rennen ausgehen?
Es gibt für mich einen kleinen, aber feinen Unterschied zwischen Jean Todt 2001/02 und Toto Wolff 2018: Ferrari hat damals Kritiker scharf zurechtgewiesen, als naiv abgestempelt und mit einer gewissen Arroganz und Selbstherrlichkeit argumentiert.
Verteidigung auf Augenhöhe mit den Kritikern
Wolff hingegen räumt durchaus Selbstzweifel ein, wenn er Dinge sagt wie "Es fühlt sich nicht richtig an" oder "Ich muss über den heutigen Tag erstmal nachdenken". Und er diskutiert mit einer gewissen Leichtigkeit und auf Augenhöhe mit den Journalisten, die ihn mit ihren bohrenden Fragen an die Wand drängen. Es wurde viel gelacht beim Mercedes-Roundtable am Sonntagabend in Sotschi.
Als Todt 2002 mit den Medien sprach, hatte das eher was von Audienz beim König.
Außerdem war es 2002 das sechste von 17 Rennen, und der Ferrari war so überlegen, dass Michael Schumacher schon am 21. Juli als Weltmeister feststand. Das wäre so, als hätte Hamilton den Titel bereits in Hockenheim klargemacht, am 22. Juli.
Und trotzdem zählt Toto Wolff zu den Verlierern des gestrigen Tages. Er hat eine historische Chance verpasst. Fünfmal Weltmeister werden, das haben schon mehr Teamchefs geschafft. Aber auf eine Stallorder zu verzichten, die sich so aufdrängt, wie das gestern der Fall war, das wäre in der Geschichte der Formel 1 (fast) einmalig gewesen.
Heute hätte es keinen Shitstorm, sondern Lobeshymnen für seine Sportlichkeit gegeben. Und der Mercedes-Stern hätte heller gestrahlt als je zuvor.
Aber unterm Strich zählen wohl doch nur die nackten Zahlen. Schade eigentlich.
Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:
Valtteri Bottas wird eine Zeit lang brauchen, sich von diesem Nackenschlag zu erholen. Ganz groß, wie er den Siegerpokal verweigert hat, den ihm Hamilton schenken wollte. Auch hier hat Mercedes ein besseres Schauspiel geboten als Ferrari 2002, mit der peinlichen Posse um Rubens Barrichello auf dem mittleren Treppchen.
Und trotzdem scheint jetzt klar zu sein, dass Bottas bei Mercedes auf ewig eine Nummer 2 bleibt. Ewig könnte auch nicht mehr lange sein. Wolff lässt seinen Junior Esteban Ocon partout nicht zur Konkurrenz ziehen und nimmt dafür notfalls sogar ein Jahr Auszeit in Kauf. Das kann eigentlich nur bedeuten, dass er ihn 2020 ins Werksteam holen möchte. Spätestens dann ist Bottas' Zeit abgelaufen.
Sebastian Vettel: Das war's dann wohl mit dem fünften WM-Titel. Dass er nicht austickt, wie das früher in so einer Situation der Fall gewesen wäre, sondern sich immer noch Mut macht und dabei recht gelassen bleibt, kann zweierlei bedeuten. Erstens, dass er sich wirklich eine lebensbejahende und optimistische Einstellung angeeignet hat. Oder zweitens, dass er sich insgeheim schon damit abgefunden hat, wieder nicht Weltmeister zu werden.
Chase Carey: Bernie Ecclestone, das weiß man, ist unter Liberty Media Persona non grata im Formel-1-Paddock. Umso mehr muss es den Grand-Prix-Boss mit dem Schnauzer geärgert haben, als der russische Präsident Wladimir Putin auf der Ehrentribüne ausgerechnet neben seinem persönlichen Gast Ecclestone Platz nahm und so tat, als sei dieser immer noch Chef des Ladens. Nicht dass Carey wahnsinnig scharf drauf wäre, ein Foto mit Putin zu machen. Aber Sie würden es auch nicht toll finden, wenn Sie sich einen neuen Hund kaufen und der ständig zu seinem alten Herrchen läuft, oder?
Ihr
Christian Nimmervoll
PS: Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat, können Sie wie immer auf unserem Schwesterportal de.motorsport.com nachlesen. Heute war das - zumindest in den Augen von Dominik Sharaf, der diesmal anstelle des Stammkolumnisten Stefan Ehlen einspringt - Sebastian Vettel.
PPS: Folgen Sie mir oder meinen Kollegen auf Twitter unter @MST_ChristianN!