Kolumne aus Le Castellet: Mondlandung auf dem Nürburgring
Redakteur Dominik Sharaf hätte sich auf dem Cirucit Paul Ricard fast verlaufen, sah Polizisten im Stau Croissants mampfen und fand alles "ein bisschen 90er"
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leserinnen und Leser,
seit dem Frankreich-Grand-Prix kann ich einen Satz nicht mehr hören: "Wenn möglich, bitte wenden!" Das Dauerschleifen-Kommando meines Navigationssystems auf dem allmorgendlichen Weg zum Circuit Paul Ricard. Die Dame im Lautsprecher, die redlich aber vergebens nach Umfahrungsmöglichkeiten der Megastaus suchte, ist mittlerweile verstummt und das Thema zu Genüge besprochen. Ein gemischter Eindruck bleibt.
Das Positive: Ich bin nach dem Wochenende überzeugt, dass die Formel 1 nach Frankreich gehört. Zu viel Enthusiasmus und Interesse war nicht nur bei Fans, sondern bei jedermann zu spüren - vom Tankwart bis an die Supermarkt-Kasse. Ich legte kaum einen Stopp ein, bei dem mir nicht die Frage gestellt wurde, was ich denn mit so einer Akkreditierung um den Hals arbeiten würde.
Auch wenn mein Schulfranzösisch und das Englisch der meisten Gesprächspartner ausbaufähig waren, waren Gastfreundschaft und der Stolz, dass "quelque chose comme Le Mans" (O-Ton im Hotel) vor der Haustür ausgetragen wird, spürbar. Längst keine Selbstverständlichkeit und aus meiner Sicht ein (zu) wenig beachtetes Auswahlkriterium für Grands Prix. Bestes Negativbeispiel: Ungarn.
Man kann argumentieren, dass nur 190 Kilometer entfernt das Rennen in Monaco stattfindet. Die Glamour-Festspiele mit ihren zuweilen versnobten "Fans" besitzen aber anderen Charme. Le Castellet entpuppte sich - was das Publikum betraf - als provenzalischer Nürburgring. Campingplätze rundherum, Menschen mit Kühlboxen und Dosenbier, abends Holzkohle-Geruch und Grillnebel.
Es war eines der Rennen, die sich Formel-1-Traditionalisten wünschen. Le Castellet ist in einer Tour mit Silverstone, Hockenheim und Spa-Francorchamps zu nennen. Die 90er ließen grüßen. Flapsig und angelehnt an die "Schumania" formuliert: "Renault, Fritten, Bier, dafür sind wir hier!"
Doch das birgt Schattenseiten, die angesichts des Komforts fernab von Europa in Vergessenheit geraten sind. In Bahrain oder Abu Dhabi fährt man zu beliebiger Tages- und Nachtzeit aus der Innenstadt los, stellt den Tempomaten ein und düst über sechsspurige Highways quer durch die Wüste auf den Parkplatz der Rennstrecke, ohne die Bremse nur anzutippen. Es geht nicht bequemer.
Dafür genießt man vor Ort die sterile Atmosphäre eines Einkaufszentrums, über die genauso laut geschimpft wird wie über die chaotische Verkehrssituation in Le Castellet. Beides hat seine Berechtigung, aber ich frage mich: "Was nun bitte?" Südfrankreich fühlte sich nach Formel 1 alter Schule an. Beklebte Wohnwagen, Imbissbuden mit Ferrari-Fähnchen, enge Bundesstraßen wie in der Eifel.
Klar, mich haben die Staus und meine dreistündige, aber nur 25 Kilometer lange Anfahrt am Freitag auch genervt. Besonders, als ich einen tiefenentspannten Polizisten erblickte, der neben der Blechlawine genüsslich in sein Croissant biss, statt den Verkehr zu regeln. Es war wie in einem Louis-de-Funes-Film. Aber für Medienvertreter fand man rasch eine Lösung, die die Situation erträglich machte.
Fotostrecke: Paul Ricard: Hochglanz mit Verwirr-Faktor
Die Formel 1 ist zurück in Le Castellet. 1990 fand der letzte Formel-1-Grand-Prix auf dem Circuit Paul Ricard statt. Seitdem ist der Kurs kaum wiederzuerkennen. Aus der veralteten Anlage ist eine der modernsten Strecken der Welt geworden, die aber ihre Probleme mit sich bringt. Die Reaktionen der Fahrer: Fotostrecke
Wirklich Grund wütend zu sein hatten aber die Fans, die für viel Geld eine Karte gekauft hatten und statt auf der Tribüne auf einem Mäuerchen am Straßenrand hockten, um darauf zu warten, dass sich der Stau bewegt - während sich die Formel-1-Action ein paar Kilometer entfernt ohne sie abspielte.
Bei allem Verständnis: Das darf nicht passieren und verprellt diejenigen, die dem Motorsport seine Daseinsberechtigung verschaffen. Veranstalter und Behörden müssen sich fragen lassen, ob sie künftig in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen. Ein zweites Mal ist eine solche Farce unentschuldbar.
In krassem Kontrast zu dem rustikalen Umfeld steht der Circuit Paul Ricard selbst. Er sieht nicht nur im Fernsehen aus wie eine Mondlandschaft, er ist eine Mondlandschaft! Schon bei einem Spaziergang (mit höchstens sechs km/h!) war mir nicht klar, wo die Strecke verläuft. Überall Asphalt, bunte Linien und noch viel mehr Asphalt. Das hat mit dem Nürburgring wirklich nichts zu tun.
Sollte so die Rennstrecke der Zukunft aussehen, verhieße es nichts Gutes für den Motorsport. Le Castellet ist die Antithese eines Stadtkurses und einer Naturrennstrecke. Die Fotografen im Medienzentrum klagten über Motivarmut. Ich finde, man muss dem Parcours zugutehalten, dass er Alleinstellungsmerkmale hat und unterscheidbar ist. Leider fällt er durch, pardon, Hässlichkeit auf.
Bei einem Spaziergang durch die Fanzone wurde mir erst klar, wieso die Formel-1-Rückkehr mit viel Geld aus den Kassen der Region und des Departements finanziert wurde: Werbung! Tourismus war das große Thema zwischen den Pappfassaden eines provenzalischen Örtchens, das im besten Las-Vegas-Stil nachgestellt wurde. Von Weinproduzenten über Fremdenverkehrsämter bis hin zur Polizei war alles vertreten. Dass auch das französische Militär die Chance nutze, am Rande des Rennens Reklame für eine Karriere in der Truppe zu machen, hatte etwas Geschmäckle.
Ihr
Dominik Sharaf