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Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
64,99 Euro für nichts: Liberty Media hat mit der völlig missglückten Premiere des Live-Streams F1 TV (zurecht) den Ärger unzähliger Fans auf sich gezogen
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
die mit am meisten geklickten Meldungen des Jahres 2018 hatten bisher nicht immer mit Sebastian Vettel & Lewis Hamilton zu tun. Ein Garant für hohe Reichweite war aus Sicht unserer Redaktion bisher jede Neuigkeit, die in irgendeiner Form mit F1 TV zu tun hatte. Was nur beweist: Der Hunger nach einem Live-Stream in Deutschland ist riesengroß! Trotz (oder gerade wegen) RTL.
Dementsprechend groß war die Spannung am Freitagmorgen, als der Dienst mit dem ersten Freien Training in Barcelona das Licht der Welt erblicken sollte. Vergessen waren alle Kinderkrankheiten der vergangenen Wochen, als hunderte User erst nicht wussten, wo und wie sie sich anmelden können, und dann ihre Anfragen meist sehr spät oder gar nicht, aber fast immer unbefriedigend beantwortet wurden.
Das gilt freilich nur für die, die zu dem Zeitpunkt die Nerven noch nicht weggeschmissen hatten. Viele hatten gar nicht erst die Möglichkeit, ein F1-TV-Abo abzuschließen: "Gerade in Deutschland sind Kreditkarten kaum verbreitet. Ich persönlich habe niemanden in meinem Umfeld, der eine hat. Ich habe wohl einfach Pech gehabt. Da freut man sich wochenlang auf F1 TV und wird dann so im Regen stehen gelassen", ärgert sich ein User auf Twitter.
Es ist also - Sie werden es schon begriffen haben - der Formel-1-Fan, der unserer Meinung nach letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat. Es hätte auch Formel-1-Digitalchef Frank Arthofer sein können. Das Premierenwochenende von F1 TV war ein einziges Fiasko. Und wer mit Arthofer persönlich darüber sprechen wollte, wurde abgewimmelt. Auch eine Kommunikationsstrategie.
Liste der Beschwerden ist lang
Die Liste von Problemen, die User mit F1 TV hatten, liest sich endlos. Ein paar ausgewählte Twitter-Beispiele aus Deutschland:
- "Dass bei F1 TV nicht direkt alles rund läuft, habe ich mir schon gedacht. Aber dass es gar nicht läuft und nicht einmal eine Entschuldigung oder sonst was von der Formel 1 gekommen ist, finde ich eine absolute Frechheit."
- "Neben allen anderen Problemen: Ist die Bildqualität bei euch auch recht mies?"
- "Hauptmotivation für das Abo waren für mich die Rahmenrennen, die ich jetzt doch über andere Kanäle gucken muss."
- "Bei mir kommt die Fehlermeldung: 'You've reached the maximum number of concurrent streams on your account.' Obwohl ich nur mit einem Account angemeldet bin."
Wir aus der Redaktion, die wir für unser Team zu Hause ebenfalls mehrere Accounts gebucht haben, damit wir unsere Arbeit vernünftig erledigen können (schließlich war das dritte Freie Training bisher nicht live zu sehen), können all diese Beschwerden bestätigen. Und noch die eine oder andere aus eigener Erfahrung drauflegen. Ganz egal ob mit Windows-PC, Mac oder iPad (Safari) getestet.
So war es mir zum Beispiel unmöglich, die angebotenen Archivrennen zu sehen (zum Beispiel Spa-Francorchamps 1998), auf die ich mich ehrlich gesagt am meisten gefreut hatte. Denn beim Wechsel vom Live-Stream ins historische Archiv wurden Login und Passwort aus unerfindlichen Gründen noch einmal abgefragt - und wenn die Daten genervt erneut eingegeben waren, landete man unweigerlich wieder auf der Startseite statt beim Retro-Bild von 1998. Trotz mehrmaliger Versuche. Na super.
Schlechter Auftakt war noch das Beste
Im ersten Freien Training am Freitag lief der Stream aus unserer Redaktionssicht - und das mag je nach Region und individuellen Daten wie Plattform, Browser, etc. stark variiert haben - noch am besten. Von den ersten 90 Minuten der Session waren locker zehn problemlos zu sehen! Mit dem wohltuenden Kommentar der Kollegen von Sky Sports F1 in Großbritannien, die diesbezüglich RTL & Co. ganz locker in die Tasche stecken.
Aber von den darauffolgenden Trainings noch einmal zumindest zehn Minuten sehen zu wollen, war viel, viel, viel zu viel verlangt. Beim Rennen kapitulierte F1 TV gleich und verwies von vornherein darauf, dass man ja ohnehin später die Wiederholung anschauen kann. Also, liebe User, worüber regt ihr euch eigentlich auf? Wer will ein Formel-1-Rennen schon live sehen? War doch sonnig gestern. Da sucht man sich dann halt was Besseres, als Formel 1 zu schauen. Hecken schneiden oder so.
Zugegeben, auch unsere Website war in der Vergangenheit schon mal tot. Auch unsere beiden Live-Ticker ("Rennen live" und "Paddock live") haben schon mal gezickt. Der feine Unterschied ist: Wir knöpfen unseren Usern nicht 7,99 Euro pro Monat beziehungsweise 64,99 Euro pro Jahr ab. Unsere Portale Motorsport-Total.com, Formel1.de und de.motorsport.com gibt's - mit ein bisschen (manchmal zugegeben lästiger) Werbung - gratis.
Das ist nämlich ein bisschen so, als würden Sie im Supermarkt ein Kilo Weintrauben kaufen, dafür aber nur drei, vier Rosinen bekommen und von der Kassiererin auch noch gefragt werden, worüber Sie sich eigentlich aufregen. Sie würden wahrscheinlich kaum wieder in diesen Supermarkt zurückgehen, um ihr Geld dort zu lassen.
Nun zeigt die Formel 1 immerhin ein gewisses Maß an Einsicht bei dem Thema: "Uns ist bewusst, dass einige Abonnenten Kinderkrankheiten mit F1 TV Pro hatten, und wir arbeiten daran, die Situation zu beheben", lässt uns ein Sprecher ausrichten. "Wir untersuchen Möglichkeiten, wie wir die Abonnenten entschädigen können." Eine offizielle Stellungnahme soll es diese Woche geben. Immerhin.
Verständnis für die arme Digitalcrew
Nun habe ich allergrößtes Verständnis dafür, dass ein Digitalprojekt dieser Größenordnung nicht vom ersten Tag an perfekt funktioniert. Wenn Sie nur wüssten, wie oft wir schon Re-Launches oder technische Weiterentwicklungen unseres Content-Management-Systems verschoben haben! Es ist eine pragmatische Realität, dass Zielsetzungen in der IT selten eingehalten werden können. Und je größer das Projekt, desto seltener ein pünktlicher Start.
Insofern kein Vorwurf an die Herren Programmierer des Herrn Arthofer, die mit Sicherheit ihr Bestes tun, um die Bugs auszumerzen. Aber für ein gelungenes Projektmanagement spricht so ein Start wie der in Barcelona nicht. Der Shitstorm enttäuschter User ist gewaltig. Die Bewertungen von F1 TV fallen extrem negativ aus. Das macht neuen Usern, die sich bisher noch nicht dazu entschieden hatten, kein Lust auf ein Abo.
Ursprünglich war irgendwann einmal von einem Start in Melbourne die Rede. Daran konnte sich bei Liberty Media aber schon bald niemand mehr erinnern. Oder man wollte es nicht. Gott bewahre, dass man sich zumindest bis Barcelona Zeit gelassen hat! Es wäre wohl klug gewesen, noch länger zu warten. Oder eine noch smartere Idee umzusetzen, für die Liberty aber wahrscheinlich der Mut gefehlt hat.
Ich frage mich: Warum hat man die Beta-Tests nur mit einer Handvoll Usern unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt? Wäre es nicht viel intelligenter gewesen, nach einer kurzen Testphase mit beschränkter Personenzahl für die Entwickler F1 TV Pro für eine breite Öffentlichkeit aufzumachen, gratis, und tausende Beta-Tester zu bekommen, die emsig Feedback liefern, kostenlos Verbesserungsvorschläge einreichen und die Stabilität der Technik vom ersten Tag an realistisch testen?
Große Chance vertan, Dinge einmal anders zu machen
Wenn niemand etwas dafür gezahlt hätte, hätte sich hinterher auch keiner über ein stillstehendes Buffering oder andere technische Probleme beschwert. Sondern man hätte Liberty begeistert dafür applaudiert, die Fans in die Entwicklung des meisterwarteten Formel-1-Digitalprodukts aller Zeiten einzubinden.
Angenehmer Nebeneffekt: Zehntausende User hätten F1 TV kostenlos zumindest mal ausprobiert, was nach dem Fiasko des vergangenen Wochenendes eher nicht mehr der Fall sein wird. Kein Mensch will 64,99 Euro zahlen und dann nichts dafür bekommen.
Und wer F1 TV gratis getestet und sogar daran mitentwickelt hat, der würde dann, sobald das Tool stabil läuft, sicher auch bereitwillig zahlen. Das hätte man nur von Anfang an transparent so kommunizieren müssen. Vielleicht sogar noch mit einem symbolischen Rabatt für alle Beta-Tester, die wirklich Feedback geliefert hätten. Diese Chance wurde vertan.
So leid es mir für die Kollegen tut, denn ich kann ehrlich mit ihnen mitfühlen: Bislang gibt's für F1 TV Pro eine klare Sechs. Niemand hat verlangt, dass der Live-Stream vom ersten Tag an perfekt laufen muss. Das war bei anderen vergleichbaren Projekten schließlich nicht anders. Aber die Art und Weise, wie das am Barcelona-Wochenende gelaufen ist, war dann doch ein bisschen bitter.
Nun gibt's nur eine Möglichkeit, F1 TV keinen dauerhaften Schaden zuzufügen. Es reicht nicht, den Usern den Teilbetrag für Barcelona zurückzuerstatten. Dafür ist der Ärger bei manchen, die sonst nie wieder zurückkehren werden, viel zu groß. Sondern es muss der Preis für die komplette Saison rückerstattet werden. Die, die schon ein Abo haben, müssen es für 2018 gratis bekommen. Das wäre wahrscheinlich der einzige versöhnliche Akt, den die User jetzt akzeptieren würden.
Geduld des Publikums ist enden wollend
Die Formel 1 hat ein geduldiges Publikum. Aber man darf diese Geduld nicht überstrapazieren. Speziell auf dem deutschen Markt endet die Geduld der Fans meistens dort, wo sie bezahlen müssen. Liberty sollte klar sein, dass da gerade ein Spiel mit dem Feuer vonstattengeht.
Ich an Frank Arthofers Stelle würde jedenfalls lieber das (sicher auch nicht angenehme) Gespräch mit Sean Bratches suchen und um eine Aufstockung des geplanten Budgets bitten, um allen Abonnenten das Gratisangebot für 2018 zu machen und größeren Schaden abzuwenden. Denn die tobende Meute aufzuhetzen, darauf könnte ich gut und gern verzichten ...
Aber das ist nur meine Meinung.
PS: Mein Kollege Stefan Ziegler hat sich wie jeden Montag mit der Frage auseinandergesetzt, wer letzte Nacht am besten geschlafen hat. Das war seiner Meinung nach Max Verstappen. Warum, das können Sie jetzt in der Schwesternkolumne auf de.motorsport.com nachlesen!
Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:
Maurizio Arrivabene: Ferrari hatte im ersten Saisonviertel das beste Auto, aber nicht das beste Team. Anders ist nicht zu erklären, dass Sebastian Vettel 17 Punkte auf Lewis Hamilton fehlen, obwohl der keinen prickelnden Saisonstart hatte und gerade erst ins Rollen kommt. Defekt nach Motorwechsel bei Kimi Räikkönen, verpatzter Boxenstopp und schlechte Strategie bei Vettel: Wenn das so weitergeht, werden die (fast schon verstimmten) Rufe nach einem neuen Teamchef bald wieder lauter.
Romain Grosjean: So unglücklich sein Dreher hinter dem Safety-Car in Baku auch ausgesehen haben mag: Das kann mal passieren. Es ist die Häufung unnötiger Fehler, die Grosjean gerade angreifbar macht. Wäre seine Aktion am Start in Barcelona der erste Fauxpas 2018 gewesen, hätte keiner was gesagt. So aber fühlen sich viele an seine frühen Lotus-Jahre erinnert, als es eine Rennsperre und einen Psychologen brauchte, um ihn mental wieder in die richtige Spur zu bringen.
Ihr
Christian Nimmervoll
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