• 30. April 2018 · 05:15 Uhr

Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat

Die Red-Bull-Kollision von Baku: Warum Helmut Marko gutes Krisenmanagement betrieben hat, aber trotzdem die Schuldfrage endgültig klären muss

(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,

Baku 2018 war ein Grand Prix mit dutzenden Themen, und trotzdem redeten am Ende alle über Red Bull. Sogar Toto Wolff: "Ich schätze, alle sind bei Red Bull", grinste er zu Beginn seines üblichen Medienbriefings nach dem Rennen. Und zeigte sich neugierig: "Was haben die 'Bullen' gesagt? Hat jemand mit Helmut oder Christian geredet? Mit mir reden sie ja nie."

Ja, wir haben mit Helmut Marko und Christian Horner gesprochen, bloß: Wirklich viel gesagt haben sie nicht. Man scheint bei Red Bull aus Situationen wie Istanbul (Kollision Vettel-Webber) gelernt zu haben. War das Krisenmanagement damals die reinste Katastrophe, so drang gestern in Baku nicht ein unüberlegtes Wort nach außen.

Wir erinnern uns zurück an jenen denkwürdigen Grand Prix der Türkei 2010: Nach Sebastian Vettels waghalsigem Überholversuch, der spektakulär scheiterte und mit einem Stinkefinger endete, sahen zwar die meisten Experten die Schuld eher beim Deutschen. Doch Marko erklärte, anstatt die Wogen zu glätten, Mark Webber zum Schuldigen. Was danach folgte, war ein spannungsgeladener Stallkrieg, der nie wieder so war wie davor.

Dazu wird es nach Baku 2018 nicht kommen. Und trotzdem wird es Marko möglicherweise die eine oder andere schlaflose Nacht kosten, die Trümmer aufzuräumen, die in diesem denkwürdigen Grand Prix von Aserbaidschan angefallen sind.

Die Schlüsselfrage lautet: Wer ist schuld an der Kollision? Diese stimmig zu beantworten, fällt schwer. Das Urteil der Rennleitung, beide zu verwarnen und keine konkrete Strafe zu verteilen, ist aus Sicht des neutralen Schiedsrichters FIA sicher richtig. Red Bull hat mindestens 22 Punkte verloren. Das ist erst mal Strafe genug.

Und trotzdem müssen Marko und Horner intern sauber durchanalysieren, wer was falsch gemacht hat. Wäre ich an diesem Prozess beteiligt (was ich zum Glück nicht bin), würde ich sagen: Verstappens Hände sind ein bisschen schmutziger geworden als die von Ricciardo.

Erstens: Weil er nach seinen Kollisionen mit Hamilton in Bahrain und Vettel in China ohnehin schon angezählt war. Man hätte erwarten können, dass er sich in Aserbaidschan im Zweikampf etwas geläutert zeigen würde. Es spricht für den 20-Jährigen, dass er seine Aggressivität beibehalten hat - ich selbst habe das in meiner Montags-Kolumne nach Schanghai dringend empfohlen. Aber gerade gegen den eigenen Teamkollegen hätte er das Messer mal kurz aus dem Gebiss nehmen können.

Zweitens: Weil Verstappen noch beim Anbremsen die Spur gewechselt hat und sich damit erst vor Ricciardos Nase schob. Das ist nicht verboten. Die sogenannte "Anti-Verstappen-Regel", die einen späten Spurwechsel auf der Bremse verbietet, wurde im Oktober 2016 eingeführt - aber vor der Saison 2017 wieder abgeschafft. Aber wieder: Gerade gegen den eigenen Teamkollegen muss das nicht sein. Und schon gar nicht am Ende der längsten Geraden der Formel 1!

Drittens: Weil ich verstehen kann, dass Ricciardo unter dem Helm gekocht haben muss. Zuerst sammelt sich Frust darüber an, dass Verstappen auf Teufel komm raus Position verteidigt, obwohl er selbst viel schneller fahren könnte. Dann schreitet der Kommandostand nicht einmal ein, als es zur ersten kleinen Berührung zwischen den beiden kommt. Und am Ende überholt Ricciardo Verstappen - und fällt durch den Boxenstopp doch wieder hinter ihn zurück.

Der Sonnyboy muss gekocht haben, als er Verstappen nach dem Boxenstopp schon wieder vor der Nase hatte. So entspannt wie sein Renningenieur Simon Rennie ("Okay, let's do it again!") dürfte er das nicht gesehen haben. Und so ist es kein Wunder, dass er sich vor dem Anbremsen von Kurve 1 gedacht hat: "So mein lieber Junge, jetzt bist du fällig - komme, was wolle!" Denn, so ehrlich muss man beim Vorwurf an Verstappen schon sein: Auch Ricciardo hätte den Crash verhindern können.

Dass Marko öffentlich keine Schuld verteilt hat, spricht für ihn. Vielleicht wird er zum 75. Geburtstag (an dieser Stelle: Alles Gute!) noch weise. Doch er wird sich seinen Teil denken. Und ob er nach Baku noch einmal einen auf "good cop" macht und Verstappen wieder freundschaftlich den Arm um die Schulter legt, bleibt abzuwarten. Ich wäre jedenfalls sehr gern Mäuschen, wenn die Sache intern ausdiskutiert wird.

Red Bull ist jetzt am besten beraten, den ersten Ärger einmal verrauchen zu lassen. Es wäre wahrscheinlich völlig sinnlos, Verstappen und Ricciardo heute schon in Milton Keynes in einen Raum zu sperren und zu hoffen, dass sie ihre Probleme selbst aus der Welt schaffen. Emotion ist bei solchen Themen ein schlechter Berater. Und die Emotionen von Baku werden ein paar Tage brauchen, um zu verrauchen.

Aber in ein paar Tagen wird man die beiden zusammentrommeln müssen. Dann hatte jeder Zeit, sich die Replays anzuschauen und selbstkritisch zu erkennen, was alles falsch gemacht wurde. Vom anderen sowie von sich selbst. Es ist ein bisschen wie in einer Mann-Frau-Beziehung: Unmittelbar nach dem Streit trifft man häufig schlechte Entscheidungen. Schläft man hingegen einmal drüber, sieht man oft vieles entspannter und sachlicher.

Irgendwann allerdings wird der Punkt kommen, an dem Red Bull Farbe bekennen und sagen muss, wer nun schuld war an dem, was gestern in Baku passiert ist. Die Story, dass Verstappen und Ricciardo gleichermaßen verantwortlich sind, war gut fürs erste Krisenmanagement vor Ort. Aber auf lange Sicht werden wir Journalisten schon ein paar Details mehr verlangen. Auch wenn Marko das sicher als lästig empfindet.

Und noch eine Frage muss geklärt werden: Hätte der Kommandostand schon viel früher eingreifen und einfach festlegen sollen, dass Ricciardo an Verstappen vorbeigewunken wird, um Schlimmeres zu verhindern? Eine Forderung, die viele Schlaumeier nach dem gestrigen Rennen äußern. Ich nicht. Freies Racing ist das Herz und die Seele der Formel 1. Es ehrt Red Bull, dass man sich zu dieser DNA bekennt. Auch wenn's an Tagen wie gestern unglaublich schwierig sein muss.

Was in Baku passiert ist, muss Red Bull jetzt aufarbeiten. Das Ergebnis wird hoffentlich kein neuer Verhaltenskodex sein, der solche Duelle entschärft. Die Marke Red Bull ist nicht weltweit so hip geworden, weil sie dafür steht, Rad-an-Rad-Duelle mit bürokratischen Absprachen zu verhindern. Den beiden gestern so lange zugeschaut zu haben, ohne zu intervenieren, muss für Marko und Horner unglaublich viel Selbstdisziplin erfordert haben.

Es war aber richtig. Danke, Red Bull, für diese Philosophie! Und bitte, bitte, bitte: Klärt die Schuldfrage - aber macht ansonsten genauso weiter wie bisher! Die Marke wird dadurch viel mehr Ansehen gewinnen als durch die paar Punkte mehr, die es ohne solche Crashes zu gewinnen gäbe ...

Übrigens: Dass ich diesmal auch die Schwesternkolumne "Wer letzte Nacht am besten geschlafen hat" verfasst habe, die normalerweise aus der Feder meines Kollegen Stefan Ehlen kommt, hat nichts mit übertriebenem Narzissmus zu tun, sondern schlicht und einfach damit, dass dessen Zeitplan nach Baku zu eng gesteckt war, um auch noch die Kolumne zu schreiben. Das ist aber - da kann ich alle Nimmervoll-Hater (und davon gibt es viele!) beruhigen - kein Dauerzustand.

Wer sonst noch schlecht geschlafen hat:

Günther Steiner: Das Haas-Team hatte in den ersten vier Saisonrennen wahrscheinlich im Schnitt das viertbeste Auto, liegt aber nur an achter Stelle der Konstrukteurs-WM. Romain Grosjean hat vor Baku gefordert, dass sich das Team steigern muss, um endlich mit den "Big Boys" mitzuspielen, weil Haas 2018 endlich ein "Big-Boy-Car" habe - eine Kritik, die ihm gestern gehörig auf den Kopf gefallen ist.

Im Entwicklungsrennen wird Haas aufgrund der beschränkten Ressourcen nun aller Voraussicht nach Schritt für Schritt zurückfallen. Liegen gelassene Chancen wie Melbourne und Baku, die insgesamt fast 40 Punkte gekostet haben, tun deshalb doppelt weh.

Sebastian Vettel: Gefühlt hat der Ferrari-Star die ersten vier Saisonrennen dominiert, hätte es kaum besser laufen können. Und trotzdem kommt er mit vier Punkten Rückstand auf Lewis Hamilton zum Europa-Auftakt in Barcelona. Die Experten sind sich darüber einig, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Mercedes wieder aus eigener Kraft gewinnen kann. Da wäre ein Punktepolster hilfreich gewesen.

Für den Crash mit Verstappen in Schanghai konnte Vettel nichts. Für den vierten Platz gestern schon. Der Notausgang-Verbremser beim Restart war völlig überflüssig. Anstatt nach hinten gegen den drückenden Hamilton zu verteidigen, was angemessen gewesen wäre, wollte Vettel gegen Valtteri Bottas in Führung gehen. Ein klassischer Fall von Selbstüberschätzung.

Ihr
Christian Nimmervoll

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