Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Eigentlich wirkte Sebastian Vettel nach dem Podium in Monza überglücklich, aber nach Meinung unseres Chefredakteur hatte er dazu keinen Grund
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
der eine oder andere von Ihnen wird sich beim Lesen dieser Kolumne am Kopf kratzen. Sebastian Vettel soll letzte Nacht am schlechtesten geschlafen haben, wie bitte? Der Sebastian Vettel, der nach der Zieldurchfahrt in Monza die Tifosi-Atmosphäre im Autodromo Nazionale in vollen Zügen aufgesogen, der das Podium sichtlich genossen hat? Echt jetzt?
Ja, genau der.
Zugegeben, diese meine Kolumne ist heute eher im metaphorischen Sinne zu verstehen, denn dass Vettel wirklich schlecht geschlafen hat, glaube ich selbst nicht. Ich glaube sogar ganz im Gegenteil, dass er eigentlich einen recht schönen Abend bei Spaghetti alla Carbonara und einem Glas Rotwein hatte, mit sich und der Leistung des Ferrari-Teams einigermaßen zufrieden war.
"Ich bin vom Podium noch voller Adrenalin. Die Atmosphäre ist einfach umwerfend. Ihr könnt mich jetzt fragen, was ihr wollt, es ist mir ganz egal: Ihr werdet immer eine positive Antwort bekommen", beschrieb Vettel während der FIA-Pressekonferenz seinen Gemütszustand.
Vielleicht kam der Aufschlag auf den Boden der Realität ja erst ein paar Stunden später.
Sergio Marchionne, der alleroberste Ferrari-Boss, sah da schon etwas klarer: "Wir haben es einfach versaut. Das Set-up war falsch. Und wir haben die Strecke unterschätzt."
Das klingt eher nach einer realistischen Einordnung jener 31,846 Sekunden Rückstand, die Vettel partout nicht beunruhigen konnten.
Stimmt schon, die große Panik muss bei Ferrari jetzt nicht ausbrechen. Dass Mercedes auf der Motoren-Paradestrecke in Monza gewinnen würde, ist keine Überraschung. Das könnte in zwei Wochen in Singapur ganz anders aussehen. Zumal Ferrari im Gegensatz zu den Silberpfeilen noch ein Motorenupdate für den Rest der Saison im Köcher hat.
Aber dass Lewis Hamilton seine Drohung wahrgemacht, Spa und Monza gewonnen und damit als erster Fahrer der Saison 2017 zwei Rennen hintereinander für sich entschieden hat, das ist eine Ansage für die restlichen sieben Grands Prix.
Vom (überwiegend italienischen) Publikum wurde Hamilton übrigens ausgebuht. Naturgemäß. Wie er damit umgegangen ist, war souverän. Den Tifosi zu sagen, dass er klasse findet, wie sie hinter ihrem Team stehen. Und dass er gern der Bösewicht ist, der ihnen die Party versaut, weil er schließlich auch nur Weltmeister werden will.
Das klang ein bisschen nach: Hey, ich will es mir mit euch nicht versauen, denn vielleicht stehe ich eines Tages in einem roten Overall wieder hier.
Ausgerechnet beim Ferrari-Grand-Prix trat Hamilton damit - zumindest in meinen Augen - sympathischer auf als Ferrari selbst. Und meine Stammleser wissen, dass ich nicht akut gefährdet bin, Hamilton übermäßig sympathisch zu finden.
Aber die Scuderia tut sich keinen Gefallen damit, wie sie anno 2017 in der Öffentlichkeit auftritt. Dass Teamchef Maurizio Arrivabene und Co. für die (zumindest nicht italienischen) Medien kaum greifbar sind, damit haben wir uns inzwischen abgefunden.
Aber dass Präsident Marchionne seinen Vorgänger Luca di Montezemolo nicht nach Monza eingeladen hat, ausgerechnet am Wochenende des 70-jährigen Ferrari-Jubiläums, das ist kein besonders feiner Stil. Montezemolo ist ein elementarer Bestandteil der Ferrari-Erfolgsgeschichte, und es brauchte ein Zeitungsinterview, damit er ausdrücken konnte, wie gern er in Monza dabei gewesen wäre.
Das muss demütigend sein.
Ferrari ist noch lange nicht tot, und Vettel hat in der WM erst drei Punkte Rückstand. Mit Strecken wie Singapur, Sepang und Suzuka kommt jetzt ein Triple auf uns zu, bei dem er durchaus den Hattrick einfahren könnte. Dann sieht alles ganz anders aus. Aber Stand heute, Stand Montag nach Monza, hat Hamilton das Momentum auf seiner Seite.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich nehme Vettel schon ab, dass er sich über den dritten Platz gefreut hat. Ehrlich. Ich finde nur: Er hatte keinen Grund dafür.
Ihr
Christian Nimmervoll
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