Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Warum der Faustschlag von Toto Wolff auf subtile Art und Weise bedeutet, dass Mercedes seiner Nummer 2 Valtteri Bottas den WM-Titel nicht zutraut
(Motorsport-Total.com) - Liebe Leser,
mal ganz ehrlich: Als Lewis Hamilton zwei Runden vor Schluss acht Sekunden Vorsprung auf Valtteri Bottas hatte, hätten Sie da wirklich geglaubt, dass der ehrgeizige Dreifach-Champion seinen finnischen Teamkollegen vorbeiwinken würde?
Ich jedenfalls nicht.
Es könnte alles so schön sein. Hamilton, der große Sportsmann, der blumig davon spricht, dass er "auf die richtige Art und Weise" Weltmeister werden möchte. Toto Wolff, der "stolz" auf sein Team ist und von "Werten" redet, für die die Marke Mercedes steht. Und Bottas, der nur seinen verdienten dritten Platz zurückbekommen hat, den er beim "Überholverbot" auf dem Hungaroring sonst nie und nimmer an Hamilton verloren hätte.
Es gilt Beifall zu klatschen für Mercedes, denn andere Teams hätten das nicht so gehandhabt.
Aber die Sache hat einen Schönheitsfehler.
Und zwar nicht, dass Hamilton die drei Punkte am Saisonende vielleicht fehlen könnten. Das mag zwar so sein, ist aber nur der offensichtliche Kollateralschaden der silbernen Sportlichkeit. Vielmehr ist es die subtile Degradierung von Bottas, die zu erkennen man schon etwas genauer hinschauen muss und die den 27-jährigen Finnen vermutlich schlecht schlafen lässt.
Nur um eins klarzustellen: Ich ziehe den Hut davor, wie Mercedes die Stallorder beim Grand Prix von Ungarn gehandhabt hat. Hamilton die Chance zu geben, Jagd auf die Ferraris zu machen, ist nachvollziehbar. Zumal er um Welten schneller fahren konnte als Bottas. Und die Positionen danach wieder zu tauschen, ist ebenso "the right thing", wie die Engländer sagen. Chapeau!
Irritierend ist - zumindest aus Bottas' Sicht - eher, wie im Nachhinein mit dem Platztausch umgegangen wurde.
Was im Live-Bild nicht zu sehen war, aber von den 'Sky'-Kameras nachgereicht wurde: Als Hamilton in der letzten Kurve langsamer machte, um Bottas durchzulassen, knallte Toto Wolff erbost mit der Faust auf den Tisch. Das war nicht die Reaktion eines Mannes, der stolz darauf ist, was sein Team gerade gemacht hat.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich würde an seiner Stelle genauso reagieren, schließlich können die drei verschenkten Punkte tatsächlich in der Endabrechnung fehlen. Hauptgegner Ferrari nämlich pfeift auf Fair Play und setzt alles auf die Karte Vettel. Das wurde gestern offensichtlich, als Kimi Räikkönen an die Box geholt wurde, obwohl er noch draußen bleiben wollte. Hätte man auf den Finnen gehört, hätte der das Rennen gewonnen. Vor Vettel. Aber das wollte niemand.
Nur: Wolffs Reaktion und das anschließende Trauern um die drei Punkte suggeriert vor allem, dass es in den Augen der Mercedes-Führung nur einen einzigen WM-Kandidaten gibt, und der heißt Hamilton.
Dass Bottas nur 19 Punkte hinter Hamilton liegt, weniger als einen Sieg, und selbst noch Chancen auf den Titel hat, das scheinen die Herren in Silber völlig ausgeblendet zu haben. Zumindest haben sie es gestern mit keiner Silbe erwähnt. Schließlich hätte man das Fair Play auch so argumentieren können: Ja, Lewis könnten die drei Punkte am Saisonende fehlen - Valtteri aber auch!
An diese Möglichkeit scheint niemand auch nur im Entferntesten zu denken.
Ich wünsche Toto Wolff aufrichtig, dass das Fair Play belohnt wird. Es wäre schön, wenn in einer knallharten Welt wie der Formel 1 am Ende nicht der Kompromissloseste, sondern der Sportlichste gewinnt.
Aber dass die Sache in die Hose gehen kann, ist nicht von der Hand zu weisen.
Rückblende, Magny-Cours 1999: Es ist das siebte Rennen der Saison, und in der WM führt McLaren-Titelverteidiger Mika Häkkinen mit 34 Punkten vor den Ferrari-Stars Michael Schumacher (30) und Eddie Irvine (25). Irvine liegt an fünfter, Schumacher an sechster Stelle. Ferrari-Teamchef Jean Todt befiehlt die Stallorder: Schumacher soll Weltmeister, Schumacher muss Fünfter werden.
Hätte Ferrari den Punkt für Irvine nicht geopfert, wäre der Nordire am Ende Weltmeister geworden. Denn dann hätte ihm Schumacher beim Saisonfinale in Suzuka nur den zweiten Platz überlassen müssen, und der Champion hätte nicht Häkkinen, sondern Irvine geheißen. Für mich bis heute eine der unterrepräsentiertesten Facetten der Formel-1-Geschichte. Wahrscheinlich, weil insgeheim niemand wollte, dass Irvine den ersten Ferrari-Titel nach 21 Jahren holt.
Ich bin hundertprozentig der Meinung, dass am Ende des Jahres Hamilton die weitaus größere Chance hat als Bottas, gegen Vettel den Titel zu holen. Weil er einfach talentierter ist. Das darf Wolff als diplomatischer Chef, der alle motiviert halten muss, natürlich nicht so aussprechen. Aber in Wahrheit hat er das mit dem Faustschlag und den Aussagen danach getan.
Für Bottas steht damit im Grunde genommen fest: Auch wenn er jetzt im wahrscheinlich besten Auto der Formel 1 sitzt, scheint er ein unerwünschter Weltmeister zu sein. Ja, er ist wohl besser als die Herren Kovalainen oder Fisichella. Aber letztendlich wird sein Schicksal genau darauf hinauslaufen ...
Ihr
Christian Nimmervoll
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