Kolumne aus Melbourne: Liberty, abschauen, nachmachen!
Redakteur Dominik Sharaf darüber, wie die Australier aus ihrem Grand Prix "Schumania" ohne Schumi machen, von der ein Taxifahrer nichts weiß
(Motorsport-Total.com) - Lieber Leserinnen und Leser,
dass das Wasser in der Kloschüssel in Australien anders herum ablaufen würde als in der nördlichen Hemisphäre, ist ein urbanes Märchen. Alles ist doch nicht anders in Down Under. Manches schon. Die Art und Weise, wie am anderen Ende der Welt ein Grand Prix als ein Event gelebt wird, gehört dazu. Das Rennen in Melbourne sollte dem neuen Formel-1-Mehrheitseigner Liberty Media bei seinen Bestrebungen, überall auf der Welt für höhere Zuschauerzahlen zu sorgen, zu denken geben.
Wer unter der Woche anreist, kann nicht übersehen, dass die Königsklasse in der Stadt ist. Erste Leuchtreklame blinkt am Flughafen, die Touristeninfo im Stadtzentrum ist mit Formel-1-Bannern beklebt, auf dem Vorplatz des berühmten Bahnhofs Flinders Street gibt es Public Viewing, überall erspäht man die dunkelblauen Red-Bull-Hemden und Kappen mit der Startnummer 3. Klar, Daniel Ricciardo ist auf dem fünften Kontinent der Liebling der Massen. Er wirbt für einen großen Autohändler und strahlt mit seinem Colgate-Grinsen von den Titelseiten der Tageszeitungen.
"Dan fires up" - also "Dan dreht auf" - heißt es am Samstagmorgen in der Schlagzeile der Herald Sun nebst eines großflächigen Fotos. Verfrüht gejubelt, wie sich herausstellt. Doch es tut der Stimmung keinen Abbruch, dass Ricciardo sein Auto im Qualifying in den Reifenstapeln versenkt. Die Menschen strömen auch am Sonntag in den Albert Park - um ihren Helden eine halbe Runde lang zu sehen, ehe er abstellen und im Bergungstruck Platz nehmen muss. Es sind keineswegs nur die eingefleischten Motorsportenthusiasten oder die Eventtouristen, die es an die Rennstrecke zieht.
Man darf sich keine Illusionen machen: Auch Melbourne defizitär
Eine zufällige Begegnung in der Tram zur Anlage - die für Grand-Prix-Besucher kostenlos ist - ist der Beweis. Drei Halbstarke entdecken die Media-Akkreditierung um meinen Hals und wollen wissen, wo sie den besten Blick erhaschen könnten. "Wir haben keine Sitzplätze. Wir haben uns einfach ein Ground-Ticket gekauft, um dabei zu sein, sonst interessieren wir uns nicht für Formel 1", erklären sie mir. Damit haben sie Zutritt zur Anlage, um sich ein Plätzchen auf einer Grünfläche zu suchen und zu gucken. Wer früh dran ist, ergattert so sogar die bessere Aussicht als von einem Sitz.
Billig ist der Spaß nicht: 99 Australische Dollar (umgerechnet rund 72 Euro) für den Sonntag. Doch es gibt Neugierige, die den Preis bezahlen, auch wenn sie nicht in Geld schwimmen. Klar: Die Teenager aus der Bahn sind eine Momentaufnahme. Sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Promoter um jeden Fan kämpfen muss und das Rennen nur existiert, weil die öffentliche Hand Millionen in die defizitäre Veranstaltung pumpt - was vielen Steuerzahlern ein Dorn im Auge ist.
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Trotzdem fühlt es sich für mich ein bisschen an wie die "Schumania" in Deutschland - damals, als meine Freunde und ich unser Taschengeld für die günstigsten Tickets und ein Autogramm von Damon Hill ausgegeben hätten, wenn die Rennstrecken nicht so weit entfernt gewesen wären, dass es ein Auto gebraucht hätte. Der entscheidende Unterschied: Australien kennt keinen Personenkult. Lokalmatador Ricciardo gewinnt keine WM-Titel. Es gibt auch nicht die Konzerte der Rolling Stones und Co. hinter den Tribünen, die sich vermeintliche Retter der Formel 1 so sehr wünschen.
Glückseligkeit? Im Paddock sind nicht alle so happy
Zweifellos: Die Australier übertreiben es mit der Euphorie, als sie die Tore zur Strecke noch während der Auslaufrunde öffnen. Es ist ein gefährlicher Moment für die einströmenden Zuschauer und die Formel-1-Piloten, aber nicht gewollt, sondern "menschliches Versagen", wie es heißt. Auch wenn die Bilder jubelnder Massen durchaus zu dem passen, was Liberty Media sich wünscht.
Denn es geht um das Event. Um das Erlebnis Motorsport, das Sportfans mit jeder Menge Rahmenrennen geboten wird, ohne dafür eine halbe Weltreise auf sich nehmen zu müssen. Eines Abends auf dem Rückweg zum Hotel fragt ein Taxifahrer, wie der australische Pilot hieße, der jetzt für Red Bull fahren würde: "Mark Webber, oder?" Nicht jeder lebt die Formel 1 im Land von Rugby, Aussie Rules Football und Cricket. Ich muss aber noch mehr schmunzeln, als er entschuldigend anfügt: "Bei uns ist die Formel 1 eben nicht so wahnsinnig beliebt wie bei euch in Europa!" Wie er sich täuscht.
So speziell das Drumherum in Melbourne ist, so gewöhnlich ist das, was im Paddock abspielt. Witzig, dass der Ausdruck in australischem Englisch "Viehweide" bedeutet und manchmal für hochgezogene Augenbrauen sorgt. Viel Grün gibt es im Fahrerlager tatsächlich. Es hat nichts mit den Asphaltwüsten an anderen Kursen zu tun. Der Albert Park ist auch am Grand-Prix-Wochenende ein Park mit Rasen, Wanderwegen, Ausblick auf die Skyline und berühmten schwarzen Schwänen.
Die Australian Open - der Tennis-Grand-Slam, der einen Steinwurf von der Rennstrecke entfernt stattfindet - werden der "Happy Slam" genannt. Wirklich glücklich, aus Europas Kälte und in die Sonne Australiens zu kommen, wirken in der Formel 1 (abgesehen von einigen Journalistenkollegen und mir) nur wenige. Eher herrscht eine nervöse Grundstimmung vor der ersten Standortbestimmung des Jahres, zu der sich aber nach Rennende am Sonntag etwas Erleichterung mischt - zumindest bei denjenigen, die sich keine Sorgen machen müssen, ein Katastrophenjahr zu erleben.
Eine spannende Saison 2017 und einen "G'day", wie die Australier sagen, wünscht
Dominik Sharaf