Kolumne: Zu viel Sicherheit zerstört die Formel 1
Redakteur Dieter Rencken meint: Im Schatten des Prozesses um den Unfall von Jules Bianchi droht sich die Formel 1 durch zu viel Vorsicht selbst zu schaden
(Motorsport-Total.com) - Am vergangenen Sonntag war es ein Jahr her, seitdem Jules Bianchi gestorben ist. Neun Monate lang hatte er überlebt, nachdem er 2014 beim Japan-Grand-Prix beim Aufprall auf ein Bergungsfahrzeug einer Beschleunigen von 254 g ausgesetzt gewesen war. Nachdem Taifun Phanfone, ein tropischer Wirbelsturm der Kategorie eins an diesem Sonntagmorgen die japanische Ostküste und damit die Rennstrecke von Suzuka getroffen hatte, fand das Rennen bei entsetzlichen Bedingungen statt.
Der Franzose, Enkel des Sportwagen-Fahrers Mauro, der sich bei einem Rennunfall schwere Verbrennungen zugezogen hatte, und Großneffe des Formel-1-Fahrers und Le-Mans-Siegers Lucien, der bei einem Sportwagen-Test starb, kam an der gleichen Stelle von der Strecke ab, an der sich eine Runde zuvor Adrian Sutil gedreht hatte. Sein Marussia prallte genau in den Traktor, der mit der Bergung von Sutils Sauber beschäftigt war - obwohl doppelte gelbe Flaggen geschwenkt wurden.
Nach diesem Zwischenfall wurden Fragen aufgeworfen: Warum hatte sich der Rennveranstalter (ein Tochterunternehmen der im Honda-Besitz befindlichen Strecke) geweigert, den Rennstart vorzuziehen? Wobei das keine Garantie für besseres Wetter gewesen wäre, denn es war vorhergesagt, dass der Sturm Japan erst am Montag trifft. Und warum war der ranghöchste offizielle Vertreter des Formula One Managements vor Ort Pasquale Lattuneddu, der auch gerne "Sheriff des Fahrerlagers" genannt wird?
Der Tod von Jules Bianchi und seine Folgen
Tatsache ist: Honda Mobilityland fürchtete Schadensersatzforderungen von Fans, die es bei einem vorverlegten Start nicht rechtzeitig zur Rennstrecke geschafft hätten. Außerdem werden TV-Zeiten und Satellitenleitungen Monate im Voraus gebucht und können nicht einfach kurzfristig geändert werden. Auch war es nicht das erste Mal, dass Lattuneddu die Formel 1 vor Ort vertrat, und bisher hatte es nie Probleme gegeben.
Fotostrecke: Die Karriere von Jules Bianchi
Jules Bianchi wird am 3. August 1989 in Nizza geboren. Der Spross einer Rennfahrerfamilie (Großonkel Lucien gewann 1968 die 24 Stunden von Le Mans und fuhr im selben Jahr beim Formel-1-Grand-Prix von Monaco als Dritter aufs Podium) zeigt schon in jungen Jahren, dass auch er Benzin im Blut hat. Fotostrecke
Quellen zur Folge gibt es eine Vereinbarung zwischen dem FOM als Inhaber der kommerziellen Rechte und der FIA als Sportbehörde, die dem Inhaber der kommerziellen Rechte erlaubt, in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Veranstalter die Startzeit festzulegen - sofern alle Sicherheitsstandards eingehalten werden. Darauf hatte die FIA also keinerlei Einfluss (abgesehen von Sicherheitsbedenken). Die Frage, ob nach dem Abflug von Sutil das Safety-Car oder doppelte gelbe Flaggen notwendig waren, wird durch diese Definition geklärt:
Doppelt geschwenkte gelbe Flaggen an einem Posten signalisieren eine große Gefahr. Die Fahrer müssen verlangsamen und jederzeit zum Anhalten bereit sein. Überholen ist verboten, es sei denn, der Fahrer ist überrundet.
War nur Bianchi selbst an seinem Unfall Schuld?
Das Rennen war hinter dem Safety-Car gestartet und wegen der entsetzlichen Bedingungen nach zwei Runden abgebrochen worden. Erst nachdem sich das Wetter gebessert hatte, erfolgte 20 Minuten später der Neustart. Die zweite Rote Flagge gab es - diesmal aus gutem Grund - in Runde 46 nach dem Unfall von Bianchi.
Nachdem er zur weiteren Behandlung in sein Heimatland Frankreich verlegt worden war, erlag Bianchi am 17. Juli 2015 in einem Krankenhaus in Nizza seinen Hirnverletzungen. In einem 396-seitigen Bericht der Untersuchungskommission der FIA kommen die Ermittler zu dem Schluss, Bianchi habe vor dem Unfall "nicht ausreichend verzögert, bevor er die Kontrolle verlor."
Dennoch wurde die FIA nach dem Unfall aktiv und stellte mit dem Konzept des virtuellen Safety-Cars Pläne für ein Tempolimit unter gelber Flagge vor. Außerdem wurde am Ende des Jahres eine Regel erlassen, nach der zwischen dem Rennstart und dem Sonnenuntergang mindestens vier Stunden liegen müssen. Eine Ausnahme davon ist nur möglich, wenn die Rennen als Dämmerungs- oder Nachtrennen deklariert sind und auf einer Strecke mit ausreichender Beleuchtung stattfinden. Diese Regel hatte auf fünf Rennen unmittelbare Auswirkungen.
FIA zittert nach Klage der Bianchi-Familie
Im Mai dieses Jahres gab die Bianchi-Familie am Rande des Monaco-Grand-Prix bekannt, dass sie rechtliche Schritte gegen die FIA, das FOM und Marussia einleitet. Das letztgenannte Unternehmen ist jedoch erloschen, nachdem das Team in Folge des Unfalls in die Insolvenz ging und abgewickelt wurde.
Julian Chamberlayne, der Anwalt, der die Familie Bianchi vertritt, sagte anlässlich der Klageerhebung: "Jules Bianchis Tod hätte vermieden werden können. Der Untersuchungsbericht der FIA enthält zwar einige Empfehlungen, wie die Sicherheit in der Formel 1 verbessert werden kann, versäumt aber die Fehler zu benennen, die zu Jules' Tod geführt haben. Es war für die Familie Bianchi überraschend und quälend, dass die FIA zwar ihre Schlüsse zog und Faktoren erkannte, aber dennoch Jules die alleinige Schuld gibt. Die Familie Bianchi hofft, dass im Rahmen der Verfahren die Beteiligten Antworten liefern und die Verantwortung für etwaige Fehler übernehmen."
Vom Trio der Angeklagten ist die FIA am meisten in Gefahr. Während die FOM in jedem Jahr Milliarden verdient und Marussia als Manor neu aufgestellt wurde, ist die FIA eine gemeinnützige Organisation mit begrenzten Einnahmen.
Langeweile statt Sepktakel
Warum nun also fast zwei Jahre nach dem Unfall und zwölf Monate nach dem tragischen Tod dieses talentierten Fahrers diese Zusammenfassung? Weil der Start hinter dem Safety-Car beim Grand Prix in Silverstone unmittelbar damit im Zusammenhang steht.
Seit Monaten hatte die Strecke auf das sportliche Highlight des Jahres hingearbeitet und nahezu jeden Quadratzentimeter zu Preisen verkauft, die den Rivalen im reichen Monaco und Singapur die Tränen in die Augen treiben würden. Auch um die TV-Zuschauer wurde gebuhlt, denn die Formel 1 stand nicht nur wie in jedem Jahr in Konkurrenz zu Wimbledon, sondern auch zum Fußball-EM-Finale, das am Abend stattfand.
Eine Woche nach der Kollision zwischen Nico Rosberg und Lewis Hamilton in der letzten Runde des Österreich-Grand-Prix, schossen die Erwartungen auf ein tolles Rennen Großbritannien in die Höhe: Der Kampf zwischen dem Deutsche und dem Brite, die für den selben deutschen Hersteller fahren, der seine Formel-1-Autos um die Ecke in Brackley und die Motoren in Brixworth baut. Doch dann zog 15 Minuten vor dem Start ein typisch britischer Sommerregen über die Rennstrecke.
Was der Safety-Car-Start mit dem Bianchi-Verfahren zu tun hat
Als der Regen zunahm, murmelte ein Offizieller: "Safety-Car-Start." Ernsthaft? Warum? Wegen einiger Regentropfen, die möglicherweise bis zum Start schon wieder verschwunden sind? "Vergiss nicht, dass die FIA verklagt wird..."
Gleichzeitig sah man in der Startaufstellung einen aufgeregten Felipe Massa - seit seinem Unfall 2009, als er von einer Sprungfeder getroffen wurde, die sich vom Auto von Ruben Barrichello gelöst hatte, eine Stimme, der man beim Thema Sicherheit Gehör schenkt. Als im TV-Bild zu sehen war, wie der Brasilianer zum Himmel zeigte und mit FIA-Präsident Jean Todt sprach, meinte der besagte Insider gleich: "Das wird auch nicht gerade helfen."
Es geht hier nicht darum, ob Massa einen Safety-Car-Start gefordert hat oder nicht. Diese Entscheidung hätte der pragmatische Todt zweifellos seinem Rennleiter überlassen. Tatsache ist jedoch, dass die Fahrer immer öfter beim Anblick des kleinsten Regentropfens den Start hinter dem Safety-Car fordern. Es scheint, als sei die ältere Generation am lautesten, die zwar weiterhin ihr Geld verdienen will, aber nicht mehr bereit ist, die Risiken eines Formel-1-Stars einzugehen.
Da Tests heutzutage begrenzt sind und die Autos immer komplexer werden, ist die ältere Generation gefordert. Da die Laufzeit von Motoren und Getrieben verlängert wurde, wird bei nassen Bedingungen nur noch wenig gefahren. Dadurch fehlt den Fahrern nicht nur das Training im Nassen, sondern sie sind auch das Risiko nicht mehr gewohnt.
Während die Welt zusah und mit angehaltenem Atem auf das Spektakel wartete, wie 22.000 PS auf die erste Kurve zurasen, zeigten die TV-Bilder die fortschrittlichsten Autos der Welt, wie sie fünf Runden lang hinter dem silbernen Safety-Car herfuhren - obwohl der Regen vor dem Rennstart aufgehört hatte. An einem Tag, an dem die Formel 1 eine gute Show hätte liefern müssen, hätte es nicht schlimmer kommen können.
Vor diesem Hintergrund wirkt die Erklärung, mit der die Fahrervereinigung GPDA, in der die meisten älteren Fahrer Mitglied sind, im April den aktuellen Zustand der Formel 1 kritisiert hatte, geradezu ironisch:"Die Formel 1 wird derzeit durch ein weltweit schwieriges wirtschaftliches Umfeld, ein verändertes Verhalten von Fans und Konsumenten sowie durch grundsätzliche Veränderungen in der TV- und Medienlandschaft herausgefordert. Daher ist es entscheidend, dass die Führungskräfte des Sports kluge und wohl durchdachte Anpassungen vornehmen."
Motorsport ohne Risiko ist nicht vorstellbar
Es stimmt, in einigen Kurven stand Wasser, aber mit ein oder zwei zusätzlichen Aufwärmrunden hätten sich die Fahrer, welche die Formel 1 in besagter Erklärung als "schnellsten Rennwagen der besten Teams auf den coolsten Rennstrecken gegen die besten Fahrer der Welt" bezeichnet hatten, auf die Bedingungen einstellen und ihre Arbeit erledigen müssen.
Das Leben ist voller Gefahren. Dessen muss sich jeder Fahrer und auch seine Familie ab dem ersten Schritt im Motorsport bewusst sein - und die Bianchis erst recht. Fahrer (und/oder ihre Eltern) werden im Laufe ihrer Karriere immer wieder an diese Gefahren erinnern und werden über sie belehrt, wenn sie eine neue Lizenz beantragen. Trotzdem unterschreiben sie. Ihr Lohn ist es, reinrassige Rennwagen im Angesicht schwerer Konsequenzen am absoluten Limit zu bewegen.
Das Risiko zu minimieren ist löblich. Es vollkommen abzuschaffen ist inakzeptabel, denn damit würde man den Kern dieses tollen Sports auslöschen - wie diese fünf unerträglich langsamen Runden hinter dem Safety-Car zeigten, nach denen die Fahrer direkt auf Intermediate-Reifen wechselten.
Auch Halo ist kein Allheilmittel
Den Rechtsstreit muss man auch bei der Diskussion um Halo (im übrigen eine völlig Fehlbezeichnung, da das Wort eigentlich Heiligenschein bedeutet) im Hinterkopf haben, das im nächsten Jahr eingeführt werden könnte, obwohl nahezu alle Fans, die meisten Teamchefs und auch die Fahrer wegen der Sichtbehinderungen und der Ästhetik gegen die Vorrichtung sind, welche Kopfverletzungen reduzieren soll.
Diese Vorrichtung hätte den armen Jules nicht gerettet. Es ist sogar fraglich, ob ein gepanzertes Cockpit diesen Kräften standgehalten hätte. Auch die Unfälle von Ayrton Senna, Roland Ratzenberger, Riccardo Paletti, Gilles Villeneuve oder Ronnie Peterson (das sind alle Fahrer, die seit 1978 bei Formel-1-Rennen ums Leben kamen), wären mit Halo wahrscheinlich nicht anders ausgegangen.
Für Fahrer, die sich nach der Sicherheit geschlossener Cockpits sehnen, gibt es immer noch die Langstrecken-Weltmeisterschaft. Wer so etwas äußert, wird aber leicht als herzlos und politisch inkorrekt bezeichnet - und das obwohl immer mehr Zuschauer wegen der bevormundenden Eimischung in der Königsklasse abschalten. Immerhin ein Sport, den sich einst selbst Ernest Hemingway ansah, und der ihm ähnliche Adrenalinstöße versetzte wie Stierkampf und Bergsteigen. Der Rest, so sagt er, seien "bloß Spiele".
Sicherheits-Fanatismus kann die Formel 1 zerstören
Über Sicherheit, so heißt es in Motorsport-Kreisen oft, könne man nicht verhandeln. Aber das Risiko liegt nach übereinstimmender Meinung nun einmal in der Natur der Sache und ist immer ein Kompromiss. Es wäre natürlich unverantwortlich wenn man zuließe, dass wie in den 1960er-Jahren auf Strecken gefahren wird, an denen links und rechts Bäume stehen. Gepanzerte Cockpits sind aber auch keine Option.
Letztlich ist es eine Frage der Balance: Zwischen Ressourcen, Technologie, Spektakel, Ästhetik, Reinheit des Sports, menschlicher Herausforderung und nicht zuletzt Mut und Talent. Den Mut, besser als die anderen zu sein, indem man seine herausragenden Talente auch zum Einsatz bringt. Man wird den besten Fahrern der Welt nicht gerecht, wenn man ihnen diese Möglichkeit nimmt. Den Fans hingegen nimmt man damit ein fantastisches Spektakel.
Und diese Balance stimmt nicht mehr und gerät zunehmend außer Kontrolle. In Zeiten sinkender Einschaltquoten könnte diese Prozess die Formel 1 zerstören. Offen gesagt wird die Formel 1 nicht mehr in einem Atemzug mit Extremsportarten genannt, sondern muss sich an Sonntagen hinter Tennis und Fußball verstecken. Das laufende Verfahren und die möglichen Folgen werden der Meisterschaft noch weiter schaden.