Gary Anderson: Die Formel 1 hat ein visuelles Problem
Schnelle Autos, die nicht schnell wirken und Helden, die nicht mehr Held sein dürfen - Experte Gary Anderson über einige Mängel in der Formel 1 des Jahrgangs 2016
(Motorsport-Total.com) - Der Grand Prix von Großbritannien ist für mich immer eine perfekte Gelegenheit, um mal zu schauen, ob die Formel-1-Autos auf der Strecke wirklich wie die absolute Spitze des Motorsports wirken. Gleichzeitig kann man in Ruhe überlegen, ob die Änderungen zum kommenden Jahr wirklich das bewirken werden, was sich der zahlende Zuschauer wünscht.
Als ich am Freitag das Freie Training von der Terrasse des BRDC mit Blick auf die Brooklands-Kurve verfolgte, war das für mich eine der seltenen Gelegenheiten, mal das Gefühl von einem Fan auf der Tribüne zu haben. Was mir sofort auffiel: Die Jungs hinter dem Steuer - Lewis Hamilton, Sebastian Vettel, Nico Rosberg, Daniel Ricciardo und die anderen - sollten Helden sein. Die Formel 1 von heute verhindert aber, dass dies auch so rüberkommt.
Brooklands ist eine spektakuläre, flüssige Linkskurve, bei der man gleichzeitig bremsen und einlenken muss. Die Autos kommen dort sehr schnell an, auf der Bremse wirken bis zu 5,5g. Da geht große Last auf die Vorderreifen. Mit frischen Reifen, recht leerem Tank und einem angestachelten Fahrer geht es in der Mitte der Kurve nur um den Grip an der Vorderachse. Das ist der limitierende Faktor.
Wenn die Lastverschiebung abgeschlossen ist und man eingelenkt hat, dann muss man es durchziehen. Die Unterschiede zwischen den Topautos und den hinteren Kandidaten wird genau dadurch deutlich, wobei die richtig guten Autos so ein ganz bisschen die Neigung zum Untersteuern haben. Es ist dabei wirklich egal, wie gut der Fahrer ist. Die Leistung ist durch Parameter des Fahrzeuges diktiert.
Darstellung von Leistung: Technologie siegt über Fahrer
Die heutigen Autos sind großartige Ingenieurskunst. Es gab viele Diskussionen um die Lautstärke der Motoren. Ich finde, dass wir aktuell ein akzeptables Level haben. Es ist laut genug, um es hören und genießen zu können. Die Autos haben auch ein tolles Leistungsgewicht, die Power, die sie aus dem Benzin holen, die Effizienz - alles großartig. Aber genau deswegen hat die Formel 1 ein visuelles Problem.
Ich habe auf die Fans geschaut, die in Luffield auf der Tribüne waren. Ich habe mich gefragt, was sie nun davon haben. Vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Reifenregeln sieht man nur ganz wenige wirklich schnelle Runden pro Fahrer. Die Autos sind technologisch so weit entwickelt, dass für den Fahrer eigentlich kaum noch Platz ist - und das ist ein bisschen schade.
Von außen konnte man im Training sofort sehen, dass Mercedes am schnellsten ist, dahinter Red Bull und Ferrari, dann der Rest. Das hätte jeder vorhersagen können, auch ohne nach Silverstone zu kommen. Die Tage von meckernden Fahrern und großen Chancen sind vorbei. Heutzutage geht es nur noch um kleine Anpassungen bei der Balance und ansonsten um das Optimieren der Systeme. Der Fahrer hat nur absolut begrenzten Einfluss auf die Performance.
Fahrstil erkennen: Was macht denn den Unterschied aus?
Hamilton und Rosberg sind da ein gutes Beispiel. Auch wenn wir Nico am Nachmittag wegen des Wasserlecks nicht gesehen haben, so reichte doch das erste Training, um die Unterschiede im Fahrstil zu erkennen. Hamilton bremst tiefer in die Kurven, Rosberg bringt die Verzögerung zuerst zu Ende und lenkt dann erst ein. Dadurch geben sie unterschiedlich viel Last auf die Front. Das kann von Strecke zu Strecke zu gewissen Leistungsverschiebungen zwischen den beiden führen.
Das große Problem dabei ist, dass solche Unterschiede für Fans kaum zu erkennen sind. Sogar dann nicht, wenn sie derart gravierend sind, dass sie über Pole-Position und Platz zwei entscheiden. Wollen die Zuschauer so etwas tatsächlich? Ich würde nein sagen. Man will seinen Helden beißen sehen, ihn bei dem Versuch, noch schneller zu sein, wirklich auf der Klinge tanzen sehen. Der schnellste Fahrer sollte auch schnell wirken.
All diese Piloten sind außerordentlich begabt - gar keine Frage. Es sind bestimmt ein Dutzend Fahrer darunter, die tatsächlich in diese Riege der 22 besten Piloten der Welt gehören. Und die anderen sind auch sehr gut. Sie können es den Fans nur nicht wirklich zeigen. Dass Fahrer keine Maschinen, sondern Menschen sind, wird gerade bei der Rivalität der Mercedes-Jungs deutlich.
Mercedes-Management handelt nicht im Sinne der Fans
Wir lieben es doch, wenn sich Rosberg und Hamilton hart bekämpfen. Wir hassen es, wenn sie zusammenkrachen - zumindest wenn es gleich nach dem Start passiert. Aber ich frage mich beim Blick auf das Management, was man dort eigentlich erwartet. Die beiden kämpfen seit zweieinhalb Jahren gegeneinander um WM-Titel. Da sind Kollisionen doch unausweichlich.
Natürlich müssen die beiden respektvoll miteinander umgehen, aber es ist doch gut, wenn auch Rosberg mal seine Muskeln spielen lässt. Dass das Mercedes-Management dann quasi androht, dass einer von ihnen mal für ein Rennen suspendiert werden könnte, ist für die Öffentlichkeit alles andere als gut. Das ist sogar totaler Blödsinn.
Fotostrecke: GP Großbritannien, Highlights 2016
Lewis Hamilton Superstar: Der Mercedes-Fahrer gewinnt nach 2008, 2014 und 2015 zum vierten Mal in Silverstone - und lässt sich crowdsurfend von 140.000 Zuschauern feiern! Gutes Omen: In jedem Jahr, in dem er sein Heimrennen gewonnen hat, wurde er später auch Weltmeister. Auf Nico Rosberg fehlt nur noch ein Punkt. Fotostrecke
Und dann kommt es noch schlimmer. Niki Lauda gibt Kommentare ab über Lewis Hamilton, der angeblich mit voller Absicht ein Zimmer zertrümmert, anschließend stellt das Team die Sache mit einer Presseaussendung klar. Das ist doch Wahnsinn, was das Management da macht. Für viele Fans wäre es toll, wenn Lewis mal gegen irgendetwas tritt oder seinen Helm wegfeuert. Diese Emotionen wollen wir doch, bekommen sie aber niemals zu sehen.
Nach dem Rennen in Österreich meinte die Teamleitung, sie würden das sacken lassen und ein paar Tage später mit den Fahrern besprechen. Ehrlich: Als Hamilton und Rosberg in Spielberg zu Kurve zwei kamen, da waren sie für einen Hauch mehr als eine Sekunde auf der Bremse. Da hast du doch keine Chance, überhaupt noch nachzudenken. Da schaust du keine Wiederholungen, trinkst keinen Tee und analysierst es auch nicht. Das passiert alles im Hier und Jetzt.
Regeln 2017: Ein gewaltiger Schuss ins Knie?
Man kann die Fahrer doch nicht für Geld von dem befreien, was sie sind - nämlich Rennfahrer. Die Fans wollen sie als solche sehen. Da geht eben manchmal dabei etwas schief. Ich verstehe ja, dass Mercedes drei Kollisionen in fünf Rennen - wenn man das beim Start in Kanada zu Spanien und Österreich dazu zählt - für zu viel hält. Die Öffentlichkeit will aber nur eines: Sie gegeneinander Rennen fahren sehen.
Man will, dass die Fahrer echte Helden sind - und genau das sollen sie doch bitteschön auch zeigen. Auch die Fahrer hätten das gern. Aber sie können halt nicht viel tun, denn sie müssen die Autos immer so fahren, dass die Aerodynamik auch funktioniert. Man darf nicht quer durch die Kurven, auch wenn die Fans es lieben würden, weil man dann nicht mehr schnell ist.
Und jetzt kommen die neuen Regeln für das kommende Jahr. Die breiteren Reifen werden mehr mechanischen Grip bringen, was sehr gut ist. Das müsste aber Hand in Hand mit einer Reduzierung des Abtriebs gehen. Aber was tut man? Man erhöht den Abtrieb noch weiter. Das zusammen führt dann dazu, dass die Autos ein paar Sekunden schneller fahren. Wird es aber dadurch auch spektakulärer? Nein.
Noch einmal: Mir geht es darum, dass die Autos beim Fahrern wieder aufregender aussehen. Im Freitagstraining sah es auf frischen Reifen ganz in Ordnung aus. Den Unterschied zwischen einer normalen Fahrt und einer, die drei Sekunden langsamer ist, kann man aber mit dem bloßen Auge gar nicht erkennen. Die Autos sehen dann spektakulär aus, wenn etwas schiefgeht. Das einzige, was in Brooklands vor meinen Augen schiefging, war, dass ein einziger Toro Rosso mal etwas weit hinaus kam.
Sollen Datenaufzeichnungen unter Verschluss kommen?
Die Fans wollen, dass die Autos schnell aussehen. Das heißt, dass sie sich bewegen müssen. Und es braucht ein wenig Magie hinter dem Lenkrad, um wirklich gute Rundenzeiten zu fahren. Was die Fans nicht wollen, ist, dass die schnellste Runde im Qualifying nur deshalb zustande kommt, weil es ein spezielles Betriebsprogramm für den Motor oder extra Einstellungen für eine schnelle Runde gibt, die das Tempo optimal aus dem Paket kitzeln. Wie soll man dabei Helden sehen?
In Silverstone war es klar, dass im Training am Vormittag auf noch grüner Strecke und wenig Zeit für Feintuning der Fahrzeuge die interessanteren Dinge zu sehen sind. Es war viel besser zu sehen, wie sich die Autos verhalten. Zum Nachmittag hatte jedes Team dann einen großen Schritt gemacht. Dadurch wurde es viel weniger dramatisch beim Anschauen.
Was kann man dagegen tun? Man kann nicht so tun, als sei die Datenaufzeichnung nie erfunden worden. Man braucht auch Sicherheitswarnungen und so etwas. Es gibt aber Möglichkeiten, dass man die Performancedaten mit einem Zeitschloss versieht. In der Art, dass man nichts lesen kann bis das Training beendet ist. Oder sogar Verschluss bis ans Ende des Tages. Dann hätte es der Fahrer im Verlauf des Tages selbst in der Hand.
Heutzutage kannst du jederzeit genau sehen, wo sich das Anpressdruck-Zentrum des Fahrzeuges befindet und dann in einem Bruchteil der Zeit im Vergleich zu früher mit Set-upänderungen basierend auf Daten darauf reagieren. Das geht zu weit, finde ich. Vielleicht kann man das limitieren, dabei den Teams aber weiterhin erlauben, Anpassungen vorzunehmen und daraus zu lernen.
Besseres Spektakel: Kleine Anpassnungen, große Wirkung
Das würde eine größere Streuung bei den Teams verursachen. Alles würde etwas länger dauern und es würde schwieriger, wirklich das Maximum aus dem Auto herauszuholen. Das könnte die Reihenfolge manchmal etwas durcheinander bringen. Was ich gern sehen würde, ist ein Rennen mit fünf Fahrzeugen, die fünf Runden vor Schluss alle noch gewinnen können. Okay, das ist zu viel verlangt. Aber zumindest soll es offener sein und nicht schon am Abend vor dem Rennen alles zementiert.
Wenn du ein Fußballspiel anschaust und es passiert viel, also Torschüsse, Fehlversuche und nette Pässe, dann bliebst du dran. Wenn der Ball nur in der Abwehr und im Mittelfeld hin- und hergeschoben wird, dann schaltest du doch ab. Das gleiche im Tennis: Wenn es im letzten Satz 11:10 steht, dann schaust du weiter zu. Bei einem klaren 5:0 schaltest du weg. In der Formel 1 ist es nicht anders. Es soll etwas passieren, es soll spektakulär anzusehen sein und eine gewisse Unberechenbarkeit mit sich bringen.
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Es gibt gute Gründe dafür, dass in den TV-Übertragungen so oft Überholmanöver, Verbremser, Dreher oder Zwischenfälle wiederholt werden. Der Regisseur schneidet halt dorthin, wo Action zu sehen ist. Wir brauchen mehr davon. Man möchte doppelt so viel Action, dreimal, viermal so viel - und es gibt Möglichkeiten, die Show besser zu gestalten.
Die Formel 1 kann sehr spektakulär sein. Ich habe mein Zuschauen genossen, kam aber nicht von der Frage los, ob es nicht Wege gibt, es für die Fans - egal ob Gelegenheitszuschauer oder Hardcore-Fan - noch besser zu machen. Silverstone zieht immer völlig zurecht große Menschenmassen an. Ich möchte, dass die bestmögliche Show geboten wird, sodass alle genauso begeistert sind wie vor 20, 30 oder 40 Jahren.
Es bedarf dafür gar nicht allzu großer Dinge. Es müssen nur ein paar Änderungen in die richtige Richtung gemacht werden.