Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat
Unsere Wahl für China fällt auf Red Bulls Nummer-zwei-Fahrer Vettel und den ausgebooteten, aber doch noch erfolgreichen Ex-Ferrari-Teamchef Domenciali
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Sebastian Vettel und Stefano Domenicali: Beide haben Grund zum Nachdenken Zoom Download
tropfende Wasserhähne, rauchige Hotelzimmer oder plärrende Kinder: Es ist jeden Montagmorgen nach dem Grand Prix beinahe zum guten Brauch unserer Redakteure geworden, den Titel desjenigen, der letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat, mit schlagkräftigen Argumenten für sich zu proklamieren. Der "Man of the Race" im negativen Sinne muss jedoch auch diesmal aus dem Formel-1-Zirkus kommen.
Nach dem Wochenende in Schanghai, so meine ich, gibt es sogar zwei Protagonisten, die diese Auszeichnung verdienen: Weltmeister Sebastian Vettel und Ex-Ferrari-Teamchef Stefano Domenicali. Zunächst zum Red-Bull-Piloten, der schon am Freitag weit davon entfernt war, zu einem der Gewinner des Fernost-Trips zu avancieren. Zwar präsentierten sich die Österreicher formverbessert, doch ein gewisser Daniel Ricciardo tanzte Vettel bereits im Freien Training auf der Nase herum.
Ist Ricciardo die neue Nummer eins?
Der junge Australier war auf seiner besten Runde fast zwei Zehntelsekunden schneller, was er im Qualifying am Samstag mit einer Fabelzeit im Regen untermauerte. Er nahm dem Platzhirsch mehr als eine halbe Sekunde ab. Eine Petitesse im Vergleich zu dem, was noch folgen sollte. Denn am Sonntag trat Vettel den Gang nach Canossa an. Zwar schaffte er es in der Frühphase des Rennens, den Stallgefährten zu überholen, doch das war erst die Grundlage für eine gewaltige Demütigung.
Der Champion wurde im Funk wie ein Grünschnabel angewiesen, Ricciardo vorbeizulassen. Es machte die Schmach noch schlimmer, dass er sich der Anweisung zunächst widersetzte. Ob es daran lag, dass er das Kommando wirklich nicht verstanden hatte, oder ob es aktive Opposition war, bleibt sein Geheimnis. Überholt hätte der viel schnellere Ricciardo auf jeden Fall. Nach dem Rennen legte der 24-Jährige mit der Spekulation, Vettel habe ihn im Duell um Platz vier vielleicht gar nicht vorbeigelassen, sondern nur einen Fahrfehler begangen, noch einen drauf.
Der "neue Webber" ist schneller - und lächelt mehr
Sachte! Fraglos ist der Neuzugang, der seit Jahren vom Brausehersteller gefördert wird, derzeit in besserer Form als Vettel. Aber das gab es schon in der Vergangenheit. Immer, wenn der Deutsche den Boliden noch nicht nach seinen Bedürfnissen feingetunt hatte, war auch Mark Webber auf Augenhöhe. Doch sobald der dunkelblaue Renner maßgeschneidert war, guckte der Kollege in die Röhre. Allerdings stellt sich die Frage, wer bei der Entwicklung in Milton Keynes künftig den Ton angibt. Mit seinen Leistungen hat Ricciardo unter Beweis gestellt, dass es sich lohnt, ihm maßgeschneidertes Material in die Hand zu geben.
Hinzu kommt, dass die Beziehung Red Bulls zu Ricciardo eine andere ist als zu Webber. Das Verhältnis zum Routinier, das immer wieder Kontroversen um eine vermeintliche Benachteiligung gegenüber Vettel getrübt hatten, lässt sich wohl treffend als Hassliebe beschreiben. Für Webber, der oft selbst eine Teamorder schlucken musste, gab es Zuckerbrot und Peitsche. Sein Nachfolger hingegen ist ein Kind des Konzerns und mehr ein Sympathieträger als der smarte, aber eher unnahbare Webber.
Wiederholt sich Geschichte? Schließlich war es 2009 der junge Vettel, der den hoch gewetteten Stallgefährten rechts überholte und irgendwann abhängte. Ich glaube nicht daran. Der Heppenheimer ist abgezockt genug, um sich im internen Duell zu behaupten. Er kennt die Szene, er kennt die Ingenieure und er ist ein Fahrtalent. Er ist hinter den Kulissen ein knallharter Arbeiter und einer, der seine Interessen durchsetzt. Langfristig spricht wenig für Ricciardo - so sehr ich mir auch wünschen würde, dass das Teamduell bei Red Bull genauso spanend wird wie das bei Mercedes.
Domenicali muss zu Hause leiden
Zum anderen Sorgenkind des Wochenendes, das das Rennen in Schanghai nicht vor Ort, sondern vom frühlingshaften Italien aus erlebte: Nachdem wir nach dem Bahrain-Grand-Prix Ferrari-Präsident Luca di Montezemolo nachgesagt haben, er habe wegen der desolaten sportlichen Leistung der Scuderia in der letzten Nacht am schlechtesten geschlafen, so gebührt diese "Ehre" zwei Wochen später meiner Meinung nach Stefano Domenicali. Unter der Woche war der Ferrari-Teamchef - höflich ausgedrückt - gegangen worden und musste im Fernsehen erleben, dass er seinen Job vielleicht hätte retten können.
Fotostrecke: GP China, Highlights 2014
Noch bevor in Schanghai 2014 die ersten Runden gedreht werden, bestimmt Ferrari die Schlagzeilen. Stefano Domenicali wird am Montag vor dem Rennen als Teamchef der Scuderia aus Maranello abgelöst. Sein Nachfolger: Marco Mattiacci, der bisherige Geschäftsführer von Ferrari Nordamerika. Fotostrecke
Mit Nachfolger Marco Mattiacci am Ruder bekrabbelte sich Ferrari in Person von Fernando Alonso, der von Rang drei und dem ersten Podestplatz der Saison selbst überrascht war - zumal auf dem als Motorenstrecke verschrieenen International Circuit alle Welt mit einem Totalerfolg für die Mercedes-Fraktion rechnete. Der neue Boss hat dazu bei sechs Tagen im Amt, davon mindestens einer im Flugzeug, logischerweise wenig beigetragen. Alonso selbst ließ anschließend verlauten, dass Fortschritte bis zur Sommerpause Domenicali zu verdanken seien.
Wird aus der Krise ein schwieriges Erbe?
Es scheint derzeit wenig realistisch, aber stellen Sie sich vor, Ferrari ist im Juli tatsächlich auf Augenhöhe mit Mercedes. Dann sitzt am Kommandostand der Roten ein kaum Formel-1-erfahrener Manager und Marketing-Experte mit US-amerikanischem Anstrich, der von den italienischen Gazetten ohne einen einzigen Tag in der Königsklasse nach allen Regeln der Kunst zerrissen wurde. Plötzlich bringt Mattiacci keinen frischen Wind mehr, sondern tritt ein schwierigeres Erbe an. Denn Domenicali war - und das zählt in Italien mehr als irgendwo anders auf der Welt - ein Kind der Mythosmarke und sogar laut McLaren-Patron Ron Dennis "ein liebenswerter Kerl".
Zurück zum Geschehen auf der Strecke: Ist Ferrari tatsächlich die zweite Kraft? Ich halte es für vorschnell, das zu behaupten. Hinter den Silberpfeilen rotiert das Karussell. In Australien war McLaren stark, in Malaysia Red Bull, in Bahrain Force India und Williams. Für die anderen ging es jeweils ins Nirgendwo. Die WM könnte so spannend sein, wären da nicht Lewis Hamilton und Nico Rosberg. Für meine lieben Kollegen heißt das übrigens, dass sie wohl noch weiter warten müssen, bis ihre knarrenden Lattenroste und dröhnenden Baumfällarbeiten ihnen die Hauptrolle dieser Kolumne bescheren. Schließlich werden 2014 noch einige Fahrer und Teamchefs schlecht schlafen.
Einen guten Start in die Woche, Ihr,
Dominik Sharaf