Domenicali exklusiv: "Ein Team, das zu lange dominiert, ist für niemanden gut"
Im exklusiven Interview spricht Formel-1-Boss Stefano Domenicali über die neue Fahrergeneration, den Rennkalender und die generelle Zukunft der Königsklasse
(Motorsport-Total.com) - Stefano Domenicali bleibt fünf weitere Jahre Formel-1-Boss. "Das Wichtigste für mich war, dass ich das volle Vertrauen der Liberty-Media-Spitze bekommen habe. Man hat mir die maximale Freiheit zugesichert, das Team und das System so aufzustellen, wie es für die Fortsetzung unseres Wachstumskurses nötig ist", verrät der Italiener.
In einem exklusiven Interview mit der italienischen Edition von Motorsport.com, einer Schwesterplattform von Motorsport-Total.com im Motorsport Network, erklärt er: "Persönlich hat es mich auch sehr gefreut, die Anerkennung innerhalb des gesamten Umfelds zu spüren."
In der Formel 1 ist es alles andere als selbstverständlich, übergreifend Zustimmung zu bekommen - im Gegenteil. Alles entwickelt sich sehr schnell, und nur zwei Tage nach der offiziellen Vertragsverlängerung mit Liberty Media hat Domenicali das neue Concorde-Agreement unterzeichnet, das kommerzielle Fundament, das die finanzielle Zukunft der Formel 1 regelt.
"Die wirtschaftlichen Aspekte sind geregelt, jetzt fehlt noch der Governance-Teil, in dem neben den Teams auch die FIA involviert ist. Das ist ein weiterer entscheidender Schritt für die Zukunft, weil er die Stabilität der Regularien gewährleistet", erklärt Domenicali.
"Einer der Punkte, die wir ändern wollen, ist der Übergang zu einem strategischeren, weniger taktischen Ansatz in Bezug auf unsere Themenwelt Formel 1. Und dafür braucht es das Engagement der FIA und der Teams", betont der Boss der Königsklasse.
Aufschub der neuen Regeln wäre "ein riesiger Fehler gewesen"
Frage: "In den vergangenen Monaten wurde viel über verschiedene Motorenphilosophien diskutiert, die die Formel 1 mittel- bis langfristig übernehmen könnte. Wie ist Ihre Position dazu?"
Stefano Domenicali: "Vor zwei Jahren habe ich meine strategische Vision für die Zukunft der Formel 1 geäußert, und genau das sehen wir jetzt. In Bahrain hatten wir ein Treffen mit der FIA und allen aktuellen und zukünftigen Motorenherstellern, einschließlich GM."
"Es gab dort gewisse Versuche, das aktuelle Regelwerk zu verlängern. Das wäre aber ein schwerer Fehler gewesen. Man muss denjenigen Respekt entgegenbringen, die enorme Summen in ein komplexes und teures Projekt investiert haben. Hätte man jetzt die beschlossenen Regeln geändert, wäre das das falsche Signal gewesen. Wenn wir unsere früheren Entscheidungen [bezüglich der Motoren] infrage gestellt hätten, wäre das ein riesiger Fehler gewesen."
Frage: "Es geht also ohne Zweifel in die Zukunft?"
Domenicali: "Es spricht nichts dagegen, weiterhin an der Verbesserung des Gesamtpakets zu arbeiten. Die FIA, die Hersteller und Teams können immer noch bewerten, ob es Optimierungsmöglichkeiten gibt."
"Wir stehen vor einem wichtigen Reglementwechsel, und ich finde es wichtig, dass es das System einem Hersteller erlaubt, schneller aufzuholen, falls es zu größeren Performance-Unterschieden kommt. Das muss bald geklärt werden, denn so etwas kann jedem passieren."
Frage: "Das ist angesichts des Wettbewerbsdenkens in der Formel 1 sicher nicht einfach ..."
Domenicali: "Wir müssen alle strategisch denken. Ein Team, das zu lange dominiert, ist für niemanden gut. Unser Sport wächst derzeit außergewöhnlich stark. International ist die Plattform ein echter Referenzpunkt geworden. Darauf können wir einerseits stolz sein, müssen aber andererseits auch sehr vorsichtig sein."
Domenicalis Ziele: Vereinfachung und Kostenreduzierung
Frage: "Sie waren dabei, als 2009 und 2010 viele Hersteller die Formel 1 verließen. Könnte sich dieses Szenario heute angesichts der instabilen Weltwirtschaft wiederholen?"
Domenicali: "Es wäre falsch, nicht darüber nachzudenken. Die Weltwirtschaft ist aktuell schwierig, und zum Beispiel Renault hat sich nach vielen Jahren [als Motorenhersteller] aus der Formel 1 zurückgezogen."
"Ich möchte eines klarstellen: Für uns sind die großen Hersteller von grundlegender Bedeutung, aber wir sind groß genug, um zu wissen, dass die großen Automobilkonzerne im Falle einer unglücklichen Krise des Sektors gezwungen sein könnten, Entscheidungen zu treffen, auch schwierige Entscheidungen."
"Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir eine Vereinfachung und eine deutliche Kostensenkung ins Auge fassen und uns bemühen, eine technische Verbindung zur Entwicklung von Technologien aufrechtzuerhalten, die auch für die Straßenmobilität von Nutzen sein können, wie im Fall des nachhaltigen Benzins, einer Lösung, die neben dem Elektroangebot vermarktet werden kann."
"Dies sind Entscheidungen, die entweder dazu beitragen, dass die Hersteller bei uns bleiben, oder die es uns im Falle einer großen Krise, die sie zur Einstellung ihrer Rennprogramme zwingt, ermöglichen, unabhängig zu reagieren und alternative Lösungen zu finden."
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Frage: "Das Thema 'Vereinfachung' bleibt oft vage. Was genau ist damit gemeint?
Domenicali: "Enthusiasten, die ein paar Jahre älter sind, sagen wir in meinem Alter, müssen die technischen Konzepte überdenken, was Leistung und technologisches Interesse erzeugt. Das ist ein grundlegendes Thema."
"Die Fokussierung auf nachhaltige Kraftstoffe ist absolut richtig, aber andererseits, und das sage ich jetzt etwas provokativ, ergibt es keinen Sinn mehr, dass Teams riesige Summen in die Entwicklung und den Bau eigener Getriebe investieren, wie es noch vor Jahren der Fall war. Der Performancevorteil, der an dieser Front erzielt werden kann, ist jetzt praktisch gleich Null. Es handelt sich zudem um eine Technologie, die nicht länger neugierig macht.
"Ich denke, dass es sehr wichtig ist, die Bereiche zu identifizieren, in denen wir über Technologie im Zusammenhang mit Unterhaltung sprechen können. Denn die Bereiche, die früher wichtig waren, sind es heute nicht mehr. Sie haben nicht mehr die Relevanz, um einen Hersteller zu überzeugen, in unseren Sport zu investieren. Das ist ein Thema, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen. Wir müssen den Mut haben zu akzeptieren, dass sich viele Dinge weiterentwickelt haben."
Frage: "Seit Mitte 2024 wird viel über flexible Flügel diskutiert, und die technischen Kontroversen sind zurück ..."
Domenicali: "Ich habe viele davon aus erster Hand miterlebt. Ich erinnere mich an den Fall, in den wir [bei Ferrari] 1999 in Malaysia verwickelt waren, ebenso wie an den Doppeldiffusor, Frick, den Massedämpfer, den F-Schacht. Das sind Geschichten, die immer zur Formel 1 gehört haben. Ich habe mich praktisch jeden Sonntag mit technischen und sportlichen Regelfragen beschäftigt."
"Ich kann sagen, dass es vor Jahren viel größere Grauzonen gab als heute. Aber es gibt immer noch eine große intellektuelle Kapazität seitens derjenigen, die in der Formel 1 arbeiten, um zu wissen, wie man alles bis zum Äußersten ausnutzen kann. Ich persönlich habe das Gefühl, dass die technischen Kontroversen heute im Vergleich zu früher sehr klein sind. Es wäre sogar schön, wenn es wieder ein paar mehr Diskussionen gäbe, denn sie sind die Würze dieses Sports."
"Raum für Wachstum" in Amerika und Afrika
Frage: "Hat das Las-Vegas-Modell, an das Sie so sehr geglaubt und in das Sie so viel investiert haben, bisher das garantiert, was Sie erwartet haben, oder ist es, wie einige Insider behaupten, kein gutes Geschäft gewesen?"
Domenicali: "Es ist ein großer Erfolg, aber wie immer bei neuen Projekten kann man nicht erwarten, dass sich die Investitionen in kürzester Zeit amortisieren."
Wenn wir die Veranstaltung selbst beurteilen, oder das, was Las Vegas für die Formel 1 war und ist, ist sie zweifellos ein Erfolg. Abgesehen von der Aufmerksamkeit und dem Medienecho hat es uns ermöglicht, kommerzielle Vereinbarungen zu treffen, die ohne Las Vegas schwieriger zu erreichen gewesen wären."
Frage: "Ist Las Vegas also ein Schaufenster für das 'System' der Formel 1?"
Domenicali: "Absolut. Ich habe kein Problem damit, zu bestätigen, dass die Kosten der Veranstaltung für die Gemeinde Las Vegas sehr hoch sind. Seit diesem Jahr ist der Große Preis von Las Vegas in unser zentrales Management eingegliedert, die Arbeitsgruppe für den GP untersteht nun direkt uns, sodass wir den organisatorischen Aspekt überprüft haben, um zu versuchen, die Amortisation zu beschleunigen."
"Wir wollen lokale Investoren stärker einbinden, denn die wirtschaftlichen Auswirkungen des Wochenendes in Las Vegas waren in den vergangenen beiden Jahren sehr bedeutend, größer als der Super Bowl. Wir müssen weiter investieren, wir müssen weiter daran glauben. Wir dürfen nicht vergessen, dass es auf dem US-Markt, so sehr wir in den letzten Jahren auch große Fortschritte gemacht haben, noch viel Raum für Wachstum gibt. Wir müssen uns noch mehr bekannt machen."
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Frage: "Ist Afrika weiterhin auf Stand-by?"
Domenicali: "Das ist nicht das richtige Wort. Bevor wir einen Schritt in diese Richtung wagen, brauchen wir Garantien für drei Aspekte. Der erste betrifft die Investitionen. Sie müssen für die Gemeinschaft von Vorteil sein, nicht nur für die Präsenz der Formel 1, sondern für die allgemeine Wirtschaft des Gastgeberlandes."
"Der zweite Aspekt betrifft die Infrastruktur, nicht nur die Rennstrecke, sondern auch alles, was damit zusammenhängt: Hotels, Straßen, Flughäfen. Der dritte Aspekt betrifft das wirtschaftliche Substrat, das die Veranstaltung mittel- und langfristig tragen kann. Wir sind nicht auf Stand-by, wir arbeiten noch daran, zu prüfen, was noch fehlt, um sagen zu können: 'Okay, los geht's.' Aber wir sind noch nicht in dieser Situation."
Action auf der Strecke "bleibt der fesselndste Aspekt"
Frage: "Was hat der Wechsel von Hamilton zu Ferrari der Formel 1 gebracht?"
Domenicali: "Als Italiener, der im Ausland lebt, sehe ich, dass das Interesse, das es an der Formel 1 hervorgerufen hat, wirklich riesig ist und ihr eine große Sichtbarkeit verleiht."
"Aber natürlich sind wir in einem Sport, in dem das Interesse auch von den Ergebnissen abhängt, und in dieser Hinsicht braucht es ein wenig Zeit. Lewis hat viele Jahre bei Mercedes verbracht und sich die Dynamik der Beziehungen und die technischen Konzepte des Autos angeeignet, die bei Ferrari nicht unbedingt die gleichen sind, und es braucht ein bisschen Zeit, wenn man das Umfeld komplett wechselt."
"Er hat das Sprintrennen in China gewonnen, aber es braucht nur ein weniger brillantes Wochenende als sonst, und die Meinungen ändern sich wieder. Wir müssen ein bisschen vorsichtiger sein. In Japan wurde ein Doppelsieg von McLaren als selbstverständlich angesehen, in Bahrain wurde ein langweiliges Rennen erwartet, aber in beiden Fällen war es dann nicht so."
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Frage: "Es gibt diejenigen, die das Rennen im Japan als sehr langweilig beurteilten, aber auch diejenigen, die die Intensität eines Rennens lobten, das nicht durch Reifenabbau entschieden wurde, und bei dem die Fahrer von der ersten bis zur letzten Runde pushen konnten."
Domenicali: "Wir werden es nie schaffen, dass alle einer Meinung sind. Das Rennen in Suzuka war sehr intensiv. Für diejenigen, die sich dafür begeistern, den Zeitenmonitor zu lesen, war es sogar ein außergewöhnliches Rennen."
"Aber es gab keine Überholmanöver, und ich verstehe, dass die für viele Fans der aufregendste Aspekt eines Rennens sind. Es ist klar, dass die Leute mehr Action auf der Strecke wollen, das ist in Ordnung. Es ist eine Ansicht, die respektiert werden muss. In diesem Sinne haben wir auf die Einführung von zwei Pflichtstopps beim Großen Preis von Monaco gedrängt und Pirelli gebeten, einen Reifen beizubehalten, der stärker abbaut."
Frage: "Ist es möglich, einen Mittelweg zwischen Reifenabbau und intensivem Racing zu finden?"
Domenicali: "Wir haben zwei Gruppen von Fans. Es gibt diejenigen, die so gut wie alles über den Sport wissen, aber auch diejenigen, die keine spezifische Formel-1-Kultur haben. Fans, die sich dem Sport erst in jüngerer Zeit genähert haben."
"Ich denke, es liegt an uns, unseren Sport gut erklären zu können. Es mag trivial erscheinen und ist für uns nicht selbstverständlich, aber es gibt so viele Aspekte, die erklärt werden müssen. Dann ist es klar, dass die Action auf der Rennstrecke der fesselndste Aspekt bleibt."
Junge Talente "eine gute Nachricht für unseren Sport"
Frage: "Stimmen Sie denen zu, die sagen, dass mit der neuen Fahrergeneration eine Gruppe junger Leute von höchster Qualität angekommen ist?"
Domenicali: "Ja. Meiner Meinung nach erleben wir etwas Außergewöhnliches. Ich bin sehr glücklich, denn es zeigt, dass die vorbereitenden Meisterschaften gut funktionieren. Das ist eine gute Nachricht für unseren Sport."
"Ich denke auch, dass sie geschützt werden müssen. Ich hielt es in Melbourne für richtig, Hadjar zu ermutigen, und wir haben danach gesehen, zu was er in der Lage ist. Ich denke, dass es heute wichtig ist, Lawson nach dem Saisonstart, den er hatte, ein wenig zu unterstützen.Wir müssen diesen Jungs auch eine menschliche Dimension geben."
"Kimi [Antonelli] macht sich sehr gut. Er ist 18 Jahre alt, das dürfen wir nicht vergessen. Ich bin zufrieden mit der Art und Weise, wie Mercedes ihn unterstützt und schützt. Es ist gut zu sehen, dass er in seiner eigenen Dimension bleibt, in der eines sehr jungen Mannes, der mit den Füßen auf dem Boden steht und dem es wichtig ist, am Tag seines Formel-1-Debüts seine Familie an seiner Seite zu haben."
Frage: "Die Formel 1 hat endlich einem elften Team zugestimmt ..."
Domenicali: "Das Cadillac-Projekt wird uns helfen, einen immer größeren Einfluss auf den amerikanischen Markt auszuüben. Die Diskussionen, die wir geführt haben, haben sich weiterentwickelt. Der zweite Vorschlag, den wir erhalten haben, erwies sich als viel stärker als der erste. Jetzt liegt es an dem Projekt, seinen Weg zu machen, zwei gute Fahrer auszuwählen und voranzukommen. Die Ankunft einer Marke von diesem Gewicht wird dem System gut tun. Sie könnte zum Beispiel der Schlüssel zu mehr Rennen in den USA sein."
Frage: "Aber wird es dann bei 24 Grands Prix bleiben oder könnten es noch mehr werden?"
Domenicali: "Ich kann bestätigen, dass es höchstens 24 bleiben werden."