• 15. Mai 2024 · 09:45 Uhr

Vasseur im Interview: Bei Renault gab es mehr Leaks als bei Ferrari!

Seit rund anderthalb Jahren ist Frederic Vasseur Teamchef bei Ferrari - Im Interview spricht er darüber, wie er die Scuderia wieder ganz nach vorne bringen will

(Motorsport-Total.com) - Als Carlos Sainz beim Großen Preis von Singapur 2023 den einzigen Nicht-Red-Bull-Sieg der vergangenen Saison feierte, war es kein Zufall, dass Ferrari-Teamchef Frederic Vasseur mit dem Spanier zusammen auf das Podium und den Pokal für den siegreichen Konstrukteur entgegennehmen durfte.

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Frederic Vasseur ist mit der aktuellen Entwicklung bei Ferrari zufrieden Zoom Download

Denn obwohl sich Vasseur im Motorsport in anderen Rennserien bereits mit zahlreichen Siegen und auch Titeln einen Namen gemacht hatte, war es der erste Sieg in der Formel 1 für den Mann, der Ende 2022 von Alfa Romeo zum Ferrari-Werksteam gewechselt war.

Nachdem der Franzose 2016 bei Renault seine ersten Schritte als Formel-1-Teamchef gemacht hatte, sich dort aber nach nur einem Jahr wieder verabschiedete, hatte er seit Mitte 2017 die Geschicke beim Sauber-Team geleitet, dort mit bescheidenen Mitteln aber nie große Erfolge gefeiert.

Auch bei Ferrari erlebte Vasseur zunächst einen schwierigen Start, wobei er zu Beginn der Saison 2023 natürlich auch nur mit dem arbeiten konnten, was ihm sein Vorgänger Mattia Binotto übergeben hatte. Mehr als ein Jahr später ist nun Vasseurs Handschrift bei der Scuderia erkennbar - und ebenfalls ein leichter Aufwärtstrend.

So ist nicht nur der Ferrari SF-24 ein besseres Auto als sein Vorgängermodell, auch operativ scheint man in Maranello Fortschritte gemacht zu haben. So stand die Scuderia in diesem Jahr bislang bei fünf der sechs Saisonrennen auf dem Podium und konnte in Melbourne auch bereits einen Sieg feiern.

Im Rahmen des Großen Preises von China hat sich unser Redakteur Jonathan Noble mit Vasseur getroffen und unter anderem über den Aufwärtstrend bei Ferrari, die traditionell schwierigen Arbeitsumstände in Maranello und natürlich auch über die Zukunft des Teams und Lewis Hamilton gesprochen.

Was läuft bei Ferrari besser als vor einem Jahr?

Frage: "Ist Ferrari als Team jetzt so gut wie das Auto?"

Frederic Vasseur: "Ja und nein. Es ist zum Beispiel so, dass es viel einfacher ist, eine gute Strategie zu haben, wenn die Pace da ist. Und wenn man die Pace nicht hat, ist es egal, welche Strategie man hat. Es ist immer die falsche."

"Und die Tatsache, dass wir im Rennen leistungsfähiger sind, hilft uns dabei, vom Anfang der Saison an eine gute oder sehr gute Strategie zu haben. Aber auf der anderen Seite denke ich, dass wir am Ende des vergangenes Jahres zu viele Punkte liegen gelassen haben."

"Sicherlich kann niemand eine perfekte Saison fahren, aber im Vergleich zu Mercedes - ich denke, Red Bull war fast in einer anderen Galaxie, weil sie nicht unter Druck standen - [...] oder McLaren haben wir viel zu viele Punkte liegen gelassen. Und wir haben uns viel Mühe gegeben, damit sich das nicht wiederholt. Und bisher ist es gut gelaufen."

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2023 feierte Vasseur in Singapur seinen ersten Formel-1-Sieg als Teamchef Zoom Download

"Ich würde sagen, dass wir in den ersten Rennen alle Punkte geholt haben, die wir holen konnten. [...] Und das ist wichtig, denn wenn man sich das vergangene Jahr ansieht, haben wir etwa 130 Punkte verloren. Und wir haben [am Ende] drei Punkte hinter Mercedes gelegen. Sie haben auch Punkte verloren, aber [...] weniger als wir."

"Wenn man sich das vergangene Jahr ansieht, hatte McLaren, glaube ich, nach vier Rennen keinen einzigen Punkt. Mercedes und Aston Martin waren hundert Punkte vorne, und am Ende waren wir hundert Punkte vor Aston Martin."

"Ich denke, es ist noch viel zu früh, um irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Aber wir mussten uns auf alle Schwächen des letzten Jahres konzentrieren, und ich denke, wir haben einen guten Schritt gemacht."

Auch wenn Vasseurs Zahlen reichlich übertrieben sind, stimmt seine Behauptung grundsätzlich. Ferrari ist aktuell WM-Zweiter, während man 2023 nach den ersten Rennen noch WM-Vierter hinter Aston Martin und Mercedes war. Die gleiche Position belegte man auch zur Sommerpause.

In der zweiten Hälfte des Jahres war dann bereits eine Trendwende zu erkennen. Ferrari holte den angesprochenen Singapur-Sieg, stand in vier der letzten fünf Saisonrennen auf dem Podium, überholte Aston Martin in der WM und verkürzte den Rückstand auf Mercedes von 56 Zählern zur Sommerpause auf gerade einmal drei Pünktchen am Ende.

Abseits der Strecke wurde derweil der Umbau des Teams vorangetrieben. Hochrangige Mitarbeiter wie Laurent Mekies, David Sanchez oder Gino Rosato verließen das Team, dafür stießen andere Leute dazu. Doch in der Formel 1 braucht es Zeit, damit sich diese Veränderungen auch bemerkbar machen.

Vasseur: Dürfen keine Angst vor Fehlern haben!

Frage: "Sie kamen vergangenes Jahr recht spät zum Team und hatten wenig Zeit, um vor der Saison noch etwas zu ändern. Aber was ist jetzt anders im Team?"

Vasseur: "Erstens werden die Verpflichtungen auf der technischen Seite bald zum Team stoßen. Wir haben intern einige Veränderungen vorgenommen, was den Sportdirektor, die Strategie und so weiter angeht. Ich denke, das funktioniert sehr gut."

"Das gute Gefühl, das ich an der Boxenmauer habe, ist, dass die Atmosphäre sehr ruhig ist. Wir haben eine gute Zusammenarbeit. Ich denke, es ist effizient. Und die andere Veränderung, aber das ist keine [Frage an mich], die muss man den anderen stellen, ist, dass ich einige Risiken eingehen möchte, denn unsere Konkurrenten gehen auch Risiken ein."

"Ich denke, das ist wahrscheinlich die DNA von Red Bull. Sie sind immer und überall am Limit, und ich bin mir sicher, dass sie, auch wenn wir vergangenes Jahr sechs Zehntel zurücklagen, keine Wunderwaffe haben, die mit 20 PS mehr oder 20 bis 15 Aeropunkten sechs Zehntel [Vorsprung] bringt."

"Es geht darum, dass sie einfach überall ein bisschen besser sind als wir. Und ich versuche, die Kultur des Unternehmens zu fördern, um überall ein bisschen aggressiver zu sein."


Fotostrecke: Formel-1-Teamchefs, die für mehrere Teams tätig waren

Frage: "Mussten Sie gegen die Angst der Leute ankämpfen, die Fehler vermeiden wollten, weil sie ihren Arbeitsplatz verlieren würden?"

Vasseur: "Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wie es in der Vergangenheit war. Aber es stimmt, wenn man auf der sicheren Seite sein will, lässt man bei jedem Thema ein Kilo Spielraum, man lässt zwei Grad Spielraum, man lässt zwei Millimeter Spielraum. Dann hat jeder ein viel einfacheres Wochenende. Aber am Ende bleiben drei oder vier Zehntel auf dem Tisch liegen."

"Heute haben wir eine enorme Leistungskonvergenz bei gleichem Reglement, und [...] vergangenes Jahr konnte man zwischen Aston Martin, Mercedes, uns und McLaren manchmal mit einem oder anderthalb Zehnteln von P3 auf P8 fallen. Das heißt, wenn man auch nur etwas verschenkt, ist man erledigt."

"Wenn man sich Spielraum lässt, ist man auf der sicheren Seite, aber man verbessert sich nicht. Und ich denke, das ist die Richtung, die wir als Team gemeinsam einschlagen müssen. Ich bin der erste, der Druck macht. Und übrigens bin ich auch der erste, der akzeptiert, dass wir Fehler machen können."

Vasseur: Bei Renault war es viel schlimmer ...

Vasseur will demnach nicht nur personell etwas in Maranello verändern, er will eine komplette neue Kultur einführen. Eine Kultur übrigens (die sogenannte "No-Blame-Culture"), mit der sein guter Freund Toto Wolff bei Mercedes die Formel 1 über Jahre dominiert hat.

Leicht ist das nicht, denn wenn die gesamte Formel 1 als Haifischbecken gilt, dann ist Ferrari so etwas wie der Weiße Hai unter den Teams. Der Rennstall aus Maranello bringt die größte Tradition mit, hatte hinter den Kulissen über die Jahre und Jahrzehnte aber auch immer den Ruf als politisches Pulverfass.

Dazu gilt die Arbeit in Maranello als besonders schwierig, weil in der Vergangenheit immer wieder pikante und vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit gelangt sind. Auch in dieser Hinsicht hatte Vasseur also einige Löcher zu stopfen - im wahrsten Sinne.

Frage: "In der Vergangenheit hat man oft gehört, dass die Politik bei Ferrari verrückter sei als bei jedem anderen Formel-1-Team, dass mehr Informationen durchgesickert seien als bei jedem anderen Formel-1-Team. Gibt es Aspekte davon, die Sie aus Ihren Beobachtungen heraus sehen?"

Vasseur: "Ein gutes Beispiel ist, dass wir den Vertrag mit Lewis Hamilton unterschrieben haben und es keine undichten Stellen gab!"


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Frage: "Aber es sickerte zuerst in Italien durch ..."

Vasseur: "Nein, es war keine undichte Stelle! Ich glaube, es wurde absichtlich von jemandem aus Großbritannien gemacht. [lacht] Es war kein Leak. Und das habe ich wirklich zu schätzen gewusst, denn [...] wir waren eine kleine Gruppe und arbeiteten seit Monaten daran, und wir waren in der Lage, bis zum Ende durchzuhalten, und es gab keine undichte Stelle. Das war gut."

"Am Anfang, als ich kam, gab es einige Leaks, sogar bevor ich kam, weil ich in der Presse gelesen hatte, dass ich zu Ferrari gehen werde - bevor ich die Gespräche mit Ferrari begannen! Aber in den vergangenen sechs Monaten gab es zwar Gerüchte in der Presse, aber es waren nur Gerüchte. Es waren keine echten Lecks im Team."

"Ich will kein Urteil über die Vergangenheit fällen. Aber ganz ehrlich, in dieser Hinsicht kann ich mich nicht beklagen. Ich hatte zum Beispiel bei Renault mehr undichte Stellen. Bei Renault habe ich in der Nachbesprechung etwas gesagt, das am Nachmittag auf der Website stand."

Macht Red Bull unter Druck mehr Fehler?

Während Vasseurs Ex-Team, das inzwischen den Namen Alpine trägt, nach den ersten sechs Rennen der Saison 2024 lediglich einen Punkt auf dem Konto hat, liegt Ferrari als WM-Zweiter gerade einmal 52 Zähler hinter Red Bull. Zum Vergleich: Im Vorjahr hatte man zum gleichen Zeitpunkt 159 Punkte Rückstand.

Vasseur selbst glaubt, dass Red Bull 2023 in vielen Bereichen nicht unbedingt einen viel besseren Job als Ferrari gemacht hat. Doch der Vorsprung der Bullen sei damals einfach so groß gewesen, dass zum Beispiel die Strategie in der Regel völlig egal gewesen sei. Diesen Luxus haben die Bullen 2024 laut Vasseur nicht mehr.

Frage: "Ich glaube, in jeder Rennvorschau, die Sie dieses Jahr gemacht haben, haben Sie immer davon gesprochen, Red Bull unter Druck zu setzen. Und das ist im Grunde der absolut kritische Aspekt: Wenn man Druck ausübt, fangen sie an, Fehler zu machen ..."

Vasseur: "Ja, aber wie ich bereits über die Strategie auf der Strecke sagte: Ich glaube, vergangenes Jahr waren sie in einer so komfortablen Situation, dass wir sie nie oder fast nie in die Lage brachten, Entscheidungen treffen zu müssen."

"Egal ob Plan A oder Plan B - sie waren vorne. Was wir erreichen müssen, ist, so nah wie möglich dran zu sein und sie [...] zu zwingen, manchmal eine schlechte Entscheidung zu treffen. Und wenn sie Fehler machen, müssen wir da sein. Das Ziel ist es natürlich, schneller zu sein als sie."

"Es geht nicht darum, hinten zu bleiben und auf etwas zu warten. Aber im vergangenen Jahr hatten sie es mit fünf oder sechs Zehnteln [Vorsprung] so einfach, dass sie, selbst wenn sie den Start verpatzten, genug Vorsprung hatten, um ein Auto pro Runde zu überholen, und nach fünf Runden waren sie [wieder] auf P1."

"Aber wenn die Gruppe viel enger beisammen ist und man nur ein oder zwei Zehntel Vorsprung hat, kann man nicht überholen."

Vasseur: Hamilton wird nicht nur auf der Strecke helfen

Dass Vasseur 2024 mit Ferrari seinen ersten WM-Titel gewinnen wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Auch er selbst weiß, dass der Vorsprung von Red Bull wohl noch immer zu groß ist. Und er macht ohnehin kein Geheimnis daraus, dass er vor allem eine langfristige Perspektive verfolgt.

Dazu passt zum Beispiel auch die Verpflichtung von Lewis Hamilton. Denn zwar wird der Brite im kommenden Jahr bereits 40 Jahre alt sein, wenn er sein erstes Rennen für die Scuderia fährt. Doch wenn man Vasseur zuhört, geht es ihm gar nicht darum, mit Hamilton 2025 direkt Weltmeister zu werden.

Frage: "Ich weiß, dass Sie nur ungern über die Situation von Lewis oder Carlos sprechen. Aber ich denke, eine der Schlüsselbotschaften war der Glaube an Ferraris Zukunft, an eine Richtung und einen Schritt nach vorne. Ist das eine faire Einschätzung dessen, was dieser Hamilton-Deal innerhalb des Teams bewirkt hat?"

Vasseur: "Bei dem Beitrag von Lewis oder einem anderen Fahrer geht es nicht nur um die Rundenzeit in der Qualifikation und so."

"Das können wir alle am Samstag oder Sonntag sehen. Aber letztendlich ist die Aufgabe des Fahrers viel umfassender. Er fängt manchmal schon sechs oder acht Monate vor der Saison an, um am nächsten Projekt zu arbeiten, seine eigene Erfahrung einzubringen, seine eigene Sichtweise, was wir tun können oder wie wir es tun könnten und so weiter und so fort."


Fotostrecke: Traumehe in Rot? Lewis Hamiltons langer Weg zu Ferrari

"Ich denke, wir sind immer noch ein junges Team. Das ist nicht nur eine Frage des Alters, sondern auch eine Frage der gemeinsamen Erfahrung, der gemeinsamen Siege. Und das bedeutet, dass wir noch ziemlich grün sind, oder ziemlich jung. Und jemanden in die Runde zu bekommen, der einen so großen Hintergrund und so viel Erfahrung hat, wird sich mit Sicherheit auswirken."

"Wir hatten Zeit, mit Lewis darüber zu diskutieren, und das gehört für mich zum Aufbauprozess des Teams. Wenn man eine langfristige Perspektive für den nächsten Zyklus haben will - ich spreche nicht von 2024 oder 2025 [...] - müssen wir eindeutig Schritte unternehmen."

"Ich denke, dass wir im Vergleich zu vor zwölf Monaten bereits einige Verbesserungen vorgenommen haben, um die Fahrer viel früher in das Projekt einzubeziehen und die Eigenschaften des Autos mit ihnen zu entwickeln und so weiter. Und ich denke, dass wir damit in die richtige Richtung gehen. Aber Lewis wird mit Sicherheit einen Mehrwert schaffen."

Und von diesem könnte Ferrari dann 2026 profitieren, wenn ein komplett neues Reglement in der Formel 1 greift. Sollte die Scuderia bereits zuvor erfolgreich sein, würde Vasseur das sicher gerne mitnehmen.

Ein echter Gradmesser dafür, ob seine Arbeit in Maranello auch nachhaltigen Erfolg liefern wird, könnte aber womöglich erst die Saison in zwei Jahren sein ...

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